Der arabische Frühling ist gescheitert, die Revolution ist tot. Tunis – wieder von alten Eliten beherrscht. Kairo – unter dem Joch der Militärdiktatur. Aleppo – in Trümmern. Mossul – Friedhofsstille. Rakka – eingehüllt im brennenden Nebel weißen Phosphors. Der arabische Frühling ist gescheitert, die Revolution der Islamisten besiegt. Die Muslimbrüder hinter Gittern, der IS auf der Flucht und die syrischen Rebellen im Nordwesten des Landes isoliert.
So oder so ähnlich muss es in den Köpfen vieler Beobachter des Nahen Ostens aussehen. Für den Muslim ein schmerzliches Bild, für den Säkularen eine wahre Freude. Doch beide verbindet die Vorstellung, dass die Revolution und damit der transformatorische Impuls zum Erliegen kommt und sich das soziopolitische Gefüge wieder festigt. Die Dynamik weicht der Statik, die Polarisierung der Stabilität. Doch diese Vorstellung, ganz gleich in wessen Gedankenwelt, verkennt die tatsächlichen Verhältnisse der Region und übersieht die endogen wirkenden Triebkräfte der betroffenen Gesellschaften.
Um die im Nahen und Mittleren Osten wirkenden Kräfte näher zu begreifen, lohnt ein Blick auf die sozial- und politikwissenschaftliche Theorie der sogenannten cleavages. Letztere beschreibt gesellschaftspolitische Spannungsverhältnisse, die sich auf drei Ebenen äußern. Auf der strukturellen Ebene beinhaltet ein cleavage eine soziale Spaltung, welche eine Bevölkerungsgruppe aufgrund eines sozialen Merkmals definiert und von einer anderen abgrenzt. Ein cleavage separiert zum Beispiel Arbeiter von Arbeitgebern, Katholiken von Protestanten oder Französischsprachige von Deutschsprachigen. Auf der nächsthöheren Ebene kommt es zur Bewusstwerdung dieser Unterschiedlichkeit. Hierdurch bilden sich kollektive Identitäten auf Basis derer die Gruppen Gemeinschaftsgefühl, gemeinsame Interessen und Handlungsmuster entwickeln. Dies formalisiert sich schließlich auf der dritten Ebene – der Ebene der Organisation. Besagte Organisationen können unterschiedlicher Natur sein; so können cleavages in Form von Gewerkschaften, kulturellen Vereinen, politischen Parteien und religiösen Institutionen bzw. Bewegungen Gestalt annehmen. Gesellschaftspolitische Spannungsverhältnisse basieren demnach auf strukturellen Differenzen, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Besonders nachhaltig sind cleavages, die aus einer mehrschichtigen Unterschiedlichkeit resultieren. Laut der „International Encyclopedia of Political Science“ des französischen Politikwissenschaftlers Bertrand Badie drücken sich „politische Spaltung[en] idealtypisch durch eine Kombination kulturell-ideologischer Denkmuster“ in organisatorischer Dimension aus. Cleavages, die auf solch normativen Grundlagen fußen, können aufgrund ihrer Grundsätzlichkeit und nachhaltigen Wirkkraft zu enormen Spannungen und sogar bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass Revolutionen oder gesellschaftliche Konflikte in der Regel nicht auf äußeren Einflüssen, sondern auf tiefgreifender soziopolitischer Segmentation und Fragmentierung fußen.
Im Nahen und Mittleren Osten sticht insbesondere ein kulturell-ideologisches cleavage hervor: Säkularismus gegen Islamismus. Während die Region in ihrer 1400-jährigen Geschichte trotz aller Turbulenzen ordnungspolitisch und kulturell durch den Islam geprägt war, kam es im Zuge des Untergangs des Osmanischen Reiches Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer radikalen gesellschaftlichen Umgestaltung. Die von Frankreich und Großbritannien oktroyierte Nachkriegsordnung brach mit der kulturhistorischen Konstante und diffamierte normative Ordnungselemente wie das Kalifat und die Schari‘a als Relikte vergangener Zeiten. Stattdessen sollte die westfälische Logik des Nationalstaates Einkehr in die islamische Welt finden, in der fortan säkulare Staatsgebilde synthetisch generierte Kollektividentitäten wie die des libanesisch-, jordanisch- oder syrisch-Seins abbildeten. Die staatliche Ordnung der Region basierte nun auf einem anthropozentrischen Weltbild, formalisiert durch die Trennung von Staat und Religion. Anhand der kolonial organisierten Einbeziehung lokaler Eliten, ist ein Teil der indigenen Bevölkerung durch die eurozentrische Weltanschauung kulturell-ideologisch markiert und von religiösen Schichten abgegrenzt worden. Das hieraus entstehende Spannungsfeld hat sich durch einen Prozess der Bewusstwerdung (sahwa islamiyya), der damit einhergehenden Entfremdung von säkularen Gesellschaftsstrukturen zu einer definierenden Triebkraft und durch die Entstehung reformatorischer, militanter sowie revolutionärer Organisationen in ein mehrschichtiges cleavage entwickelt. Der seit Jahrzehnten ausgetragene Konflikt zwischen Säkularen und Islamisten muss daher als Entladung soziopolitischer Polarisierung begriffen werden, anstatt Revolutionen und Widerstandsmomente auf bloße Verschwörungstheorien ausländischer regime-change Unternehmungen zu reduzieren.
Dass die weltanschaulichen Grundlagen der islamischen Bewegung unabhängig des temporären Ausgangs der tunesischen, ägyptischen oder syrischen Revolution massiven Rückhalt genießen, zeigt ebenso eine Studie des Pew Research Centers aus dem Jahre 2013. Die Meinungsforscher kamen zu dem Ergebnis, dass vielerorts überwältigende Mehrheiten die umfassende Einführung der islamischen Gesetzgebung unterstützen. So sprachen sich in Jordanien 71%, in Ägypten 74%, in Marokko 83%, in den Palästinensergebieten 89% und im Irak 91% der Befragten für die Einführung der Schari’a aus. Auch in großen Teilen Zentralafrikas (Kongo 74%, Djibouti 82%, Niger 86%), Südostasiens (Indonesien 72%, Thailand 77%, Malaysia 86%) und des indischen Subkontinents (Bangladesch 82%, Pakistan 84%, Afghanistan 99%) sprechen die Zahlen eine überaus deutliche Sprache.
Neben Soziologen, Politikwissenschaftlern und Meinungsforschern haben ebenso geopolitische Analysten den unverkennbaren Trend in der islamischen Welt registriert und in die historische Regionalentwicklung eingebettet. Die Politberater der US-amerikanischen Denkfabrik Geopolitical Futures (GPF) konstatieren in ihrem Forecast „The Road to 2040“ folgendes: „Das Osmanische Reich umfasste das Kerngebiet des Nahen Ostens und hatte sein politisches Zentrum in den Grenzen der heutigen Türkei. Es vereinte diese Region und expandierte seine Einflussgebiete nach Nordafrika, Zentralasien und Südosteuropa. Das Osmanische Reich zerfiel im Zuge des Ersten Weltkrieges genauso wie die Dynastien der Habsburger, Hohenzollern und die der Romanovs. […] Mit dem Fall des Osmanischen Reiches entstand die Türkei als eine eigene Republik. Die osmanische Provinz Syrien wurde in [die Gebilde] Libanon, Palästina, Jordanien sowie den Rumpfstaat Syrien zerteilt. Der Irak entstand in dem Gebiet Babyloniens und dem unteren Tigris- und Euphrat-Becken, mit zeitlich variierenden Grenzen. Doch die von Frankreich und Großbritannien gezogenen Grenzen waren im Kern unnatürlich. Es gab niemals einen Staat namens Jordanien. Die Briten unterstützten zwei arabische Stämme, die im ersten Weltkrieg gegen das Osmanische Reich kämpften – die Haschemiten und die Saudis. Sie gaben den Saudis die Herrschaft über Mekka und den Haschemiten das Gebiet östlich von Jordanien, Transjordanien, welches später [in seiner Bezeichnung] zu Jordanien verkürzt wurde. Sie gaben den Haschemiten ebenfalls den Irak. Das Gebiet nördlich des Hermonbergmassivs kontrollierten die Franzosen, die am Mittelmeer einen christlichen Staat kreierten. Diesen benannten sie nach dem Berg Libanon, da ihnen schlicht kein besserer Name einfiel. […] Wenn wir über den Nahen Osten sprechen, dann geht es um das Herz der islamischen Welt. Der Nahe Osten ist natürlich nur ein kleiner Teil davon, aber seit dem Aufstieg des Islam befand sich das Gravitationszentrum in Medina, Damaskus, Bagdad, Kairo und Konstantinopel. Wenn diese Kernregion stabil war, hatten die Muslime eine Plattform, von der aus sie Richtung iberische Halbinsel, das ungarische Becken oder ostwärts Richtung asiatische Peripherie expandieren konnten. Wenn [diese Kernregion] fragmentiert und bezwungen wird, verliert die islamische Welt ihre geopolitische Dynamik. Obwohl das Kalifat im 10. Jahrhundert durch kleinere Sultanate und Emirate in Frage gestellt wurde, bestand das islamische Ziel im geopolitischen Sinne stets in der Vereinigung der arabischen Halbinsel, der Türkei und den Gebieten vom Mittelmeer bis zu Persien sowie dem Niltal unter der Herrschaft eines einzigen Staates. Diese Region ist das Herz des historischen Kalifats und Gravitationszentrum der restlichen Teile der islamischen Welt. Das Ziel diese Region zu vereinen wurde durch das Osmanische Reich wiederbelebt. Zwar war der diesbezügliche Erfolg nur temporär, die Zielsetzung eines Kalifats ist es jedoch nicht; und andere Gruppen mit wachsendem Einfluss und Kapazitäten haben die Mission in jüngster Zeit geerbt [und verfolgen diese].“ Jacob L. Shapiro und Xander Snyder, ebenfalls Politberater von GPF, beschreiben den gegenwärtigen Zustand der islamischen Welt in ihrem Podcast vom 19.05.2017 folgendermaßen: „Man muss bedenken, dass viele der Ideen, die die gegenwärtige politische Ideologie ausmachen und den Nationalismus hervorbrachten, der die europäischen Staaten bis zum heutigen Tag als Organisationsprinzip ausmacht, auf das Zeitalter der Aufklärung zurückgehen. Wir sprechen also von einem Entstehungsprozess, der auf das 16. und 17. Jahrhundert zurückgeht. Im Nahen Osten jedoch konnten diese Ideen erst nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches Fuß fassen. Die Region kam also erst nach dem Ersten Weltkrieg mit den Ideen der Aufklärung, der Moderne und des Nationalismus verstärkt in Berührung. Diese Ideen mussten in eine politische Tradition, die durch den Islam dominiert war, integriert werden. Zunächst kam es zwar zu einer Welle des Nationalismus, der sich im 20. Jahrhundert in vielen Teilen des Nahen und Mittleren Ostens niederschlug; so gab es den türkischen Nationalismus, den Aufstieg des Iran als nationalstaatlich organisierte Macht, Israel und den Zionismus, was nur ein anderer Begriff für jüdischen Nationalismus war und es gab den arabischen Nationalismus. Doch der arabische Nationalismus funktionierte nicht wirklich, denn es gab die Vorstellung des Panarabismus und gleichzeitig wurden Subidentitäten entwickelt. In Ägypten machte letzteres eventuell noch Sinn, da Ägypten seit längerer Zeit eigenständig existierte. Aber der Libanon, Syrien und Irak waren Länder, in denen versucht wurde eine nationale Identität aus dem Nichts zu schaffen. Dies funktionierte für eine kurze Zeit und der Nasserismus, Baathismus und ähnliche Vorstellungen gaben diesen Ländern eine gewisse Bedeutung; doch langfristig disqualifizierten sich diese Ideen, da sie als korrupt betrachtet wurden. Sie waren nicht in der Lage ökonomische Prosperität und Repräsentativität zu generieren. Darüber hinaus marginalisierten [die säkularen Kräfte] den Islam, da er als eine Bedrohung ihrer Macht wahrgenommen wurde. Ebenso waren sie nicht in der Lage Israel zu besiegen. Israel war eine immens wichtige Angelegenheit für die arabischen Nationalstaaten, doch sie wurden in jedem Krieg demütigend geschlagen. All diese Dinge motivierten die Menschen nach alternativen politischen Ideen zu suchen und das einzige Ordnungsprinzip, das [in der Region] jemals funktioniert hat und in der Lage war die Araber zu vereinen, war der Islam. Es handelt sich also um eine Rückbesinnung auf eine bereits dagewesene [und den Menschen bekannte] Ordnungspolitik.“
Im Lichte dieser Faktenlage erscheint die säkulare Feierlaune als bemerkenswerte Hybris, der in naher Zukunft eine vernichtende Nemesis folgen wird. Es sind die kulturhistorischen Bedingungen, die soziopolitischen Verhältnisse sowie die geopolitischen Triebkräfte und Imperative, die eine stabile säkulare Staatenordnung im Nahen und Mittleren Osten in das Reich abendländischer Mythen verbannen. Der politische Islam hingegen ist eine organisch verwurzelte Ideologie, die auf eine über tausendjährige Traditionslinie zurückgreift und unabhängig von isolierten Misserfolgen nicht aus der Region entfernt werden kann. In diesem Sinne sei den Laizisten gesagt: Die Revolution ist tot. Doch die schwarzen Flaggen werden wiederkehren und die Paläste eurer Herrscher erneut in Flammen aufgehen. Es lebe die Revolution!