Der Mensch ist nicht von Grund auf gut oder schlecht. Er ist nicht vorbelastet durch so etwas wie die Erbsünde und nicht zur Verantwortung zu ziehen für die Taten der Generationen vor ihm. Er ist nur dann verantwortlich, wenn er ihre Fehler fortsetzt und nicht versucht, diese zu korrigieren. Der Mensch kann sich nicht aus der Affäre ziehen durch die Tatsache, dass andere vor ihm den fehlerhaften Zustand herbeiführten und er diesen schon vorfand.
Die islamische Welt befindet sich in einem, harmlos ausgedrückt, katastrophalen Zustand, dessen Ursachen mehrere Jahrhunderte zurückliegen. Innere und äußere Faktoren haben dazu geführt, dass das ehemals mächtige Kalifat in nationalstaatliche Scherben zerbrach. Während die dafür Verantwortlichen längst nicht mehr leben, besteht das Resultat ihrer Fehler fort und ist noch immer Realität und bedeutet für viele Menschen großes Leid, für das auch diejenigen die Verantwortung tragen, die es zwar nicht verschuldet haben, aber die daran etwas ändern können und müssen. Andernfalls tragen auch sie eine Schuld, die darin besteht, an diesem Zustand nichts verändert zu haben. Es braucht also ein Bewusstsein der Verantwortung der Muslime.
Der Islam führt dem Muslim seine Verantwortung für andere jenseits einer komplizierten Verantwortungsethik bildlich vor Augen, wie in dem bei al-Buḫārī überlieferten Hadith: Das Gleichnis der Gläubigen in ihrer Barmherzigkeit, Zuneigung und ihrem Mitleid füreinander ist das eines Körpers: Wenn ein Teil davon leidet, reagiert der ganze Körper darauf mit Schlaflosigkeit und Fieber! In einem ebenfalls bei al-Buḫārī tradierten Hadith heißt es: Der Gläubige ist dem Gläubigen wie ein Mauerwerk: Ein Teil davon hält den anderen fest. Die Gemeinschaft der Muslime ist folglich ohne das Bewusstsein einer Verantwortung der Individuen füreinander nicht denkbar. Diese Verantwortung gilt auch über Kontinente und geographische Distanzen hinweg.
Das Fieber muss behandelt und das Mauerwerk geschützt werden. Man kommt also nicht umhin, aktiv zu werden, wenn der Körper fiebert und das Mauerwerk bröckelt, weil der ganze Körper am unbehandelten Fieber sterben und das Mauerwerk vollständig zusammenrechen kann. Die Verantwortung hierfür tragen alle, die Teil des Körpers bzw. des Mauerwerks sind. Wer sich der Verantwortung nicht stellt, gefährdet am Ende auch sich. Untätigkeit bedeutet im Grunde nichts anderes als Selbstzerstörung.
Verantwortung findet nicht auf emotionaler Ebene statt, auch wenn der Begriff Verantwortungsgefühl dies suggerieren könnte. Die vom Islam geforderte Brüderlichkeit unter Muslimen beispielsweise ist keine emotionale Bindung, sondern eine Verbindung auf Basis der islamischen Glaubensüberzeugung, die ein Bewusstsein für die Verantwortung den anderen gegenüber vorschreibt. Der Prophet (s) selbst statuierte ein Exempel, als er die Verbrüderung der anṣār (Unterstützer) und der muhāğirūn (Auswanderer) nach der Auswanderung aus Mekka vornahm. Die anṣār zeigten Verantwortung gegenüber den Auswanderern, die sich eine ganz neue Existenz in Medina aufbauen und ihren Unterhalt bestreiten mussten, nachdem sie gezwungen waren, ihren Besitz in Mekka zurückzulassen, was nur mit der Hilfe und Großzügigkeit der anṣār möglich war.
Der Islam motiviert zur Verantwortung, denn der Prophet (s) sagte: Der Muslim ist des Muslim Bruder. Ihn darf er weder unterdrücken noch zugrunde gehen lassen. Wer seinem Bruder in der Not beisteht, dem steht Allah in seiner eigenen Not bei. Und wer einem Muslim eine Sorge nimmt, dem nimmt Allah eine Sorge von den Sorgen am Tage der Auferstehung. Und wer einen Muslim nicht bloßstellt, den wird Allah am Tage der Auferstehung nicht bloßstellen. (al-Buḫārī) Der Einsatz für andere ist somit ein Einsatz für sich selbst, d. h., das eigene Wohl ist untrennbar an das Wohl der anderen geknüpft.
Somit spielt es am Ende keine Rolle, wer welche Schuld an der gegenwärtigen Situation der Muslime trägt. Ausschlaggebend ist, die Verantwortung zu übernehmen und diesen Zustand zu ändern. Wie also steht es um die Verantwortung für die Muslime in Syrien, in Afghanistan, im Irak, im Jemen, in Myanmar usw.? In diesen Ländern haben Not und Sorge ein Maximum erreicht, und es liegt in der Verantwortung aller Muslime, eine echte Lösung anzubieten, bei der ein Ende des Leidens realistisch ist. Die Arbeit an einer Lösung und die Änderung des Zustands ist kein Akt der Nächstenliebe, sondern eine Verpflichtung, die jeder Muslim hat. Er muss sich dieser Verantwortung bewusst sein und nicht darauf warten, dass andere die Verantwortung übernehmen und handeln.
Wenn Muslime im Zuge kolonialer Aktivitäten des Westens in ihren Ländern bekriegt, gefoltert, getötet oder vertrieben und ihrer Bodenschätze beraubt werden, muss man nicht lange nach der Ursache ihrer schlimmen Lage suchen. Allein der Westen entscheidet über Krieg und Frieden in den muslimischen Ländern und über die Macht der jeweiligen Staatsoberhäupter, die die Wächter der Interessen westlicher Staaten sind und den Zustand aufrechterhalten sollen. Wie sonst erklärt sich, dass der türkische Präsident Erdoğan seine Bomben auf die syrischen Muslime abschießt oder König Salman von Saudi-Arabien Krieg gegen die Muslime im Jemen führt?
Kennt man die Ursache, liegt die Lösung auf der Hand. Da es westliche Staaten sind, wie z. B. die USA und Großbritannien, die den desolaten Zustand in der islamischen Welt verursacht haben, lautet die logische Konsequenz, dass ihr Einfluss in all seinen Facetten in den islamischen Ländern beendet werden muss. Dazu gehört vor allem auch die Bekämpfung ihrer sogenannten Wächter, die eine Marionettenherrschaft führen und ihnen den Einfluss erst ermöglichen. Andernfalls ist keine positive Veränderung zu erwarten. Das zu vollbringen, liegt in der Verantwortung der Gesamtheit der Muslime, unabhängig davon, ob sie persönlich unter diesem Zustand leiden oder nicht.
Auch liegt es in der Verantwortung der Muslime, ein islamisches Leben in der islamischen Welt herbeizuführen, das in der Wiedererrichtung des Kalifats liegt, mit einem Staatsoberhaupt, das die Muslime nicht an den Westen verrät und ausliefert und das den Staat im Dienste des Islam und der Muslime führt, was unter anderem bedeutet, dass das eigene Militär nicht gegen die Muslime eingesetzt wird, um sie und ihren Glauben zu unterdrücken, wie es heute in den islamischen Ländern der Fall ist.
Dass dies keine einfache Aufgabe ist, bestreitet niemand. Aber die Frage ist nicht, wie leicht oder schwierig diese Aufgabe ist. Übernehmen müssen die Muslime sie trotzdem, denn der Islam hat ihnen die Verantwortung dafür übertragen und diese ist nicht auf andere übertragbar. Allah (t) wird die Muslime zur Verantwortung ziehen, die sich dieser Aufgabe entziehen und sich mit der Situation abgefunden haben, die konkret bedeutet, dass Muslime täglich den westlichen Interessen zum Opfer fallen und in Krieg und Elend leben müssen, nur deshalb, weil der Westen sich uneingeschränkt bedienen will.