Der Rechtspopulismus von heute scheint auf den ersten Blick ein Erbe des Nationalsozialismus zu sein. Die Ursprünge dieses Rassismus in einer Zeit zu suchen, die nur einige Jahrzehnte zurückliegt, erfasst die Problematik nicht annähernd und erklärt auch nicht, weshalb der Rassismus so tief in der Gesellschaft verwurzelt ist. Ein paar Jahre Hitler reichen als Erklärung nicht aus, warum der Rassismus in Deutschland eine gesellschaftliche und politische Selbstverständlichkeit darstellt und Alltag ist. Man bekämpft ihn auch nicht, indem man das Dritte Reich im Geschichtsunterricht thematisiert oder Hitler-Dokumentationen im Fernsehen zeigt. Die Nationalsozialisten haben den Rassismus auch nur geerbt, und zwar von jenen, die das Denken in Europa entscheidend prägten, auf die man sich noch immer stolz beruft und die irrtümlich mit den Menschenrechten in Verbindung gebracht werden.
Nicht die Nationalsozialisten, sondern die deutschen Denker und Dichter aus dem Zeitalter der Aufklärung etablierten den Rassismus. Die Losung der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ galt, anders als man annehmen müsste, nicht für alle Menschen. Das Gleichheitspostulat der Aufklärung bezog sich nur auf den weißen Mann in Europa, während der größte Teil der Menschheit davon ausgeschlossen blieb. Vielmehr versuchten die Aufklärer, eine Ungleichheit der Menschen wissenschaftlich zu beweisen, allen voran der große Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant, der sogar als Begründer des wissenschaftlichen Rassenbegriffs gilt. Sein Vernunftbegriff muss vor dem Hintergrund seiner anthropologischen Schriften und seines daraus hervorgehenden Rassenbegriffs beurteilt werden, da seine Rassentheorie die Menschen anderer Hautfarbe als nicht vernunftbegabt klassifiziert und ihnen eine niedrigere Entwicklungsstufe zuschreibt als den Weißen. Nur deshalb existiert der Begriff Rasse, den Aufklärer wie Kant populär machten. Dieser Seite Kants wird aber wenig Beachtung geschenkt – sie wird geradezu unterschlagen –, obwohl die Konsequenz seiner Rassentheorie weitreichend ist, weil Kants Moralphilosophie in Anbetracht dessen nur für den Weißen gilt. Wenn man seine Rassentheorie berücksichtigt, wird deutlich, dass er nicht von der Gleichheit, sondern von der Ungleichheit der Menschen ausgeht. Aber noch immer unterliegt der Westen dem Selbstbetrug, Kant hätte den Grundstein für Gleichheit und Gerechtigkeit gelegt. Beispielsweise schreibt Otfried Höffe in seinem Buch „Kants Kritik der praktischen Vernunft: Eine Philosophie der Freiheit“: „Und wer den Gleichheitsgedanken in der Menschenrechtsidee schon enthalten sieht, findet bei Kant beide Aspekte, Freiheit und Gleichheit, hervorgehoben.“ Wie aber kann man bei Kant von Freiheit und Gleichheit sprechen, wenn er nur im Weißen den vollkommenen Menschen sieht? Der Westen will sich nicht eingestehen, dass seine großen Philosophen den Grundstein für den Rassismus von heute legten. Georg Wilhelm Friedrich Hegel beispielsweise gilt noch immer als Verfechter der Gleichberechtigung, obwohl er den Weißen für überlegen hält, während er sich über den Schwarzen nur abfällig äußert, an dem er nichts Menschliches feststellen kann. Afrika beschreibt Hegel als „Kinderland, das jenseits des Tages der selbstbewussten Geschichten in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt ist“. Genau wie Kant geht es ihm nicht nur darum, wissenschaftlich zu belegen, dass es unterschiedliche Rassen gibt, sondern dass eine Rangordnung, d. h. eine Ungleichheit, zwischen Rassen existiert. Die Idee von der Gleichheit aller Menschen hat in der Aufklärung nie existiert.
So, wie die Aufklärung ein kulturelles Erbe Europas ist, ist es auch der Rassismus, der von der Aufklärung nicht getrennt betrachtet werden kann. Er bildet mit ihr eine feste Einheit, denn die Aufklärung hat ein Überlegenheitsgefühl im Europäer geweckt und ihn gelehrt, auf andere Völker mit Verachtung herabzublicken und sie zu beherrschen. Mit dem Ausschluss nicht europäischer Völker von dem Freiheits- und Gleichheitspostulat und sogar vom Menschsein spielte die Aufklärung sie dem Kolonialismus geradezu in die Arme. Man kann sogar behaupten, dass das Rassenkonzept der Aufklärer zu genau diesem Zweck entstanden ist, nämlich andere Menschen zu diskriminieren und ihre Unterdrückung und Ausbeutung sowie ihre Ausrottung zu legitimieren.
Niemand kann bestreiten, dass unterschiedliche Völker äußerliche Unterschiede aufweisen. Völker können sich durch ihre Hautfarbe, ihre Augenform, ihre Haarstruktur, ihre Gesichtszüge und andere physische Merkmale unterscheiden. An der Feststellung, dass es diese Unterschiede gibt, ist nichts verwerflich, solange diese wertfrei bleibt. Problematisch wird es erst, wenn man auf dieser Grundlage von unterschiedlichen Menschenrassen spricht, obwohl in der Realität keine Rassen, sondern Völker existieren. Unterschiedliche Menschenrassen nach dem Vorbild der Unterscheidung von Tierarten und Unterarten gibt es nicht; sie sind eine reine Konstruktion. Es macht deshalb einen gewaltigen Unterschied, ob man von Rasse oder Volk spricht. Der Begriff Volk ist wertfrei und beschreibt die Realität, während der Begriff Rasse eine Wertigkeit unter den Menschen widergibt, weil die äußeren Merkmale mit bestimmten Eigenschaften kombiniert werden, so dass beispielweise eine dunkle Hautfarbe mit geringer Intelligenz verknüpft wird. Der französische Philosoph Voltaire, der als einflussreichster Aufklärer gilt, schreibt 1755 in seinem Essay „Über den Geist und die Sitten der Nationen“: „Die Rasse der Neger ist eine von der unsrigen völlig verschiedene Menschenart. Man kann sagen, dass ihre Intelligenz nicht einfach anders geartet ist als die unsrige, sie ist ihr weit unterlegen.“ Auch Kant hält Dummheit für bewiesen, wenn jemand „vom Kopf bis auf die Füße ganz schwarz“ ist. Die eigentlich irrelevanten körperlichen Unterschiede der Menschen spielen bei Rassentheoretikern eine zentrale Rolle, weil sie ihnen willkürlich kognitive, moralische und andere Merkmale zuschreiben können. Genau darum geht es bei der Einteilung der Menschen in Rassen: eine Hierarchie zu schaffen, die vom weißen Europäer angeführt wird, während der Rest in Abstufungen kognitiv, kulturell und zivilisatorisch minderwertig und zurückgeblieben dasteht und infolgedessen unterworfen werden kann.
Die wesentliche Frage muss lauten, wie und durch wen das Rassenkonzept und die daran geknüpfte Vorstellung einer Hierarchie unter den Menschen aufgrund körperlicher Unterschiede populär wurden, warum der Rassismus sich durchsetzen konnte und wieso seine Vertreter bis heute nicht hinterfragt und kritisiert werden. Nur so lässt sich beantworten, wieso der Rassismus noch heute Teil einer Gesellschaft ist, die sich für modern und aufgeklärt hält. Selbst jene, die sich nicht für Rassisten halten, tragen mehr Rassismus in sich, als ihnen bewusst ist. Auch bei Kritikern des Rassismus fehlen eine echte Reflexion und ein Eingeständnis, dass die Wurzeln in der Aufklärung liegen. Die Suche nach den Ursachen endet bei ihnen immer beim Nationalsozialismus.
Die Verbreitung des Rassenkonzepts erfolgte durch namhafte Personen, die man nicht mit Rassismus in Verbindung sehen will und auch nicht auf Anhieb damit assoziiert, obwohl sie aktiv daran beteiligt waren, den rassistischen Blick auf die Welt zu verbreiten und zu festigen. So bemerkt Friedrich Schiller bei seiner Antrittsrede als Geschichtsprofessor in Jena im Jahr 1789: „Die Entdeckungen, welche unsere europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein eben so lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herum stehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist.“ Aus Schillers Perspektive haben nichteuropäische Völker den Entwicklungsstand von Kindern und sind damit unmündig – eine Meinung, die er mit vielen seiner Zeitgenossen teilt. Implizit heißt das, dass andere Völker bevormundet werden können vom bereits „erwachsenen“ Europäer, da er ihnen an Bildung und Fortschritt weit voraus ist. Schiller thematisiert nicht nur den vermeintlich niedrigen Bildungsstand nichteuropäischer Völker, sondern auch die scheinbar fehlende zivilisatorische Entwicklung. In seiner Antrittsrede heißt es: „Was erzählen uns die Reiseschreiber nun von diesen Wilden? Manche fanden sie ohne Bekanntschaft mit den unentbehrlichsten Künsten, ohne das Eisen, ohne den Pflug, einige sogar ohne den Besitz des Feuers. Manche rangen noch mit wilden Thieren um Speise und Wohnung, bei vielen hatte sich die Sprache noch kaum von thierischen Tönen zu verständlichen Zeichen erhoben.“ Der Ausdruck Mensch taucht hier bei Schiller in Zusammenhang mit anderen Völkern nicht auf. Er beschreibt sie als Wilde, die von Tieren kaum zu unterscheiden sind, weder in ihrer Sprache noch in ihrem Verhalten. Schiller entmenschlicht sie völlig, wenn er behauptet, dass sie „mit wilden Thieren um Speise und Wohnung“ konkurrierten, als die europäischen Seefahrer auf sie trafen. Zudem spricht Schiller diesen Wilden, wie er sie nennt, jedes Moralverhalten ab, weil sie, wie er meint, „nicht einmal das so einfache Band der Ehe“ kennen. In seiner Darstellung besitzen Sie außerdem nicht genug Intelligenz, um aus ihren Erfahrungen zu lernen. Schiller sagt hierzu: „[…] hier konnte die schlaffe Seele noch nicht einmal eine Erfahrung festhalten, die sie doch täglich wiederholte […].“ Fassen wir die Punkte zusammen, die Schiller erwähnt, dann sind nichteuropäische Menschen Wilde, d. h. unzivilisiert, ungebildet, unmündig und ohne Moral und Intelligenz. Sie sind zu Bildung und Fortschritt nicht fähig und gleichen eher den Tieren als den Menschen. Diese Darstellung Schillers passt zu der verbreiteten Vorstellung, dass der Affe das höchststehende Tier sei und deshalb in der Hierarchie der Rassen in nächster Nähe zur niedrigsten Menschenrasse, d. h. zum Schwarzen, stehe. Wer aber würde Schiller als Rassisten bezeichnen und ihn für sein rassistisches Menschenbild kritisieren wollen, wo er doch zu den großen deutschen Dichtern gehört und seine theoretischen Schriften ebenso zum kulturellen Erbe Deutschlands zählen wie seine Dichtung?
Wulf D. Hund, Soziologieprofessor und Verfasser des Buches „Wie die Deutschen Weiß wurden“ spricht von Rassismus als kulturellem Code, an dem Dichter, Musiker und Philosophen beteiligt sind. Hund konstatiert: „Die Vorstellung, dass Rassismus eine Veranstaltung mehr oder weniger intellektuell zurückgebliebener Dummbeutel ist, die Vorstellung ist falsch. Rassismus hätte sich gar nicht zu dem entwickeln können, was es nicht nur heute ist, sondern früher schon war, wenn nicht die führenden Köpfe der jeweiligen Epoche daran mitgearbeitet hätten.“ Es sind vor allem Intellektuelle, die damals wie heute dafür sorgen, dass der Rassismus auch für kommende Generationen erhalten bleibt. Anders ausgedrückt, ist der Rassismus in Deutschland ein Kulturgut, das von Epoche zu Epoche und von Generation zu Generation weitergegeben wird. Der Rassenbegriff ist nämlich keine isolierte Idee, sondern hängt mit dem ganzen Konzept der Aufklärung zusammen.