Islamrechtliche F&A Proteste und Demonstrationen – Welches Ziel verfolgen sie und wie steht der Islam dazu?

Was ist ein Protest und welches Ziel wird durch das Abhalten von Protesten bezweckt? Ist das Ziel tatsächlich nur „Lärm zu machen, Slogans zu schreien und mitreißende Reden zu halten“? Diese Frage tauchte im Kontext der gegenwärtigen Lage der Ummah auf.

Was ist ein Protest und welches Ziel wird durch das Abhalten von Protesten bezweckt? Ist das Ziel tatsächlich nur „Lärm zu machen, Slogans zu schreien und mitreißende Reden zu halten“? Diese Frage tauchte im Kontext der gegenwärtigen Lage der Ummah auf. Was ist die Antwort auf diese Frage in Hinblick auf den Islam und was ist eigentlich der Zweck von Protesten und Demonstrationen?

Die Leute, die diese Fragen stellen, behaupten meist, dass Proteste keinerlei praktische Auswirkungen auf den Zustand der Ummah hätten. „Sie werden nicht aufhören Krieg zu führen oder uns zu unterdrücken, nur weil man seine Stimme dagegen erhebt. Proteste helfen weder denen, die getötet werden, noch lindern sie ihren Zustand im Geringsten.“ Was also ist der Zweck von Protesten und Demonstrationen?

Die durch Proteste und Demonstrationen verfolgten Zwecke sind zahlreich. Einzeln betrachtet ist jeder einzelne Punkt wichtig, sei es, um politische Strömungen zu schaffen oder der islamischen Verpflichtung nachzugehen, das Gute zu gebieten und das Schlechte anzuprangern. Verknüpft man diese beiden Punkte miteinander, so erkennt man ihre Relevanz sowohl für Individuen als auch für das Kollektiv. Im Folgenden sollen nun einige Punkte angeführt werden die aufzeigen sollen warum Proteste nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig sind, vorausgesetzt, dass sie richtig durchgeführt werden und die korrekte Botschaft mit sich tragen.

1. Proteste helfen, um durch kollektive Öffentlichkeitsarbeit ein Bewusstsein zu schaffen.

Dadurch, dass Proteste und Demonstrationen im Freien stattfinden, wird durch diese mehr Aufmerksamkeit generiert, als einzeln getätigte Aussagen jemals generieren könnten. Für Proteste und Demonstrationen wird zusätzlich dazu geworben, weshalb über sie gesprochen, berichtet und gepostet wird. Auf diese Weise werden weitaus mehr Menschen erreicht, die dann über die Problematik Bescheid wissen. Auch wird ersichtlich, auf welcher Seite sich die Demonstranten positionieren.

2. Das Brechen der Handlungsunfähigkeit, die die Gemeinden zum Schweigen bringt

In schwierigen Situationen sind Proteste eine Ausprägung der kollektiven Handlung, die die Menschen dazu zwingt, sich hinter einer gemeinsamen Botschaft in bedeutender Menge zu formen. Vor allem dort, wo Untätigkeit und Schweigen vorher dominierte, stellen sie ein klares „Brechen der Fesseln“, ein Ende der Untätigkeit und der Ruhe dar, an der sie zuvor Mitschuld hatten.

Wenn die Menschen im Einzelnen keine Möglichkeit haben, ihre Gefühle zu kanalisieren, finden sie einen Platz in diesem kollektiven Medium.

3. Eine Stimme und ein Ausdruck für die Wahrheit – die sonst droht im Laufe der Zeit der Lüge zu weichen

Falsche Propaganda gewinnt im Laufe der Zeit immens an Kraft, wenn sie nicht bekämpft wird. Vor allem in Situationen moderner Konflikte, in denen Unterdrücker ganze Staatsapparate unter Kontrolle haben, um ihre Botschaft nach außen zu tragen, ist es sehr leicht, die Wahrheit zu verdünnen, wenn der Falschheit nicht entscheidend und öffentlich Einhalt geboten wird. Proteste machen genau das: Sie behaupten und verbreiten öffentlich die Wahrheit. Dies wird oft von den Medien, die sie abdecken, weiter vorangetrieben, aber am wichtigsten ist, dass diejenigen, die teilnehmen, die Botschaft weiter an ihre Familien, Bekannten, usw. tragen, um sicherzustellen, dass das öffentliche Bekenntnis der Wahrheit weit über den Augenblick hinausgeht.

4. Das Gebieten des Guten und das Verbieten des Schlechten, eine der tugendhaftesten Taten im Islam

Dies ist ein Punkt, der kaum explizit erklärt werden muss, denn wahrlich, das Gute zu gebieten und die Schlechtheit zu verbieten, gehört zu den wichtigsten Verpflichtungen im Islam.

Allah (swt.) sagt in Surat Ali-‚Imran in der sinngemäßen Übersetzung:

Ihr seid die beste Gemeinschaft, für die Menschen hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Rechte und verbietet das Verwerfliche und glaubt an Allah. [3:110]

Imam Al Qurtubi sagte über diesen Vers: „Allah sorgte dafür, dass das Gebieten des Guten und Anprangern der Schlechtigkeiten zwischen den Heuchlern (Munafiqin) und Muslimen trennt. Daher wird ersichtlich, dass die treffendste Beschreibung eines Muslim ist, dass er das Gute gebietet und das Schlechte verbietet, wobei die Königsklasse dieser Handlung das Tragen der islamischen Botschaft ist (Da’wah).

In Bezug auf das Glaubensfundament (Aqidah) der frühen Muslime (Salaf) schrieb Imam al-Sabooni, dass dieses (Glaubensfundament) sich darin zeigt, dass „man sich Gedanken um die Angelegenheiten der Muslime macht, das Gute gebietet und das Schlechte verbietet, während man einander in Geduld ermahnt.“

Imam Al-Nawawi sagte: „Hisbah (das Gute zu gebieten und das Schlechte zu verbieten) ist eine große Angelegenheit, welche im Mittelpunkt vieler Dinge steht. Wenn böse Praktiken sich verbreiten, wird Allah sowohl die Frommen, als auch die Bösen bestrafen. Und wenn sie es versäumen, den Übertretern das Böse zu verbieten, so wird Allah seine Strafe ausweiten und das ganze Volk zu umfassen.“

5. Öffentlich zur Wahrheit aufzurufen hat eine größere Reichweite und Wirkung als Einzelaktionen

Proteste, in ihrer Organisation und Ausführung, treiben eine gewisse Haltung in Bezug auf ein spezifisches Thema an. Sie sind in dieser Hinsicht eine Einladung zu dieser Haltung, da niemand einen Protest unterstützt, mit dessen fundamentaler Botschaft er nicht einverstanden ist. In dieser Hinsicht laden sie die Menschen dazu ein, die Vorzüge dieser bestimmten Haltung zu betrachten und sie zu beurteilen. Oft führt dies zu Diskussionen zwischen Menschen, Gruppen und Bevölkerungen über den Wahrheitsgehalt und die Stärke hinter dieser Haltung.

Im besten Fall sind sie eine Form von Da’wah in Richtung einer bestimmten Position, die dann darin mündet, dass sie die wahrheitsgemäße Position verteidigen. Sie sind natürlich gleichzeitig eine Form von Da’wah in Richtung der Wahrhaftigkeiten dieser Welt.

6. Rechenschaftsforderung von den Tyrannen und Unterdrückern; der Weg zum Märtyrertum

Der Prophet (saw.) sagte:

Der Herr der Märtyrer ist Hamza ibn Abdul Muttalib, sowie ein Mann, der sich gegen einen ungerechten Herrscher erhebt, ihm das Rechte gebietet und sein Unrecht anprangert und dafür von ihm getötet wird. [Al Hakim]

Selbst wenn man nicht als Märtyrer stirbt, wenn man dem Unterdrücker die Wahrheit sagte, so ist diese Tat – das Aussprechen der Wahrheit – eine edle und mutige Tat. Besonders wenn die meisten der Menschen aus Angst schweigen. In dieser Hinsicht sind Proteste oft eine Form des Aussprechens der Wahrheit angesichts der Tyrannei und Unterdrückung.

7. Den Weg für den zukünftig stattfindenden materiellen Wandel durch den Einfluss der öffentlichen Meinung ebnen

Proteste sind kollektive Aktionen, die dazu beitragen, die Meinung der Gesellschaft in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Sie beeinflussen diejenigen, die zu ihnen kommen und zum ersten Mal von einer gewissen Botschaft hören. Sie beeinflussen ganze Familien und sie beeinflussen durch ihre Berichterstattung und Ausbreitung diejenigen, die vielleicht noch nicht anwesend waren. In dieser Hinsicht und durch den Öffentlichkeitsgrad, der sie auszeichnet, helfen sie eine längerfristige bestehende, öffentliche Meinung aufzubauen. Sie ist entscheidend für die Vorbereitung für den Wandel innerhalb unserer Ummah. Bedingungen, die nur langfristig geschaffen werden können. In dieser Hinsicht können Proteste eine wichtige Grundlage für eine langfristige Wiederbelebung der Gemeinden und unserer Ummah bilden.

8. Die Unterdrückten moralisch unterstützen, indem wir ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind

Im Zeitalter der sozialen Medien bleibt keine Nachricht oder Aktivität nur „lokal“. Durch die Macht der sozialen Medien erfahren Menschen auf der anderen Seite der Welt von stattfindenden Protesten. Man kann die „Solidarität“ mit unterdrückten Menschen auch aus großer Entfernungen bekunden und zeigen. Im Kontext der muslimischen Welt hat dies einen massiven Einfluss: Unsere Brüder und Schwestern mitten in der muslimischen Welt, die oft das Thema der Unterdrückung praktisch zu spüren bekommen müssen, sehen ihre Brüder und Schwestern, die sie unterstützen und fühlen sich dadurch ermächtigt, verbunden, geliebt und inspiriert.

9. Den Unterdrückten eine Stimme verleihen

Schließlich, in einer Zeit, in der unsere unterdrückten Brüder und Schwestern ihre Stimmen aufgrund ihnen fehlenden Plattformen nicht in Umlauf bringen können, haben diejenigen, die an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt protestieren können, die Möglichkeit eine Stimme für sie zu sein. Durch den Einsatz von sozialen Medien, durch Ausstrahlung solcher Proteste in sozialen Medien, oder auch durch die Berichterstattung bereits etablierter Medien wird die Welt auf die Not der Unterdrückten aufmerksam gemacht. Und nicht nur die Welt, sondern auch örtliche Gemeinden – im, sagen wir, Westen –, die sonst die Realitäten, denen die Muslime anderswo gegenüberstehen müssen, nicht kennengelernt hätten. Realitäten, über deren Existenz sie durch die Öffentlichkeit, öffentliche Bekanntmachungen und Bewusstseinsbildung usw. niemals erfahren hätten. Kundgaben also, die solche Proteste benötigen.

Durch das bloße Bekanntmachen und die Berichterstattungen ergibt sich die Möglichkeit, die Stimmlosen stimmhaft werden zu lassen.

All die genannten Taten sind für sich allein ehrenvolle Taten. Was passiert also, wenn man viele oder gar alle Taten miteinander kombiniert?!

Ein Protest ist im Grunde eine Form des öffentlichen Ausdrucks, und als solcher möchte er verschiedene Wirkungen erzielen. Das Problem des Gedankenganges, der besagt, dass Proteste sinnlos sind, da sie keine materielle Veränderung mit sich ziehen, ist, dass das Ergebnis mit einem falschen Maßstab, nämlich an falschen Erwartungen gemessen wird. Wenn materielle Veränderungen möglich wären, wäre kein Protest nötig. Tatsächlich hält derjenige, der in der Lage ist einen aktiven Wechsel zu vollziehen aber lediglich protestiert, seine Pflicht nicht ein. Der Zweck der Proteste erwächst genau dort, wo eine direkte materielle Veränderung nicht möglich ist.

Der Hadith des edlen Propheten (saw.) ist in dieser Hinsicht klar:

„Wer auch immer eine Schlechtigkeit sieht, so lasst es ihn mit seiner Hand verändern, aber wenn er dazu nicht in der Lage ist, so soll er es mit seiner Zunge [ändern].“ [Muslim]

Ohne Zweifel steht diese Denkweise im kompletten Widerspruch zu der Prophetischen Methode und Anweise.

Der Prophet (saw.) nannte Umar (ra.) „al-Faruq“ [derjenige, der zwischen Wahrheit und Falschheit unterscheidet] besonders wegen seiner öffentlichen Verkündung der Wahrheit. Er drängte hinauszuschreiten und die Religion (Din) öffentlich zu verbreiten, so taten die Prophetengefährten (Sahaba) es auch: Ein Aufmarsch von Vierzig [Leuten] in zwei Reihen marschierten zur Ka’bah als öffentlicher Ausdruck der neuen Religion.

Abdullah ibn Masud (ra.) ging zur Ka’bah um die Sure al-Rahman offen und laut im Angesicht der Quraysh zu rezitieren, wissend, dass das Ergebnis körperliche Gewalt gegen seine Person sein würde.

Abu Bakr (ra.) zieht es vor in seinem Vorhof zu beten und den Qur’an frei zu rezitieren, damit die Leute ihn (im Gegensatz zum Hausinnern) hören können, auch wenn die Folge ist, dass er seinen Schutz verliert und nun einem Angriff der Quraysh ausgeliefert ist.

In der Tat gibt es zu viele solcher Fälle.

Könnten wir es wagen bei diesen Fällen und seinen mutigen Impulsgebern das gleiche zu fragen: Was ist der Sinn? Was ist der Sinn eines Marsches, einer Rezitation des Qur’an in der Öffentlichkeit oder des Betens im Freien? Besonders wenn Formen von Schäden [als Folge] wahrscheinlich sind? Der Punkt ist, dass der öffentliche Ausdruck an und für sich letztendlich in Bezug auf alle oben erwähnten Dinge wirkmächtig ist.

Der edle Prophet (saw.) selbst ist empathisch:

Wenn du meine Ummah siehst, wie sie in Furcht sagen: „Du bist ein Unterdrücker!“, dann wurde sie [die Ummah] begraben. [Hakim]

Dies bedeutet, dass Allah sie sich selbst überlassen und seine Unterstützung weggenommen hat.

Bei demjenigen, in dessen Hände meine Seele ist! Du wirst das Gute gebieten und das Schlechte verbieten, sonst wird  Allah über dich bald eine Strafe senden, dann wirst du nach ihm rufen, aber er wird dir nicht antworten. [Tirmidhi]

Demnach haben Proteste nicht nur einen Sinn, sie sind tugendhafte Taten, die Allah, den Erhabenen, zufriedenstellen, wenn wir sie mit der richtigen Intention, Methode und Botschaft vollziehen.