Die Gewohnheit lähmt das Denken und untergräbt jeden Sinn für die Wahrheit und den Willen zur Veränderung. Im schlimmsten Fall führt sie dazu, dass das Unrecht nicht mehr realisiert wird. Wer beispielsweise auf seinem täglichen Weg zur Arbeit an einem Obdachlosen vorbeikommt, dem wird dieser Obdachlose zunächst auffallen und möglicherweise von ihm als Missstand wahrgenommen. Mit der Zeit wird der Obdachlose jedoch zum gewohnten Anblick, ohne dass ihm noch irgendeine Beachtung geschenkt wird. Gewohnheit bedeutet nämlich Abstumpfung.
Hat sich die Öffentlichkeit an eine verkehrte Welt gewöhnt, muss man eine Verkehrung dieser vornehmen, um das Gewohnte zu durchbrechen und das Unrecht sichtbar zu machen, das in der verkehrten Welt als Recht verstanden wird. Anders ausgedrückt, muss man den gewohnten Blickwinkel ändern, um zu einer neuen Sichtweise zu gelangen, die einen Sachverhalt neu erscheinen lässt.
Als kürzlich die US-Armee in Kunduz ein Krankenhaus der Organisation Ärzte ohne Grenzen beschoss und Menschen zu Tode kamen, erwartete niemand ernsthaft, dass dieser feige Beschuss Konsequenzen für die USA haben würde. Die Weltöffentlichkeit ist ein solches Vorgehen der Weltmacht USA gewöhnt und reagiert kaum noch auf den Tod von Menschen in der islamischen Welt, die den USA andauernd zum Opfer fallen. Es ist nichts Neues, dass schon wieder Unschuldige zu Tode kamen. Sind diese Opfer hingegen Amerikaner oder Franzosen, wie aktuell in Paris, dann gerät die ganze Welt in Aufruhr.
Wie hätte die Öffentlichkeit wohl reagiert, wenn die afghanische Armee ein Krankenhaus mitten in Amerika bombardiert hätte und amerikanische Patienten, Pfleger und Ärzte zu Tode gekommen wären. Welches politische Erdbeben hätte es gegeben, dem ein militärisches sogleich gefolgt wäre? Ein solches Szenario wäre in jedem Fall einen Nato-Einsatz wert. Warum aber kommt es zu keiner afghanischen Intervention in den USA, wenn ein afghanisches Krankenhaus von US-Militär beschossen wird?
Wer verliert noch einen Gedanken an das Gefangenenlager Guantanamo? Nur weil die Welt sich an dessen Existenz gewöhnt hat, hört es jedoch nicht auf, Unrecht zu sein. Wie wäre es, wenn ein ähnliches Lager für Nichtmuslime existieren würde? Man stelle sich hunderte von Amerikanern, Engländern, Franzosen, Deutschen usw. vor, interniert und ihrer Menschenrechte beraubt. Der Westen würde diesen Zustand keineswegs ignorieren, wie es die willenlosen Regenten in den islamischen Ländern tun. Die USA haben schon für viel weniger Kriege geführt. Sie nehmen sich sogar das Recht einer Invasion in den Niederlanden heraus, sollte jemals ein US-Bürger vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt werden. Was würden sie erst unternehmen, wenn irgendein Staat US-Bürger ohne rechtliche Grundlage interniert hätte?
Die Welt läuft inzwischen so verkehrt, dass der Täter zum Opfer wird und das Opfer zum Täter. Wenn die USA einen Krieg im Irak und in Afghanistan anzetteln, sind sie, objektiv betrachtet, der Aggressor. Jede Gegenwehr der Iraker und Afghanen ist nichts anderes als Verteidigung. Dies gehört jedoch nicht zum gewohnten Bild. In der verkehrten Welt stellt die aggressive Invasion im Irak und in Afghanistan eine reine Verteidigung der USA dar, während die Gegenwehr der Iraker und Afghanen gefährlicher Terrorismus ist, der sogar den ganzen Westen gefährdet.
Anders stellte sich das Bild der Afghanen in der Öffentlichkeit dar, als die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte. Die Welt hatte keinen Zweifel daran, dass die Russen die Aggressoren und die afghanischen Kämpfer Freiheitskämpfer waren. Nichts unterscheidet den US-amerikanischen Krieg in Afghanistan von dem sowjetischen. Dennoch ist der Russe gewohnheitsmäßig böse, während die USA nur in Selbstverteidigung handeln. Es ist das gewohnte Bild, das von den USA selbst entworfen wurde und aufrechterhalten wird.
Immer wieder drohen westliche Staaten mit der Bombardierung von Ländern in der islamischen Welt. So drohte Frankreichs Präsident François Hollande wie selbstverständlich mit der Bombardierung Syriens, ohne dass es eine nennenswerte Kritik gegeben hätte. Doch wie wäre eine solche Drohung in der Weltöffentlichkeit aufgenommen worden, wenn Syrien einem westlichen Staat wie Frankreich mit einem Militärschlag gedroht hätte? Wenn westliche Staaten anderen Staaten drohen und diese angreifen, dann ist das normal und absolut in Ordnung. Der umgekehrte Fall aber macht jedes Land zum Schurkenstaat.
Fragt man sich, weshalb die USA am internationalen Recht vorbei agieren können, während andere Staaten für genau das Gleiche mit einer militärischen Intervention rechnen müssen, so liegt die Antwort auf der Hand. Es existieren keine Mechanismen, um die USA zur Rechenschaft zu ziehen und bestrafen zu können. Jede Maßnahme und jeden Beschluss anderer Staaten, selbst wenn sie die Mehrheit repräsentieren, können sie mit einem Veto blockieren. Aber auch daran hat sich die Welt gewöhnt und sieht darin nicht einmal eine Benachteiligung der anderen Staaten, die Teil der internationalen Gemeinschaft sind.
Könnte sich die Welt auch einen dauerhaften Sitz Afghanistans im Sicherheitsrat vorstellen, mit den Taliban an der Macht, die jedes Mal ihr Vetorecht in Anspruch nehmen, wenn es um Resolutionen geht, die nicht in afghanischem Interesse liegen? Wohl kaum. Der Zustand der Welt wäre mit Sicherheit nicht schlimmer als jetzt. Nur könnten die internationale Staatengemeinschaft und die Weltöffentlichkeit nicht mit dieser außergewöhnlichen Tatsache leben, auch wenn kein Staat dieser Welt so viel Unheil anrichten könnte wie die USA.
Unterwirft man sich der Macht der Gewohnheit, verlernt man zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Das Recht hat objektive Maßstäbe, die nichts mit Gewohnheit zu tun haben. Um es durchzusetzen, muss man die Fesseln des Gewohnten brechen und sich intellektuell gegen jene Mächte stellen, die das Unrecht zur Gewohnheit machten, an ihrer Spitze die USA.