Frage:
As-salāmu ʿalaikum wa raḥmatullāhi wa barakātuh!
Möge Allah dir und allen daʿwa-Trägern Erfolg bescheren sowie allen, die Allah (t) lieben und Sein Wohlgefallen anstreben.
Manche behaupten, dass die Verzögerung der Beerdigung des Propheten (s), die Hizb-ut-Tahrir und einige Gelehrte als Beweis für die Pflicht der baiʿa heranziehen, nicht korrekt sei, da die Verzögerung der Beerdigung andere Gründe gehabt habe, wie beispielsweise den Muslimen genügend Zeit zu geben, dem Begräbnis beizuwohnen.
Vielmehr sei der Beweis für die Pflicht zur baiʿa die Tatsache, dass die Muslime mit dem bloßen Tod des Propheten einen Imam aufgestellt haben. Dies sei der Beweis für die Pflicht zur baiʿa und nicht die Verzögerung der Beerdigung. So bestehe kein Zusammenhang zwischen der Verzögerung der Beerdigung und der baiʿa.
Kannst du diese Angelegenheit bitte im Detail erläutern?
Von Hafedh Amdouni
Antwort:
Wa ʿalaikum as-salām wa raḥmatullāhi wa barakātuh!
Mein Bruder, bevor ich deine Frage bezüglich der Verzögerung der Beerdigung beantworte, möchte ich einige Punkte aus den Grundlagen der islamischen Rechtswissenschaft (uṣūl) bezüglich der Rechtssprüche im Islam darlegen:
Grundsätzlich gilt bei einer islamrechtlichen Anweisung – sei es eine Aussage oder eine Handlung – dass sie eine bloße Aufforderung (ṭalab) darstellt. Diese bedarf eines damit verbundenen Indizes (qarīna), das die Art der Aufforderung erläutert. Hat das Indiz einen zwingenden (apodiktischen) Charakter (ğāzim), so ist auch die Aufforderung zwingender, d. h. verpflichtender, Natur (farḍ). Ist das Indiz jedoch nicht von zwingender Art, sondern wird darin lediglich eine Präferenz zum Guten vermittelt, so hat auch die Aufforderung keinen zwingenden, sondern nur einen wünschenswerten Charakter (mandūb). Belegt das Indiz hingegen eine Wahlfreiheit, so ist aus der Aufforderung die Erlaubnis zu verstehen.
Diese Regel trifft auf jeden Offenbarungstext zu, sei es ein Vers aus dem Koran, eine Aussage aus der Sunna des Gesandten Allahs (s), eine Handlung, die der Gesandte vollzogen hat bzw. die aus dem Konsens der Prophetengefährten hervorgegangen ist, oder eine Billigung (sukūt) seitens des Gesandten Allahs (s).
1. Ein Beispiel aus dem Koran:
﴿فَإِذَا قُضِيَتِ الصَّلَاةُ فَانْتَشِرُوا فِي الْأَرْضِ وَابْتَغُوا مِنْ فَضْلِ اللَّهِ وَاذْكُرُوا اللَّهَ كَثِيرًا لَعَلَّكُمْ تُفْلِحُونَ﴾
Wenn das Gebet beendet ist, dann breitet euch im Lande aus und trachtet nach etwas von Allahs Huld. Und gedenkt Allahs oftmals, auf dass es euch wohl ergehen möge![62:10]
Dieser Befehl aus dem Koran besagt, dass sich die Muslime verteilen und die Moschee nach dem Freitagsgebet verlassen sollen. Nun suchen wir nach einem begleitenden bzw. damit verbundenen Indiz (qarīna), um festzustellen, ob es sich bei diesem Befehl um eine Pflicht (farḍ), eine Empfehlung (mandūb) oder eine Erlaubnis (mubāḥ) handelt. Wir sehen, dass einige Muslime die Moschee nach dem Freitagsgebet sofort verließen, andere hielten sich noch für eine kurze oder für eine längere Zeit dort auf. Dies geschah mit Billigung des Gesandten Allahs (s), was bedeutet, dass diejenigen, die die Moschee verließen und diejenigen, die in der Moschee verweilten, gleichgesetzt sind. Damit wird klar, dass die Anweisung, sich nach Gebet zu verteilen, eine Aufforderung verkörpert, die als Erlaubnis ergangen ist.
2. Ein Beispiel aus der Sunna. Das Aufstehen bei einem Begräbniszug:
An-Nasāʾī berichtet in seinem Werk „as-Sunan“: Šuʿba erzählte uns von ʿAbdullāh ibn Abī as-Safar, der sagte: „Ich hörte aš-Šaʿbī von Abū Saʿīd berichten,
»أَنَّ رَسُولَ اللَّهِ صَلَّى اللهُ عَلَيْهِ وَسَلَّمَ مَرُّوا عَلَيْهِ بِجَنَازَةٍ فَقَامَ«
dass Leute in einem Begräbnis am Gesandten Allahs (s) vorbeizogen. Da stand er auf.
Und ʿAmr berichtet:
«إِنَّ رَسُولَ اللَّهِ صَلَّى اللهُ عَلَيْهِ وَسَلَّمَ مَرَّتْ بِهِ جَنَازَةٌ فَقَامَ»
Ein Begräbnis zog am Propheten (s) vorbei, da stand er auf.
Hier stand der Prophet (s) auf, als ein Begräbnis an ihm vorbeizog. Diese Handlung beinhaltet somit die Aufforderung, aufzustehen. Nun suchen wir nach einem begleitenden Indiz (qarīna), um zu erfahren, ob die Aufforderung zwingend ergangen ist, dann hätte sie verpflichtenden Charakter, oder nicht zwingend, jedoch mit einer Präferenz versehen, dann wäre sie wünschenswerter Natur, oder die Wahlfreiheit beinhaltet, was auf eine Erlaubnis schließen lässt.
In seinem Werk „as-Sunan“ berichtet an-Nasāʾī von Aiyūb und dieser von Muḥammad, dass ein Begräbnis an al-Ḥasan ibn ʿAlī und ibn ʿAbbās (r) vorbeizog, woraufhin sich al-Ḥasan erhob, ibn ʿAbbās aber nicht. Da fragte al-Ḥasan:
«أَلَيْسَ قَدْ قَامَ رَسُولُ اللَّهِ صَلَّى اللهُ عَلَيْهِ وَسَلَّمَ لِجَنَازَةِ يَهُودِيٍّ؟»
Hat sich der Prophet nicht erhoben, als das Begräbnis eines Juden an ihm vorbeizog?
Und ibn ʿAbbās antwortete:
«نَعَمْ، ثُمَّ جَلَسَ صلى الله عليه وسلم»
Ja, dann blieb er sitzen.
Dies deutet darauf hin, dass man die freie Wahl hat, sitzen zu bleiben oder aufzustehen. Das heißt, dass beides erlaubt ist.
In gleicher Weise ist beim Ereignis von saqīfa zu verfahren. Es war eine Handlung, worüber der Konsens der Prophetengefährten (iğmāʿ aṣ-ṣaḥāba) ergangen ist. Sie belegt die Aufforderung, einem Kalifen die baiʿa zu leisten, wenn die Position des Kalifen vakant ist. Um zu erkennen, ob es sich um eine Pflicht, eine Empfehlung oder eine Erlaubnis handelt, muss man nach dem begleitenden Indiz (qarīna) suchen. Im vorliegenden Fall stellt man fest, dass die qarīna den zwingenden Charakter der Handlung belegt, da die Gefährten die baiʿa der Beerdigung eines Verstorbenen – was ja bekanntlich eine Pflicht ist – vorgezogen haben. Dies bedeutet, dass es sich bei derbaiʿa um eine Pflicht handelt und diese wichtiger ist als die Pflicht einen Toten zu beerdigen.
Folglich geht die Pflicht zur Durchführung der baiʿa bei Vakanz der Position des Kalifen aus dem Umstand hervor, dass die Beerdigung des Propheten (s) verzögert wurde, bis die baiʿa vollzogen war. Da die Beerdigung eines Toten eine Pflicht darstellt, bedeutet die Priorisierung einer anderen Handlung, dass diese erst recht eine Pflicht verkörpert.
Die Verzögerung der Beerdigung bis zum Vollzug der baiʿa macht also klar, dass diebaiʿa eines Kalifen eine Pflicht verkörpert – und was für eine!
So stellt sich die Frage vom islamrechtlichen Aspekt her dar.
Zu behaupten, die Verzögerung der Beerdigung des Propheten stehe in keinem Zusammenhang mit der baiʿa, sondern diente dazu, den Muslimen mehr Zeit zur Teilnahme am Begräbnis des Propheten (s) zu geben, so liegt diese Behauptung fernab der Realität, wie sie sich tatsächlich ereignet hat.
Die Nachricht vom Tode des Propheten (s) war nämlich ein schockierendes Ereignis, das die Muslime in und um Medina vernommen haben. Sie strömten in Scharen nach Medina und in die Moschee. Jedoch waren sie mit der baiʿa Abū Bakrs beschäftigt – zunächst mit der Vertrags-baiʿa und dann mit der Gehorsams-baiʿa. Die Abfolge der Ereignisse, wie sie in den sīra-Büchern erwähnt wird, war wie folgt:
Der Prophet (s) starb am Montagvormittag. Bis in die Nacht zum Dienstag und auch Dienstag tagsüber wurde er nicht beerdigt. In dieser Zeit wurde Abū Bakr die baiʿageleistet. Danach wurde der Prophet mitten in der Nacht – und zwar in der Nacht zum Mittwoch – beerdigt. Die baiʿa wurde Abū Bakr also noch vor der Beerdigung des Propheten (s) geleistet. Somit ist der Konsens der Prophetengefährten (iğmāʿ aṣ-ṣaḥāba) darüber ergangen, dass man sich mit der Aufstellung des Kalifen vor der Beerdigung eines Toten zu beschäftigen hat. Das kann aber nur dann der Fall sein, wenn die Aufstellung eines Kalifen einen höheren Pflichtcharakter aufweist als die Beerdigung eines Toten.
Die Verzögerung der Beerdigung ist also nicht deswegen geschehen, damit sich die Muslime zum Begräbnis versammeln konnten. Vielmehr waren sie schon versammelt, insbesondere die Gefährten unter ihnen. Jedoch waren sie mit der baiʿa beschäftigt. Als sie dann die Vertrags- und auch die Gehorsams-baiʿa abgeschlossen hatten, beschäftigten sie sich mit der Beerdigung des Propheten (s). Und zwar wann? Mitten in der Nacht nach Abschluss der baiʿa!
Wenn die Versammlung der Muslime zur Teilnahme am Begräbnis der Grund für die Verzögerung gewesen wäre, hätte das Begräbnis schon Montag tagsüber, in der Nacht zum Dienstag oder Dienstag tagsüber stattfinden können. Doch warteten sie ab, bis die Vertrags- und auch die Gehorsams-baiʿa für Abū Bakr abgeschlossen waren. Anschließend beschäftigten sie sich unverzüglich mit der Beerdigung des Propheten (s), was in der Nacht zum Mittwoch geschah.
Nach genauer Überlegung und eingehender Untersuchung der Umstände für die Verzögerung der Beerdigung wird somit klar, dass die Verzögerung allein aus dem Grunde geschah, die Vertrags- und Gehorsams-baiʿa für Abū Bakr vorher abzuschließen. Folglich besteht zwischen ihr und der baiʿa ein elementarer Zusammenhang.
Euer Bruder
ʿAṭāʾ ibn Ḫalīl Abū ar-Rašta
22. Rabīʿ aṯ-Ṯānī 1435 n. H.
22. Februar 2014 n. Chr.