Die Europäische Union besteht aus Nationalstaaten, denen es nicht darum geht, ihre nationale Prägung zugunsten einer europäischen Zusammengehörigkeit aufzugeben. Auch der überzeugte Europäer ist am Ende doch nur ein Deutscher, ein Franzose, ein Spanier usw., ohne seine nationale Identität vollständig aufgeben zu können. Grund dieser Verbindung ist vielmehr der Eigennutz. Staaten, die wenig bis gar nichts beitragen können und eher profitieren, lässt man draußen, es sei denn, man will sie nicht in die Arme falscher Freunde treiben und dem Einfluss der USA überlassen. So eine Gemeinschaft funktioniert so lange, bis der eine oder andere Nationalstaat keinen Nutzen mehr innerhalb der Gemeinschaft für sich sieht oder sich sogar benachteiligt fühlt. Die Europäische Union ist also nicht mehr als eine Zweckgemeinschaft, auch wenn der eine oder andere Idealist den Grund der Verbindung in irgendwelchen gemeinsamen Werten sieht, auf die ein Nationalstaat jedoch pfeift, wenn es um die Wahrung seiner Interessen geht.
Die Flüchtlingsfrage offenbart des Pudels Kern. Der Nationalismus lässt sich nicht mehr in Schach halten und treibt die Gemeinschaft mehr und mehr auseinander. Die Strategie lautet nicht, wie man die Flüchtlingsfrage gemeinsam löst, ohne Staaten wie Italien oder Griechenland zu benachteiligen, sondern wie man selbst den Kopf aus der Schlinge zieht und möglichst viele Flüchtlinge den anderen zuschanzt, wie es beispielsweise Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hartnäckig versucht, der auf nationale Maßnahmen pocht und keine europäische Lösung will. Wenn aber Deutschland nationale Maßnahmen ergreift, wird ein Staat wie Österreich natürlich dasselbe tun und Deutschland mit Sicherheit keine Rückendeckung vor Flüchtlingen geben. Dies formulierte Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), den Seehofer für seine Asylpläne gewinnen wollte – sozusagen von Rechtspopulist zu Rechtspopulist –, wie folgt: „Wir haben uns darauf verständigt, dass Deutschland keine Maßnahmen zum Nachteil von Österreich trifft.“
Nationalismus und, daraus entspringend, Rechtspopulismus sind zwar eine Gemeinsamkeit, die jedoch keine Verbindung unter Menschen herstellen kann. Seehofer war einer der Ersten, die Viktor Orbán nach dessen Wiederwahl in Ungarn gratulierten. Aus Ungarn kam dennoch die Absage, Flüchtlinge aus Deutschland zurückzunehmen. Italiens rechtspopulistischer Innenminister Matteo Salvini kündigte ebenfalls an, keine Flüchtlinge zurückzunehmen. Vielmehr wolle Italien seine Flüchtlinge loswerden. Der Kodex „einer für alle und alle für einen“ gilt für die EU-Mitgliedsstaaten in der Flüchtlingsfrage jedenfalls nicht.
Genau das ist das Dilemma der Rechtspopulisten: Sie klopfen sich gegenseitig auf die rechte Schulter und feuern sich gegenseitig an, sind aber nicht in der Lage, an einem Strang zu ziehen, weil ihr Nationalismus sie dazu treibt, ihre Interessen und nur ihre Interessen zu wahren. Kompromissbereitschaft bedeutet allenfalls, dass man sich zusammenschließt, wenn man mindestens einen Staat findet, auf den man dann alles – in diesem Fall die Flüchtlinge – abwälzen kann. So sind sich Seehofer und Kurz in einem einig: Flüchtlinge sollen in die Länder zurückgeschickt werden, in denen sie zuerst registriert wurden, solange Deutschland seine Flüchtlinge loswird und Österreich keine aufnehmen muss. Doch die Sympathie des österreichischen Rechtspopulisten für den bayerischen bekam einen Dämpfer, nachdem Seehofer sozusagen laut dachte, als er sich dahingehend äußerte, die sogenannten Transitzentren Richtung Deutschland zu schließen und nach Österreich hin zu öffnen. Dass nationale Alleingänge in der Flüchtlingsfrage nach hinten losgehen können, weiß jeder Rechtspopulist – auch ein Seehofer, der genau deshalb vorerst noch von seinen Transitzentren träumen muss.
Seehofer, Kurz, Orbán und ihresgleichen sind nur Symptome einer Idee, die die Völker trennt. Sie gehört nicht nur zu den primitivsten, sondern auch zu den gefährlichsten Ideen, die ein Mensch überhaupt vertreten kann. Über kurz oder lang wird die Idee des Nationalismus die Europäische Union zerstören. Eine Einheit unter Nationalstaaten, die nicht von Eigeninteressen geleitet wird, ist vor dem Hintergrund des Nationalismus nicht denkbar, weil sie die Menschen immer dazu antreibt, die Vorteile der eigenen Nation im Blick zu behalten und Macht anzustreben. Dass der Rechtspopulismus gerade jetzt so viel Verbreitung gefunden hat in Europa, braucht niemanden zu wundern. Der Nationalismus entbehrt einer rationalen Seite und braucht immer ein Feindbild, und mit den Flüchtlingen ist dieses Feindbild par excellence gegeben. Da spielt es keine Rolle, dass die Probleme einer Nation ganz andere Ursachen haben und lange vor Ankunft der Flüchtlinge existierten. So tragen die Flüchtlinge keine Schuld an Alters- und Kinderarmut oder am Notstand im Gesundheits- und Pflegesystem in Deutschland.
Wenn man alle Flüchtlinge ins Meer triebe, fände der Nationalismus ein anderes Feindbild. Es geht nämlich gar nicht darum, wer oder was das Feindbild ist, sondern dass überhaupt eins existiert. So richtete sich die Brexit-Kampagne in Großbritannien unter anderem gegen die dort lebenden Polen, obwohl es sich um EU-Bürger handelt. Das gemeinsame Merkmal, europäisch zu sein, reicht folglich nicht aus, um eine echte Verbindung zwischen Briten und Polen herzustellen. Der Wunsch nach einem EU-Austritt ist zudem kein rein britisches Phänomen. Dass bereits Begriffe wie Öxit, Italexit oder Frexit existieren, zeigt, dass die Idee bereits Form angenommen hat im Bewusstsein der Menschen, dass die EU keine Verbindung für die Ewigkeit ist. Der französische Präsident Emmanuel Macron gestand in einem BBC-Interview, dass die Franzosen im Falle eines Referendums wohl ebenfalls für einen EU-Austritt gestimmt hätten. Deshalb wird sich jede Regierung nach dem Ergebnis des britischen Referendums auch genau überlegen, ob sie ein Referendum zu einem EU-Austritt durchführt. Denn der einzelne Bürger kann den wahren Nutzen oder Schaden für einen Staat nicht überschauen und entscheidet nur nach seinem begrenzten Horizont und dem Einfluss der jeweiligen Propaganda.
Wenn aber Regierungen befürchten müssen, dass ihre Bürger für einen EU-Austritt stimmen könnten, dann heißt das, dass man es in all den Jahren nicht geschafft hat, eine Bindung unter den europäischen Völkern herzustellen. Wie hätte dies auch funktionieren sollen? Mit dem kapitalistischen System etwa, das den eigenen Profit und Nutzen in den Mittelpunkt stellt? Die Europäische Union hält die Verbindung der Menschen in Europa im Grunde nur künstlich aufrecht durch Abkommen und Vereinbarungen, aus denen man sie auch nicht so leicht entlässt, wie das Beispiel der Brexit-Verhandlungen zeigt. Ohne diese Abkommen hätten die europäischen Bürger kein Zusammengehörigkeitsgefühl und auch keinen Grund, sich zusammengehörig zu fühlen. In Wahrheit ist Europa nur ein Kontinent.