Optimismus für eine baldige Einigung besteht bei den Befürwortern nach wie vor, denn trotz zäher Debatten über einzelne Punkte dürfte dem Freihandelsabkommen nichts im Wege stehen. Immerhin baut das transatlantische Bündnis auf einen gemeinsamen Wertekodex auf, der unter anderem auch die wirtschaftlichen Beziehungen regeln soll. Doch angesichts der zunehmenden Proteste greift bei den Verhandlungspartnern derzeit ein gewisser Pessimismus um sich, der das langersehnte Abkommen am Ende sogar zu Fall bringen könnte. Besonders in der Bevölkerung wächst der Unmut, das geplante Freihandelsabkommen könne ihr auf lange Sicht die Existenzgrundlage entziehen. Die politische und ökonomische Elite sieht dagegen keinen Grund zur Sorge. Schließlich fördere der weltweite Freihandel ihrer Auffassung nach den Wohlstand der Volkswirtschaften aller Nationen.
Dieses, aus dem klassischen Wirtschaftsliberalismus abgeleitete Konzept, geht von der Annahme aus, dass der Freihandel durch die Öffnung ausländischer Märkte speziell der Exportbranche neue Chancen eröffnet. Eine derartige Handelsliberalisierung würde somit den Markt vergrößern, indem sie Unternehmen und Staaten in eine Wettbewerbsbeziehung miteinander setzt. Dadurch würden Unternehmen mehr Innovationen generieren, wodurch gerade die Konsumenten einen großen Nutzen hätten. Ein stärkerer Wettbewerb am Inlandsmarkt führe zu geringeren Preisen, einer größeren Auswahl und in der Regel einer höheren Produktqualität.
Um dies jedoch zu gewährleisten, müssen jegliche Handelshemmnisse weitgehend abgeschafft werden. Dabei wird grundsätzlich zwischen tarifären (Zölle, Steuern) und nicht-tarifären Beschränkungen (Normen, Gesetze, Subvention, Importquote) unterschieden. Mit dem TTIP-Abkommen sollen, neben den ohnehin niedrigen Zöllen zwischen der EU und den USA, vor allem die noch verbliebenen nicht-tarifären Handelsbeschränkungen abgebaut werden. Gleichzeitig sollen durch die Angleichung von Normen und Standards der Aufwand und die Kosten für Waren und Produkte reduziert werden.
Das dadurch zu erwartende Wachstum würde insgesamt zu einem merklichen Anstieg des Wohlstandes führen. So prognostiziert das ifo-Institut für Deutschland einen Zuwachs des realen Pro-Kopf-Einkommens von rund 4,7 Prozent in den kommenden fünfzehn Jahren, bei einer gleichzeitigen Entstehung von bis zu 110.000 neuen Arbeitsplätzen. Die Schaffung eines derartigen Wirtschaftsraums, der mehr als 800 Millionen Bürger einschließen würde, sichere zudem auch zukünftig die ökonomische Dominanz des Westens.
Obwohl die Verfechter des Freihandels dieses Abkommen – wie auch all jene, die bislang umgesetzt wurden – aus den ökonomischen Prinzipien der „freien Marktwirtschaft“ entwickelt haben, stehen sie einer wachsenden Zahl an Kritikern gegenüber. Besonders in Deutschland finden sich immer mehr Skeptiker zusammen, die quer durch die politische Parteienlandschaft und sämtliche Gesellschaftsschichten das besagte Abkommen ablehnen.
So fand die Bertelsmann-Stiftung in einer repräsentativen Umfrage heraus, dass jeder dritte Deutsche TTIP komplett ablehnt und lediglich jeder fünfte eine positive Meinung dazu vertritt. Die Proteste im vergangen Oktober, bei denen sich etwa 200.000 Menschen aus ganz Deutschland in Berlin zusammenfanden, um gegen das geplante Freihandelsabkommen zu demonstrieren, geben Aufschluss darüber, was der Bundesbürger von solchen marktwirtschaftlichen Instrumenten hält.
Die wesentlichen Kritikpunkte der TTIP-Gegner drehen sich dabei einerseits um die mangelnde Transparenz der Verhandlungen. Diese führten die Verantwortlichen hinter verschlossenen Türen, wodurch entscheidende Informationen dem Bürger vorenthalten blieben. Zwar hat die EU-Kommission der Öffentlichkeit bereits viele Dokumente zur Verfügung gestellt, doch liege der Verdacht nahe, dass für die Bürger „sensible“ Details auch weiterhin unter Verschluss bleiben. Die Kritiker befürchten, dass diese Intransparenz unter anderem zur Verwässerung von Standards führe. Vom Chlorhühnchen bis zu genetisch veränderten Lebensmitteln könnten die hiesigen Märkte mit Waren überspült werden, die den deutschen Richtlinien widersprechen.
Ebenso spielt der Investorenschutz eine wichtige Rolle. Wie in den meisten Handelsabkommen soll auch im Fall von TTIP für ausländische Investoren die Möglichkeit bestehen, Regierungen vor internationalen Schiedsgerichten zu verklagen. Dies könnte dann der Fall sein, wenn sich Unternehmen durch Regelungen und Gesetze von ihrem Gastland benachteiligt fühlen. Da diese Schiedsgerichte keine nationalen Gerichte sind, befürchten Kritiker, dass eine Paralleljustiz entstehen könnte, bei der Staaten vor Industriekonzernen kapitulieren würden.
Auch dem Einfluss der Wirtschaft sehen die TTIP-Gegner insgesamt skeptisch entgegen. Sowohl ihre Rolle bei den Schiedsgerichten als auch bei den Vertragsverhandlungen könnte Staaten daran hindern, Gesetze zu erlassen, die im Interesse der eigenen Bürger sind. Dies betrifft vor allem gesetzliche Regelungen im Umweltrecht, wie auch in Fragen des Arbeitnehmerschutzes. Und so stellt sich für viele Deutsche die Frage, wie demokratisch das Freihandelsabkommen ist und inwieweit die Bürger tatsächlich einen wirtschaftlichen Nutzen daraus ziehen können.
Doch die Einwände gegen TTIP stoßen insbesondere in der Politik und bei Ökonomen auf Unverständnis. So könne Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) die Ängste der Deutschen zwar nachvollziehen. Trotzdem dürfe diese „German Angst“ nicht dazu führen, dass die Deutschen „am Ende vor lauter Bedenken gar nichts mehr tun“. Ebenso seien die diffusen Existenzängste vieler Bürger unbegründet.
Der Ökonom Andreas Freytag wies in einer Kolumne für die „Wirtschaftswoche“ darauf hin, dass „[…] Jobs und die zukünftigen Arbeitsplätze maßgeblich von einer funktionierenden und entsprechend offenen Wirtschaft [abhängen]“. Die aus seiner Sicht unreflektierten Einwände der TTIP-Gegner passen „[…] verhängnisvoll in die Zeit: Ausländerfeindlichkeit gegen Flüchtlinge, Nationalismus in Europa, der drohende Brexit sowie eine weitverbreitete Grundstimmung gegen Freihandel spiegeln eine allgemeine tiefsitzende Verunsicherung“ wider. Daher sieht unter anderem der Vizepräsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, Rolf J. Langhammer, die Notwendigkeit, das Vertrauen der EU-Bürger wieder zurückzugewinnen. Seiner Auffassung nach „haben die EU-Staaten mehr zu verlieren als die Amerikaner“, würde TTIP scheitern. Die Folgen wären, dass die USA die für sie „viel wichtigere Transpazifische Partnerschaft TTP verwirklicht […] und die Regeln und Standards umsetzen, gegen die die EU in TTIP Einwände erhebt“. Dadurch liefe die EU-Handelspolitik Gefahr, „marginalisiert zu werden und vor der politisch heiklen Versuchung [zu stehen], mit China […] ein Handelsabkommen zu schließen“.
Zwar gibt es ökonomische Größen, wie Joseph Stiglitz oder Paul Krugman, die das TTIP-Abkommen mit Argwohn betrachten. Doch die Ablehnung, die innerhalb der westlichen Gesellschaften zu beobachten ist, darf nicht einfach nur als eine Welle der Entrüstung wahrgenommen werden, die mit ihren Protesten lediglich dem Vormarsch der Globalisierung einen Riegel vorschieben will. Vielmehr signalisiert sie ein fundamentales Problem, dessen sich vor allem die Gegner nicht ganz bewusst zu sein scheinen. Denn das transatlantische Bündnis ist trotz einer gemeinsamen Wertebasis von inneren Widersprüchen und entgegengesetzten Interessen geradezu zersetzt. Dies lässt sich in diesem Fall besonders daran erkennen, dass die zahlreichen Kritikpunkte gegen Aspekte gerichtet sind, die aus dem eigenen Wirtschaftssystem resultieren. Die Idee des Freihandels, die Förderung des Wettbewerbs sowie die Deregulierung von Märkten mit all ihren sozioökonomischen Implikationen leiten sich aus den wirtschaftlichen Grundannahmen ab, die der vielgepriesenen „freien Marktwirtschaft“ entspringen.
Doch wer glaubt, die Kritik gegen eine Liberalisierung des Außenhandels stammt traditionsgemäß aus der linksextremen Ecke, sollte sich neben dem AfD-Parteiprogramm und dem üblichen Getöse der Grünen ebenso Aussagen führender SPD-Politiker zu Gemüte führen. So hat sich Fraktionschef Thomas Oppermann vom transatlantischen Abkommen distanziert und die amerikanischen Forderungen als inakzeptabel bezeichnet, nachdem geheime TTIP-Dokumente durch Greenpeace veröffentlicht wurden. Die rechtspopulistische AfD hat ihre Ablehnung gegenüber TTIP und CETA sogar in ihren Wahlkampf eingebettet, tritt sie doch im Vergleich zu den Linken für einen nationalen Wirtschaftsliberalismus ein.
Angesichts dieser seltsamen Aversion gegenüber der „freien Marktwirtschaft“ sollte es auch nicht weiter verwundern, wenn die selbsternannten „Kapitalismus-Gegner“ gegen einen zu großen Einfluss der Wirtschaftskonzerne poltern und in ihnen die „raffgierigen Manager“ als Ursache dieses nicht zu zähmenden „Raubtierkapitalismus“ ausgemacht haben wollen, andererseits aber mit gleicher Vehemenz staatliche Eingriffe verteufeln, die marode Banken vor dem Kollaps zu retten versuchen oder runtergewirtschafteten Privatunternehmen Extra-Gelder zuschustern.
An dieser Stelle tritt die fragile Natur der eurozentrischen Weltanschauung ein weiteres Mal deutlich zu Tage. Obwohl die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Systeme im Westen allesamt auf die Kernideen der europäischen Aufklärung zurückzuführen sind, ist es bis in die heutige Zeit nicht möglich gewesen, sie miteinander in Einklang zu bringen. So entfaltet der überwunden geglaubte Nationalismus erneut eine nicht zu unterschätzende Eigendynamik, die selbst das Projekt der EU über Bord werfen könnte, was angesichts der Flüchtlingskrise und dem „Brexit“ nicht unrealistisch erscheint. Ebenso birgt das individualistische Menschenbild die Gefahr, ausgerechnet beim Freihandel seine destruktiven Kräfte freizusetzen und das Gemeinwohl zugunsten des Eigennutzes zu opfern. Denn der Individualismus setzt bei der gesellschaftlichen Betrachtung bekanntermaßen die Interessen und Bedürfnisse des Einzelnen in den Vordergrund. Dadurch werden wirtschaftspolitische Maßnahmen entsprechend der individuellen Sicht des Einzelnen bewertet. Steht somit der eigene materielle Wohlstand auf dem Spiel, bleiben auch beeindruckende Analysen der Ökonomen unberücksichtigt, die mit Hilfe hochtrabender Kennzahlen und Statistiken einen gesamtwirtschaftlichen Fortschritt versprechen.
Diese Gegensätze durchziehen jedoch sämtliche Bereiche der kapitalistischen Gesellschaft und sind letztlich die logische Konsequenz einer von Menschen geschaffenen Ordnung, die in ihrer selbstverschuldeten Überhöhung der Vernunft nicht die nötige Tiefgründigkeit besitzt, die menschlichen Bedürfnisse sowohl in ihrer individuellen als auch kollektiven Ausformung angemessen zu regeln. Solange aber das transatlantische Bündnis nicht bereit ist, seine ideologischen Grundlagen zu hinterfragen, werden diese systemimmanenten Widerstände auch in Zukunft wie ein Damoklesschwert über der (un)heilen Welt des Kapitalismus schweben.