In seiner Selbstdarstellung betont der Westen unentwegt, er habe sich im Zuge der Aufklärung von überholten Vorstellungen und festgefahrenen Denkmustern endgültig emanzipieren können. Dem „Vernunftmenschen“ dürften seither keine geistigen Ketten mehr angelegt werden, die ihn an der Bildung einer eigenen Überzeugung hindern könnten. Gerade für das menschliche Zusammenleben innerhalb einer Gesellschaft bedürfe es eines Wertesystems, dass frei von Ideologien und dogmatischen Weltbildern eine friedliche Koexistenz garantiert.
Aus diesem Grund hat sich die westliche Welt wohl der sagenumwobenen „Neutralität“ als neuen Orientierungsanker verschrieben und ihr das Siegel einer universellen Idee aufgedrückt, die fortan von jedem Menschen bedingungslos akzeptiert werden müsse. Ganz so, als hätten die Naturwissenschaftler in ihrem empirischen Eifer weltanschauliche Gesetzmäßigkeiten in der Natur entdeckt, denen sich kein Staat auf diesem Planeten mehr entziehen könne. Daher überrascht es nicht, dass im „postideologischen“ Zeitalter das Leugnen der Menschenrechte der Blasphemie gleichkommt, die in aller Regel mit einer sozialen Stigmatisierung geahndet wird. Das Bekenntnis zur Demokratie ist zu einer unverzichtbaren Voraussetzung für jegliche politische Tätigkeit verklärt worden. Und fügt sich ein Staat nicht den „internationalen“ Standards, läuft er Gefahr als Pariastaat dahin zu vegetieren, dem in letzter Konsequenz auch noch das Existenzrecht aberkannt werden kann.
Im Grunde genommen soll hierdurch suggeriert werden, dass wir es mit Ideen zu tun haben, die vom Westen zwar „aufgespürt“ und ins Leben gerufen wurden, jedoch schon immer existiert hätten – und zwar unabhängig von Ort und Zeit. Der Menschenrechtsgedanke geht beispielsweise von der Annahme aus, dass jedem Menschen allein auf Grund seiner Eigenschaft als Mensch gewisse Rechte zustehen. Um welche Rechte es sich dabei konkret handelt, bedarf letztlich einer genauen Definition, die wiederum ohne ein konkretes Menschenbild nicht erfolgen kann. Und das Menschenbild, dass dieser zunächst abstrakten Idee zugrunde liegt, leitet sich aus der europäischen Aufklärungsepoche ab, welche die menschliche Selbstbestimmung zu ihrem Leitgedanken erhoben hat. Doch die sehr allgemeine Bezeichnung „Menschenrechte“ verleiht dieser Idee auf den ersten Blick einen neutralen Anstrich, da sie oberflächlich betrachtet auf keine spezifischen religiösen oder weltanschaulichen Prämissen zurückgeführt werden könne, sondern lediglich auf den „Menschen“ selbst. Insofern gäbe es für niemanden einen triftigen Grund, die Menschenrechte ernsthaft in Zweifel zu ziehen oder sie gar abzulehnen. Auf diesem Fundament hat der Westen inzwischen eine „Internationale Ordnung“ geschaffen, die für das politische, ökonomische und juristische Handeln sämtlicher Staaten einen verbindlichen Charakter besitzen soll. Durch ihren „neutralen“ Anspruch geriert sie sich als eine Art übergeordnete Instanz, die über jegliche Kritik erhaben zu sein scheint.
Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das sogenannte Völkerrecht. Es soll auf der Grundlage „allgemeiner“ Prinzipien, konkreter völkerrechtlicher Verträge sowie gewohnheitsrechtlich geltender Verhaltensregeln die Beziehungen zwischen den Staaten regeln. Und dies bezieht sich sowohl auf Friedenszeiten als auf Situationen des bewaffneten Kampfes. Die konstruktive Zusammenarbeit der einzelnen Staaten soll anhand einer Vielzahl von Internationalen Organisationen mit dem Ziel der Wahrung des Friedens geregelt werden. Auf ökonomischer Ebene sollen die völkerrechtlichen Grundsätze zudem ein für Produzenten und Konsumenten ausgewogenes und chancengleiches Welthandelssystem etablieren. Die Anerkennung all dieser Prinzipien und Vereinbarungen stütze sich dabei aus Sicht seiner Verfechter auf einen zwischenstaatlichen Konsens und dem Prinzip der Gegenseitigkeit.
Der Beginn des Völkerrechts lässt sich historisch nicht exakt datieren. In seiner heutigen Ausformung dagegen werden der Westfälische Frieden (1648) und die darauffolgende Entstehung der Nationalstaaten als wichtige Meilensteine für seine weitere Entwicklung angesehen. Spätestens nach den beiden Weltkriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm das Völkerrecht dann konkrete Züge an, die sich schließlich in der Charta der Vereinten Nationen niederschlugen. Die „Staatengemeinschaft“ reagierte auf das blutige Gemetzel zu jener Zeit mit einem allgemeinen militärischen Gewaltverbot und erhob den „Weltfrieden und die internationale Sicherheit“ zum obersten Gebot.
Trotz dieser „hehren“ Ziele wird dem Völkerrecht nicht selten der Einwand entgegnet, es handle sich hierbei nur um ein „Pseudorecht“, das im Ernstfall nicht eingehalten werde. Denn das Fehlen einer Gesetzgebungsinstanz in Verbindung mit einer strukturierten Gerichtsbarkeit und einem Exekutivorgan, dem sich das nationale Recht aller Staaten zu unterwerfen hätte, verhindere oftmals die tatsächliche Durchsetzung völkerrechtlicher Grundsätze. Zwar besteht innerhalb der abendländischen Rechtsphilosophie nach wie vor ein Dissens darüber, inwieweit eine Rechtsnorm ihren „Rechtscharakter“ verlieren würde, wenn ihre Einhaltung nicht erzwungen werden kann. Für die praktische Umsetzung des Völkerrechts spielt dieser Aspekt hingegen eine eher untergeordnete Rolle. Denn gerade in der westlichen Staatenpraxis existieren zahlreiche Beispiele dafür, wie sich die Politik im Zweifelsfall nicht nur über das Völkerrecht stellt, sondern darüber hinaus versucht, ihr rechtswidriges Verhalten völkerrechtlich zu begründen. Ungeachtet der Frage also, was eine „Rechtsnorm“ nun tatsächlich kennzeichnet, bleibt das Völkerrecht aufgrund einer fehlenden Durchsetzungsinstanz letztlich ein „zahnloses“ Recht. Seine begrenzte Handlungsfähigkeit wird ebenso an der Stellung des „Internationalen Strafgerichtshofs“ deutlich. Obwohl er mit dem Ziel gegründet wurde, Kernverbrechen des Völkerstrafrechts zu ahnden, müssen Staaten, die ihre Zustimmung zum „Internationalen Strafgerichtshof“ widerrufen, wie dies Russland kürzlich getan hat, keinerlei juristische oder politische Folgen fürchten.
Dass die Welt es hier in Wirklichkeit mit einem Instrument der politischen Einflussnahme zu tun hat, demonstrieren die in regelmäßigen Abständen stattfindenden militärischen Interventionen der USA. Im Schlepptau des eigens zugeschriebenen Attributs des „Amerikanischen Exzeptionalismus“ werden unter dem Deckmantel völkerrechtlicher Konzepte Angriffskriege geführt. Dies ermöglicht den USA wie auch den westlichen Staaten im Allgemeinen völlig ungeniert vom Aggressor in die Rolle des Opfers zu schlüpfen, ohne dafür großartig unter Rechtfertigungsdruck geraten zu müssen. Die Reaktion der französischen Regierung nach den Pariser Anschlägen im vergangenen November untermauert ein solch durchtriebenes Verhalten auf eklatante Weise. So verkündete Präsident Hollande kurz nach den Anschlägen den Kriegseintritt Frankreichs und bezog sich dabei auf das Völkerrecht. Gemäß Artikel 51 der UN-Charta hätte Frankreich das „Recht auf Selbstverteidigung“ und könne nun ruhigen Gewissens militärisch gegen den IS vorgehen. Was der Weltöffentlichkeit in all ihrer Hysterie offenbar entgangen war, ist der Umstand, dass sich Frankreich längst im Krieg mit dem IS befand. Nach eigenen Angaben haben sich die französischen Streitkräfte bis November 2015 an mehr als 1200 Einsätzen beteiligt und dabei schätzungsweise 450 IS-Ziele zerstört. Bei diesem, für jeden Psychologen sicherlich interessantem Fallbeispiel, stellt sich die berechtigte Frage, wie ein Staat zweimal in denselben Angriffskrieg eintreten kann und sich beim zweiten Mal sogar als Opfer aufspielt, das ein „Recht auf Selbstverteidigung“ hätte. Eine mögliche Antwort darauf gab der Völkerrechtler Martti Koskenniemi in einem Interview für die „ZEIT“. Aus seiner Sicht „hat [zunächst] jeder Staat das Recht, seine territoriale Souveränität gegen bewaffnete Gruppen zu verteidigen“. Dies träfe allerdings nicht auf den „Islamischen Staat“ zu, da er „kein Staat im Sinne des internationalen Rechts“ sei, der „über ein Territorium, eine Bevölkerung und eine Regierung verfügt, die beide willens und in der Lage sind, internationales Recht einzuhalten“, so Koskenniemi. Für den ehemaligen Diplomaten sei es ohnehin eine „absurde Vorstellung“ den IS als Staat anzuerkennen. Schließlich hätte dies zur Folge, dass er unter Bezugnahme auf Artikel 51 der UN-Charta ebenfalls das Recht auf Selbstverteidigung beanspruchen könnte und die „Bombardierungen durch die USA und Russland, überhaupt alle Militäraktionen gegen den Terrorstaat, wären [dadurch] illegal“.
Vor diesem Hintergrund bleibt vom „Glanz“ des Völkerrechts als neutrale und folglich übergeordnete Instanz nicht viel übrig. Wie im Falle der Menschenrechte bedient sich der Westen auch hierbei abstrakter Formulierungen, um die Mär von einer geradezu „metaphysischen“ Rechtsordnung aufrechtzuerhalten. In concreto jedoch ist es ein von den westlichen Staaten gesetztes Recht; sowohl die Charta der Vereinten Nationen als auch die zahlreichen zwischenstaatlichen Verträge stützen sich ausnahmslos auf die ideologischen Grundlagen und der gegenwärtigen Vormachtstellung der westlichen Welt. Es wäre somit ein grober Fehler zu glauben, dass ein Staat Macht und Einfluss nur dann generieren könne, wenn er sich den Spielregeln der „internationalen Ordnung“ mit all ihren Institutionen unterordnet. Besonders für die islamische Welt können die Gefahren, die aus einem derartigen Fehlverständnis resultieren, gravierend sein. Denn eine fundamentale Neuordnung dieser Region scheiterte in der Vergangenheit des Öfteren an eben dieser Überzeugung. Die Entwicklung der USA nach dem Zweiten Weltkrieg kann in diesem Kontext beispielhaft dafür herangezogen werden, wie ein Staat eine dominante Rolle in der Weltpolitik eingenommen hat, ohne sich den herrschenden Standards in irgendeiner Weise zu fügen. So haben die USA durch die Gründung neuer Organisationen und die Verabschiedung diverser Abkommen die übrige „Staatengemeinschaft“ nicht nur vor vollendeten Tatsachen gestellt, sondern gleichzeitig ihre Macht dadurch immer weiter ausgebaut. Die auf dieser Basis neuentstandenen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Strukturen haben schließlich dazu geführt, dass auch einer vermeintlich angehenden „Großmacht“ wie China keine andere Wahl bleibt, als sich den besagten Strukturen widerspruchslos zu unterwerfen.
Die abendländische Philosophie mag in der Relativierung von Begriffen und der scheinbaren Ausdifferenzierung überkommener moralischer Kategorien für sich einen „zivilisatorischen Durchbruch“ sehen. Mit der oft komplexen Realität hat dies allerdings recht wenig zu tun. Gerade die Regelung menschlicher Beziehungen erfordert gewisse „Kategorisierungen“, um einen Rahmen für ein konfliktarmes Zusammenleben zu schaffen. Ob die dafür notwendige ideelle Basis am Ende als „Ideologie“, „Weltanschauung“ oder „Werteordnung“ bezeichnet wird, ist im Kern irrelevant. Um sich jedoch einer kritischen Untersuchung über den Wahrheitsgehalt der eigenen Ideen zu entziehen, erfüllt das Konzept der „Neutralität“ sehr wohl seinen Zweck. Auf diese Weise lassen sich selbst totalitäre Machtinstrumente wie das Völkerrecht als heilsbringende Weltprinzipien tarnen. Und so würde der neuzeitliche Jean-Jacque Rousseau über die Funktion des Völkerrechts wohl mit folgenden Worten frohlocken: „Die Nationen werden frei geboren und überall haben wir sie in Ketten gelegt“.