Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – gegen die Grundwerte der Aufklärung richtet sich die Rebellion der Neuen Rechten. In ihrer nostalgischen Verklärung des Nationalstaats vertritt sie das politische Gegenstück zur liberalen Demokratie. Statt einer pluralistischen Gesellschaft zieht sie Homogenität und Identität vor. Eine nationale Internationale holt zum großen Schlag aus, um all das zu zerstören, was die westliche Wertegemeinschaft in den vergangenen Jahrzehnten mühevoll aufgebaut hat.
Eine etwas überspitzte Beschreibung der rechtspopulistischen Phänomene Pegida, AfD und Co.? Keineswegs. Es ist eher der übliche Versuch, das Denken und die politischen Zielsetzungen der rechten Bewegungen nicht nur für die Allgemeinheit verständlich abzubilden, sondern auch eine Trennlinie zur eigenen demokratischen Grundhaltung zu ziehen. Die unterschiedlichen Organisationsformen gebündelt in einem intellektuellen Netzwerk alter und neuer Rechter veranlasste nicht zuletzt die akademischen Kreise hierzulande sich dem Ruck nach rechts eingehender zu widmen.
In den zahlreichen Publikationen zu diesem Themenkomplex nimmt vor allem die ideengeschichtliche Entwicklung eine zentrale Rolle ein. Beispielhaft hierfür ist das aktuelle und vieldiskutierte Buch Die autoritäre Revolte des Historikers Volker Weiß. Neben dem vielfältigen Spektrum der neurechten Bewegungen geht er im speziellen auf ihre ideologischen Grundlagen sowie ihre prominentesten Vordenker und Stichwortgeber ein. Ausgangspunkt dabei bildet die konservative Revolution; als Schlüsselbegriff beschreibt sie sämtliche antiliberale und antidemokratische Strömungen in der Weimarer Republik und stellt somit jenen Kanon rechtsnationalistischer Intellektueller der Zwischenkriegszeit in Deutschland dar, auf den sich die Neue Rechte bezieht. Ihr Ziel sei es, unter Bezugnahme auf die konservative Revolution die deutsche Rechte wiederzubeleben, unter Umgehung […] des Nationalsozialismus, so Weiß. Obgleich die konservative Revolution eher einem nachträglich konstruierten Begriff gleicht als einer homogenen Denkströmung, lasse sich ungeachtet der inhaltlichen Unterschiede, welche unter der intellektuellen Rechte der 1920er Jahre existierten, dennoch ein gemeinsamer Kern erkennen. Dieser bestehe aus einer grundsätzlichen Ablehnung gegen die Epoche der Aufklärung, die sich in einer strikten Antidemokratischen, Antirepublikanischen [und] Antiliberalen Einstellung äußere. Besonders im Verhältnis zur Freiheit und Autonomie des Menschen sei ihr Standpunkt Weiß zufolge unmissverständlich gewesen: Die Aufklärung war immer verbunden mit dem Freiheitsgedanken und einer Emanzipation von Zwängen. Sie war deswegen seit jeher ein Gegenmodell. Man bezieht sich in der Neuen Rechten zudem auf gegenrevolutionäre Denker des frühen 19. Jahrhunderts. Es waren Denker, die sich sehr stark gegen die Aufklärung und gegen die Französische Revolution gestellt haben. Das ist der ewige Kampf, der geführt wird gegen das Denken nicht nur von 1789, sondern gegen das gesamte Projekt der Aufklärung, weil man letztlich in eine voraufgeklärte Welt zurück möchte. Mit anderen Worten hätten die konservativen und deutschnationalen Denker jener Zeit mit der kulturphilosophischen Konstante Europas gebrochen und stünden in Opposition zum Westen und den Werten von 1789, woraus sich letztlich das rechte Gedankengut speise, auf dem sich nun auch die Neue Rechte stütze.
Wie fahrlässig jedoch diese verzerrte und undifferenzierte Darstellung ist, zeigt sich vor allem in dem Versuch, Parallelen zwischen der autoritären Revolte in Form der Neuen Rechten und anderen wenn auch andersartigen Phänomenen zu ziehen, die sich als Gegenentwurf zur westlichen Wertegemeinschaft verstehen. So bestehe für Weiß eine nicht zu übersehende Schnittmenge zwischen den rechten bzw. rechtspopulistischen Bewegungen auf der einen und dem politischen Islam auf der anderen Seite. Aus seiner Sicht richten sich beide nämlich sehr stark gegen eine Befreiung des Subjekts, gegen eine Emanzipation der Frau, gegen eine Emanzipation von Minderheiten, gegen eine Gleichstellung auch von Homosexuellen. Und beide wollen vorgeblich ewige Werte, Tradition und alte Normen wieder in ihr angebliches Recht setzen. Ungeachtet der Tatsache, dass hier aufgrund einer Verabsolutierung des eurozentrischen Menschenbildes zwei von Grund auf verschiedene Weltanschauungen gleichgestellt werden, offenbart sich an diesem Vergleich ein grober Denkfehler. Denn Weiß geht in seiner Argumentation von der Prämisse aus, dass die autoritäre Revolte, welche als Reaktion auf die Moderne zu verstehen sei, ein internationales bzw. kulturübergreifendes Phänomen ist. Und der [fundamentalistische] Islam ist Teil jener ‚Konservativen Revolution‘ gegen den ‚westlichen Universalismus‘, da er im Grunde genommen das Produkt eines umfassenden Kollapses der islamischen Kulturen im Konflikt mit der globalen Moderne sei. Gleichzusetzen sei dies mit den Versuchen der völkischen Bewegungen im wilhelminischen Reich, die Kultur der Goten oder Wikinger wiederzubeleben, so Weiß. Auf diese Weise wird einerseits suggeriert, dass rechte und völkisch-nationalistische Ideen zwar ihren Ursprung in Europa hätten, aber keinesfalls auf die Kerngedanken der Aufklärung zurückzuführen seien. Und da auch dem Islam positive Berührungspunkte mit der Epoche der Aufklärung fehlen, bestehe hier eine Artverwandtschaft, die sich unter anderem in einer gemeinsamen Liberalismus- und Demokratiefeindlichkeit äußere.
Doch ein genauerer Blick in die Gedankenwelt der rechten Intellektuellen der Weimarer Republik rückt Weiß‘ Prämisse in ein völlig anderes Licht. Nicht die Kultur der Wikinger und Goten, sondern die philosophischen Ideen der deutschen Aufklärung bildeten ihren weltanschaulichen Bezugspunkt und prägten ihr politisches Denken wesentlich. Der rechtskonservative Publizist Arthur Moeller van den Bruck verwies in seinem Hauptwerk Das Dritte Reich auf die Leistungen der deutschen Philosophen folgendermaßen: Und auf der Höhe der idealistischen Kultur, in die wir uns aus der rationalistischen Epoche hinüberretteten, fiel dann das Wort, nun nicht von den Menschenrechten, aber von der Menschenwürde, das noch auf der Höhe jeder Kultur ausgesprochen worden ist. Es fiel vor hundert Jahren in Deutschland, als Kant sagte: ‚Der Mensch kann nicht groß genug vom Menschen denken‘. Nachdem er im weiteren Verlauf den französischen Rationalismus und den englischen Empirismus einer schonungslosen Kritik unterzieht, macht er dem Leser deutlich, wie die deutsche Philosophie im europäischen Denken einiges wieder geraderückte: Doch der Humanismus brachte auch das Missverständnis, das in der [französischen] Revolution schließlich verhängnisvoll wurde: aus der Menschenwürde wurden die Menschenrechte! Die deutsche, die preußische Aufklärung hat hinterher manche Mühe gehabt, die Linie wieder aufzunehmen, die von Luther zu Kant führt, und im Bewusstsein der Menschen wenigstens die Pflichten wiederherzustellen. Auch für den einflussreichen Staatsrechtler und politischen Philosophen Carl Schmitt setzte die deutsche Aufklärung einen Meilenstein im europäischen Denken: Den Wendepunkt bezeichnet die Philosophie des deutschen Idealismus; sie hat die wesentlichen Ideen der Identität von Natur und Geist, Politik und Moral und die Individualität der Staaten und Völker gefunden.
Angesichts dieser klaren Bekundungen zweier bedeutender Intellektueller der konservativen Revolution, täte Weiß sicherlich gut daran, seine These über eine vermeintliche Aversion rechten Gedankenguts gegenüber den Ideen der Aufklärung zu revidieren. Denn das große Missverständnis, welches in diesem Kontext immer wieder zu beobachten ist, begreift die philosophischen Strömungen der Aufklärung als einen monolithischen Block, der sich ausschließlich auf die Ideen von 1789 konzentrieren würde. Zwar bildete sich im Zuge dieser kulturhistorischen Epoche ein gemeinsamer Kerngedanke heraus, der von sämtlichen geistig-politischen Denkrichtungen dieser Zeit auch verinnerlicht und transportiert wurde: das anthropozentrische Menschenbild. Doch dieses neue Menschenbild wurde bedingt durch die kulturellen Spezifika der verschiedenen Völker Westeuropas unterschiedlich rezipiert. Gerade bei der Frage, wie das Konzept der menschlichen Selbstbestimmung auf gesellschaftspolitischer Ebene übertragen werden sollte, herrschte keineswegs Konsens. Dieses Problem wurde durch die Folgen der napoleonischen Kriege, den sozioökonomischen Verwerfungen während der Industrialisierung sowie einem übersteigerten Nationalismus, der schließlich in den Ersten Weltkrieg mündete, zusätzlich begünstigt. Diese Faktoren führten letztlich dazu, dass der eurozentrische Kerngedanke bis heute stets eine den historisch-politischen Umständen entsprechende Deutung erfuhr und im Faschismus und Nationalsozialismus seine bislang exzessivste Variante erlebte. Insofern stand für Kant, Hegel ebenso wie für Fichte und Heidegger der Mensch als autonomes Wesen im Zentrum ihrer Betrachtung. Ob und inwiefern die Denker der konservativen Revolution die Gedanken dieser Philosophen korrekt begriffen, ist an dieser Stelle unerheblich und kann kaum als Begründung herangezogen werden, ihnen eine aufklärungsfeindliche Gesinnung zu unterstellen. Dennoch hat Weiß in einem Punkt seiner historischen Einschätzung recht: die konservative Revolution begriff sich durchaus als Gegenentwurf zur französischen und angelsächsischen Lesart der Aufklärung. Diesen Anspruch jedoch erhob auch der deutsche Idealismus in gleicher Weise, womit sich die rechtskonservativen Intellektuellen damals wie heute im selben kulturphilosophischen Rahmen befinden wie ihre geistigen Ziehväter in der Traditionslinie eines Kant, Hegel oder Fichte.
Vor diesem Hintergrund lassen sich derartige Vergleiche, die eine Artverwandtschaft zwischen dem Islam und der Neuen Rechten herzustellen meinen, nicht anders deuten als der perfide Versuch, die gedanklichen Abgründe der menschlichen Selbstüberhöhung von sich zu weisen und einem anderen Kulturkreis unterzujubeln. Auch das immer wieder vorgebrachte Argument, der Islam vertrete ein konservatives Gesellschaftsmodell, welches insbesondere am traditionellen Familienbild und der Rolle der Frau zu erkennen sei, verliert bei genauerer Betrachtung jegliche Substanz. Denn der Konservatismus ist aus Sicht der politischen Philosophie im Grunde genommen genau wie der Liberalismus eine mögliche Spielart innerhalb des westlichen Ideologiespektrums. Dass er dabei auf intakte Familienstrukturen Wert legt und ein positives Verhältnis zur Religion bzw. zum Christentum unterhält, macht ihn noch lange nicht vergleichbar mit dem Islam. Denn diese Teilaspekte lassen sich in vielen Kulturgemeinschaften dieser Welt wiederfinden. Um allerdings die Äquivalenz zweier Systeme beweisen zu können, müssen vielmehr die ihnen zugrunde liegenden Kernideen untersucht werden. Während die menschliche Selbstbestimmung und die damit in Verbindung stehende Trennung von Staat und Religion als ontologische Basis sowohl für die Französische Revolution als auch für den deutschen Idealismus und die daraus resultierenden politischen Anschauungen wie die konservative Revolution und den Nationalsozialismus dienen, steht der Islam diesen weltanschaulichen Grundannahmen diametral entgegen.
Die von Weiß beschriebene autoritäre Revolte ist demzufolge weder ein kulturübergreifendes Phänomen noch umschließt sie den politischen Islam. Denn letztgenannter befindet sich tatsächlich in einer ideologischen Auseinandersetzung mit der westlichen Wertegemeinschaft, in der sich zwei unterschiedliche Weltbilder gegenüberstehen. Die Rebellion der Neuen Rechten hingegen ist unter dem Strich gesehen lediglich der alte Richtungsstreit, der über die korrekte Interpretation des eurozentrischen Kerngedankens auf ordnungspolitischer Ebene entscheiden soll.