In einer Zeit, wo die Welt unterjocht wurde von menschengemachten Systemen – Systemen, welche an allen Ecken und Enden Unruhe stiften – kann das Verlangen unter den Menschen nach einer Veränderung eine große Chance, aber auch eine gefährliche Macht darstellen. Eine große Chance deswegen, da diejenigen, die die göttliche Führung zur Grundlage ihres Denkens und Handelns erhoben haben, ihre Botschaft an ein Volk weitergeben können, dass nach einer besseren Lösung sucht. Eine gefährliche Macht, da während turbulenter Zeiten der Kompromiss mit den Autoritäten oder mit denen, die nach einer Änderung streben, als attraktiverer und kürzerer Pfad erscheint. Die Gefahr kann jedoch durch diejenigen abgewandt werden, die von ihrem Weg überzeugt sind und verstanden haben, was sie wirklich wollen und was eine Veränderung verlangt.
Der Islam basiert in seinem absoluten Fundament auf der vollständigen Überzeugung von der Existenz des Schöpfers dieses Universums und davon, dass Seine (t) finale Botschaft an die Menschheit, der Koran, dem Propheten Muḥammad (s) offenbart wurde. Als natürliche Folge dieses Fundaments ist Allahs (t) Urteil in Hinblick auf jede Angelegenheit das beste und einzige, welches würdig wäre umgesetzt zu werden. Ansonsten wäre der reine Glaube an Allah (t) als Schöpfer eine bedeutungslose Phrase, die keiner Implementierung im Leben bedarf.
Der Vers 49 in der Sure al-Māʾida ist einer von vielen Versen, die hervorheben, dass die Urteilsfindung oder das Beurteilen an sich auf der Grundlage dessen zu beruhen hat, was Allah (t) offenbarte. Der Vers warnt unter anderem vor den Menschen, die versuchten den Propheten (s) und seine Gefährten von Allahs (t) Herrschaft hinweg in die Irre zu leiten.
So sagt Allāh (t):
﴿وَأَنِ احْكُم بَيْنَهُم بِمَا أَنزَلَ اللَّهُ وَلَا تَتَّبِعْ أَهْوَاءَهُمْ وَاحْذَرْهُمْ أَن يَفْتِنُوكَ عَن بَعْضِ مَا أَنزَلَ اللَّهُ إِلَيْكَ ۖ فَإِن تَوَلَّوْا فَاعْلَمْ أَنَّمَا يُرِيدُ اللَّهُ أَن يُصِيبَهُم بِبَعْضِ ذُنُوبِهِمْ ۗ وَإِنَّ كَثِيرًا مِّنَ النَّاسِ لَفَاسِقُونَ﴾
Und so richte zwischen ihnen nach dem, was Allāh (als Offenbarung) herabgesandt hat, und folge nicht ihren Neigungen, sondern sieh dich vor ihnen vor, dass sie dich nicht der Versuchung aussetzen (abzuweichen) von einem Teil dessen, was Allāh zu dir (als Offenbarung) herabgesandt hat! Doch wenn sie sich abkehren, so wisse, dass Allāh sie für einen Teil ihrer Sünden treffen will. Viele von den Menschen sind fürwahr Frevler.[5:49]
Die tafsīr-Bücher berichten, dass dieser Vers offenbart wurde als Kaʿb bin Asʿad, Ibn Ṣālūbā, ʿAbdullāh bin Ṣūriyā und Šaʿs bin Qais einander sagten: „Lasst uns zu Muḥammad gehen und versuchen ihn von seiner Religion weg zu leiten.“ So gingen sie zum Propheten (s) und sagten: „O Muḥammad! Sicherlich weißt du, dass wir die Gelehrten, die Adligen und die Oberhäupter der Juden sind. Sollten wir dir folgen, so werden die Juden es uns gleichtun ohne uns zu widersprechen. Jedoch gibt es Feindschaft zwischen uns und einigen unserer Leute, so wenden wir uns an dich zur Urteilsfindung in dieser Angelegenheit. Richtest du nun zu unserem Vorteil und gegen sie, so werden wir an dich glauben.“ Der Gesandte Allahs (s) schlug dieses Angebot ab und Allah (t) offenbarte den oben genannten Vers.
Obwohl dieser Vers anlässlich dieses spezifischen Vorfalls offenbart wurde, ist dieser gemäß dem berühmten Rechtsprinzip al-ʿibratu bi-ʿumūmi l-lafẓi lā bi-ḫuṣūṣi s-sabab („Maßgeblich ist der allgemeine Wortlaut und nicht der besondere Offenbarungsanlass.“) jederzeit und zu jeder Situation anwendbar.
Der folgende Vers führt weiter an:
﴿أَفَحُكْمَ الْجَاهِلِيَّةِ يَبْغُونَ ۚ وَمَنْ أَحْسَنُ مِنَ اللَّهِ حُكْمًا لِّقَوْمٍ يُوقِنُونَ﴾
Begehren sie etwa das Urteil der Unwissenheit? Wer kann denn besser walten als Allāh für Leute, die (in ihrem Glauben) überzeugt sind?[5:50]
Ibn Kaṯīr kommentiert das in seinem tafsīr wie folgt:
„Allah (t) kritisiert diejenigen, die die Gebote Allahs (t), die jede gute und rechtschaffene Sache beinhalten und alles Boshafte und Schlechte verbieten, ignorieren und sich lieber auf Meinungen, Wünsche und Sitten beziehen, welche der Mensch sich selber ersinnt hat ohne, dass auch nur etwas davon eine Grundlage in Allahs (t) Offenbarung hat. Während der Zeit der ǧāhilīya verweilten die Leute in Fehlleitung und Ignoranz, welche aus purer Lust und Eigensinn resultierte. Die Tataren (Mongolen) hielten an ihrem Gesetz, das sie von ihrem König Dschingis Khan erbten – der das sogenannte Jassa für sie schrieb – fest. Dieses Buch beinhaltet Gesetze, die von verschiedenen Religionen wie dem Judentum, dem Christentum und dem Islam abgeleitet sind. Viele dieser entspringen zudem seiner eigenen Sichtweise und seinen eigenen Wünschen. Im weiteren Verlauf der Geschichte wurden diese Regularien Dschingis Khans zum Gesetz unter seinen Kindern, welches sie gar den Gesetzen aus dem Buche Allahs (t) und der Sunna des Propheten (s) vorzogen. Wer ist gerechter in der Urteilsfindung als Allah (t) für diejenigen, die Allahs (t) Gesetz verstehen, von Seiner (t) Existenz überzeugt sind, welche keinen Zweifel daran haben, dass Allah (t) der Beste unter denen ist, die Entscheidungen fällen und dass Er (t) barmherziger zu seiner Schöpfung ist, als eine Mutter zu ihrem eigenen Kind? Allah (t) weiß über alles vollumfänglich Bescheid. Er ist dazu in der Lage, alles zu tun und ist gerecht in jederlei Hinblick.“
Ibn Kaṯīr setzt den Vers in Relation zu verschiedenen Epochen; zur Zeit vor und während des Prophetentums Muḥammads (s). Auch zieht er Beispiele aus der Epoche der Mongolenherrschaft heran.
Sayyid Quṭb kommentiert diese Verse in seinem Werk „Im Schatten des Korans“ („Fī ẓilāl al-Qurʾān“) und hebt den Zusammenhang zwischen der Implementierung der Gesetze Allāhs (t) und der Überzeugung (īmān) hervor:
„Gott – der grenzenlos ist in seiner Herrlichkeit – sagt, dass diese ganze Angelegenheit eine Sache des Glaubens oder des Unglaubens ist, eine Frage von Islam oder nicht Islam, göttlicher Gesetzgebung oder menschlicher Befangenheit. Zwischen diesen beiden Wertesystemen kann es zu keinem Kompromiss oder keiner Annäherung kommen. Diejenigen, die nun auf Grundlage der Gesetzgebung Gottes urteilen, alle ihre Einzelheiten durchsetzen und nichts davon substituieren, sind wahrlich die Gläubigen. Im Gegenzug dazu, sprechen sich jene, die nicht auf Grundlage dessen richten, was Gott an Gesetzen herabgesandt hat, dem Unglauben, der Irreleitung und der Überschreitung zu. Regenten sind dazu in der Lage entweder Gottes Gesetze im Absoluten zu implementieren – womit sie im Bereich des Glaubens verweilen – oder andere Gesetze zu vollstrecken. Im Letzteren trifft der Unglaube, die Irreleitung und die Überschreitung auf sie zu. Wenn die Menschen die Herrschaft Gottes und seinen Vollzug, ausgeführt von Regenten, akzeptieren, so sind sie Gläubige. Andersherum sind sie es nicht. Es gibt weder Mittelweg zwischen ihnen (dem Glauben und Unglauben), noch kann behauptet werden, dass eine Rechtfertigung oder ein legitimer Anspruch eine Annäherung begründet. Gott, der Herr der Menschheit, weiß wohl, was den Interessen der Menschen am besten zu Gute kommt und hat dementsprechend seine Gesetzgebung erlassen. Kein Gesetz oder Herrschaftssystem ist Seinem überlegen. Kein Diener Gottes darf jemals Gottes Gesetzgebung ablehnen oder behaupten, er habe bessere Kenntnisse als Gott im Hinblick auf das, was den Interessen der Menschen am besten dient. Sollte er dies jedoch von sich behaupten, sei es durch Wort oder Tat, so offenbart er sich selbst als Ungläubiger. […] Die andere Erwägung in dieser ganzen Angelegenheit ist das Faktum, dass Gottes Gesetze zwangsläufig und absolut besser sind als jedes menschengemachte Gesetz. Genau auf diesen Fakt bezieht sich die letzte Passage dieses Verses:
﴿﴾
Wer kann denn besser walten als Allah für Leute, die (in ihrem Glauben) überzeugt sind?[5:50]
Dieser Vers ist eine beachtliche Quelle der Darstellung und Richtungsvorgabe während dieser unserer Zeiten. Während das Bedürfnis nach Veränderung momentan ansteigt, müssen die Muslime jeder Versuchung und Entschuldigung widerstehen, den Aufruf zu der Implementierung von Allahs (t) dīn zu untergraben oder sich von ihm loszusagen. Keine Rechtfertigung kann sich gegenüber dieser klaren Instruktion, die Allah (t) uns durch diesen Vers gibt, halten. Sei es um jene Entschuldigungen, die man unter dem Deckmantel des „Vereinigens der Leute“ benutzt, der internationalen Unterstützung oder der Furcht, dass die Weltmächte vereint gegen die Umma agieren würden. Nichts rechtfertigt ein Vorgehen gegen die aḥkām von Allah (t) – egal in welcher Form.
Sayyid Quṭb führt weiter an:
„Es ist eine falsche Annahme, die Menschen auf Kosten der Gesetzgebung Gottes vereinen zu können. Diese Herangehensweise ist nichts Anderes als zum Scheitern verurteilt. Der dafür zu zahlende Preis ist viel zu gewaltig; denn jede Modifikation an Gottes Gesetzen führt zu Korruption auf Erden, zu Unrecht und zur Unterwürfigkeit einiger gegenüber anderen. Das ist wahrlich ein großes Übel. Wenn kein Kompromiss in Gottes Gesetzgebung zulässig ist um das noble Ziel der Vereinigung der Menschen zu erreichen, wie kann es dann für etwas Belangloseres gerechtfertigt sein? Einige von denen, die sich als Muslime ausgeben, argumentieren gar, dass Gottes Gesetzgebung nicht implementiert werden dürfe um der Tourismusbranche keinen Schaden zuzufügen!
Es sind entweder Gottes Gesetze oder menschengemachte Gesetze. Zweiteres basiert auf inadäquatem Wissen und törichtem Verlangen. Es gibt keinen gemeinsamen Nenner zwischen ihnen.
﴿﴾
Begehren sie etwa das Urteil der Unwissenheit? Wer kann denn besser walten als Allāh für Leute, die (in ihrem Glauben) überzeugt sind?‘[5:50]
Diese Aussage definiert die Bedeutung von ǧāhilīya, die hier im koranischen Text wiedergegeben ist als „(Urteil der) Unwissenheit“. Unwissenheit (ǧāhilīya) bedeutet, dass Menschen von Menschen regiert werden; denn das signalisiert unter anderem, dass sie einander unterwerfen. Sie weigern sich, sich Gott alleine zu unterwerfen und lehnen Seine Göttlichkeit ab, während sie aber anerkennen, dass einige Menschen göttliche Eigenschaften besitzen, woraufhin sie sich ihnen unterwerfen. Somit bezieht sich der Ausdruck „Unwissenheit“ (ǧāhilīya) nicht auf eine bestimmte Zeitperiode, sondern auf eine bestimmte Situation, die jederzeit eintreffen könnte. Wann auch immer diese vorkommt, muss sie als ǧāhilīya auch erkenntlich gemacht werden, welche im absoluten Kontrast zum Islam steht.
Was kann jener sagen, der Gottes Gesetzgebung beiseitelegt und es durch die Gesetze der ǧāhilīya substituiert, womit er seine eigenen Gelüste oder jene einer bestimmten Gruppierung oder Generation über die Gesetze Gottes stellt? Wie könnte er rechtfertigen, dass er von sich behauptet Muslim zu sein? Was ist seine Rechtfertigung: seine Umstände? Bestimmte Ereignisse? Die Verdrossenheit anderer? Oder ist es etwa die Angst vor dem Feind? Waren all diese Dinge Gott nicht bewusst, als Er den Muslimen befahl Seine Gesetzgebung zu implementieren, Seiner (vorgegebenen) Lebensweise Folge zu leisten und sich niemals von Seinen Offenbarungen abzuwenden? Oder rechtfertigt er seine Einstellung indem er behauptet, Gottes Gesetzgebung würde für neue Situationen und Umstände nicht greifen? Waren diese Situationen und Umstände Gott etwa nicht bewusst als Er uns diese ernste Warnung offenbarte?“
Die Möglichkeit, die sich zurzeit aus dem Wanken der Weltordnung für die Umma ergibt, muss durch die Instruktionen dieses Verses ergriffen werden. Sollten wir, aus welchem Grund auch immer, davon zurückschrecken zur islamischen Herrschaft aufzurufen oder dafür tätig zu werden, so verlieren wir beides: einerseits die ākhira und andererseits die Gerechtigkeit und Harmonie in dieser Welt, welche sich aus der Implementierung des Regierungssystems unseres Schöpfers von Natur aus ergibt. Der Prophet (s) ist fürwahr unser bestes und größtes Beispiel für die Standhaftigkeit beim Festhalten an der gottgegebenen Richtung, da er trotz der verführerischen Angebote der Machthabenden, trotz der Kritik durch Familienmitglieder und der weiten Gesellschaft und trotz des Terrors, der Einschüchterung und der Verfolgung durch seine Feinde, seine Position konsequent und tapfer hielt. Wahrlich, nichts von all dem bereitete ihm (s) Sorgen, als er die reine und göttliche Botschaft, die die Menschheit letztendlich zum Aufschwung führte, beschützen musste.