Der kapitalistische Mensch steht angesichts der Corona-Krise vor einer völlig neuen Situation, die ihn zu einer tiefgreifenden Entscheidung zwingt: Er muss zwischen seiner Freiheit und seiner Gesundheit wählen. Obwohl es um Leben und Tod geht, zögert und zweifelt er, denn immerhin steht sein Heiligstes auf dem Spiel, die Freiheit, deren Konzept sich bei einer Pandemie als vernichtend und tödlich erweist. Die Frage, der sich der kapitalistische Mensch stellen muss, lautet daher: Soll man die Idee der Freiheit oder aber den Menschen opfern? Dass man eine Wahl treffen muss, legt offen, dass der Freiheitsbegriff, mit dem der Kapitalismus den Menschen infiziert hat, falsch ist. Er stellt eine ernsthafte Gefahr dar, und zwar unabhängig von der Corona-Krise. Die Corona-Krise hat das Problem mit der Freiheit lediglich sichtbarer gemacht. Es war aber schon immer vorhanden und ging bislang unter.
Wenn Nutzen und Profit der einzige Handlungsmaßstab sind, steht ein Staat einer Gesellschaft gegenüber, die aus losen Individuen besteht, die dem Grundsatz des Eigeninteresses folgen, und zwar ohne Rücksicht auf das Wohl anderer. Nach genau diesem Prinzip erzieht ein kapitalistischer Staat seine Bürger, und es geht so lange „gut“, solange normale Bedingungen herrschen und es nur die üblichen Gewinner und Verlierer des Kapitalismus gibt. Die gewohnten Opfer des Kapitalismus sind für den Staat und die Wirtschaft tragbar. Die Aufgabe des kapitalistischen Staates besteht daher einzig darin, die Freiheit des Individuums zu gewährleisten.
Sobald aber eine außergewöhnliche Situation wie die Corona-Krise eintritt, stellen sich der kapitalistische Handlungsmaßstab, die Erziehung zur Freiheit und der daraus resultierende Individualismus und Egoismus der Bürger als ein gewaltiges Problem für den Staat heraus. Denn seine Bürger sind freiheitlich verzogen und trotz der hohen Infektionsgefahr nicht gewillt, auf ihre Freiheit zu verzichten. Der kapitalistische Staat steht also vor der Entscheidung, entweder dem kapitalistisch-säkularen Anspruch seiner Bürger auf Freiheit nachzugeben und zuzusehen, wie sich der Mensch selbst schadet, oder die Freiheit massiv einzuschränken, um die lebensbedrohliche Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen und den freiheitstrunkenen Menschen vor sich selbst zu schützen.
Weltweit mussten die kapitalistischen Regierungen inzwischen einsehen, dass die Aufrechterhaltung der Freiheit des Einzelnen einem Todesurteil gleichkommt und deshalb ein radikaler Freiheitsentzug erfolgen musste. Da hilft es auch nicht, etwas in die Idee der Freiheit hineinzuinterpretieren, was nicht Teil des Freiheitsverständnisses ist, um darüber hinwegzutäuschen, dass man dem Menschen seine Freiheit entziehen muss. So sagte Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU): „Freiheit bedeutet auch Rücksichtnahme und Verantwortung.“ Kai Klose (Grüne), der hessische Gesundheitsminister, meinte sogar: „Individuelle Freiheit gibt es nicht ohne individuelle Verantwortung.“ Plötzlich soll Freiheit Verantwortung bedeuten, weil Politiker nicht offen zugeben wollen, dass die Freiheit schädlich für die Gesellschaft ist und zum Überleben eingeschränkt werden muss. Selbst der sonst uneinsichtige und faktenresistente US-amerikanische Präsident Donald Trump musste einsehen, dass die Freiheit beschränkt werden muss.
Der Staatstheoretiker und Philosoph Thomas Hobbes beschrieb den Menschen mit „Homo homini lupus“. Das heißt, der Mensch ist des Menschen Wolf. Hobbes sah im Menschen einen Egoisten, dessen Streben vom eigenen Vorteil bestimmt sei. Er sei auf den Erhalt seiner Existenz und den materiellen Besitz aus und folge damit seinem Selbsterhaltungsinstinkt. Weil jeder Mensch nach diesem Prinzip handle und nur seine eigene Bedürfnisbefriedigung im Sinn habe, bedeute das, dass der Naturzustand des Menschen aufgrund der Interessenkonflikte ein „Krieg aller gegen alle“ sei – ein sehr anstrengender und unerwünschter Zustand. Denn jeder hätte die Freiheit, alles für den Erhalt seines Lebens und seines Besitzes zu tun. Die Menschen würden sich vor allem um die Dinge bekriegen, die nicht allen gleichermaßen zur Verfügung stünden. Hobbes zufolge befinde sich der Mensch so lange in diesem Zustand, solange es keine Gesetze gebe, die das Zusammenleben regeln. An dieser Stelle kommen bei ihm die Naturgesetze ins Spiel, weil alle einen Nutzen hätten, wenn das Kollektiv bestimmte Regeln einhalte. Dennoch halte sich niemand langfristig an die Naturgesetze, da der Einzelne nur kurzfristig an seine eigene Existenzsicherung denke. Aber mit dem Bedürfnis, den Krieg aller gegen alle zu beenden und die Selbsterhaltung langfristig zu sichern, komme die Erkenntnis des Einzelnen, seine Naturrechte und seine Freiheit an eine übergeordnete Autorität abzutreten und einen hypothetischen Vertrag abzuschließen. Diese Autorität, der Staat, solle die Einhaltung der Naturgesetze garantieren. Ein solcher Staat, auch wenn er in der Theorie ein starker und schützender Staat sei, sei darauf angewiesen, dass die Menschen ihre Naturrechte an ihn abtreten und auf ihren Staat vertrauen.
Dieses Vertrauen zwischen Staat und Bürger und die Identifikation der Bürger mit ihrem Staat sind in der Realität nicht vorhanden. Wer die kapitalistischen Staaten und ihre Bürger vor dem Hintergrund der Corona-Krise beobachtet, stellt fest, dass Staat und Bürger auch gegeneinander agieren. Die Bürger sind teilweise uneinsichtig, wenn es um die Einschränkung ihrer Freiheiten geht – auch wenn dies ausschließlich ihrem Schutz dient –, und legen nicht immer Eigenverantwortung an den Tag. Staatliche Empfehlungen werden nicht selten ignoriert, weil Profit und Nutzen das Handeln bestimmen, so dass die Bürger nicht einmal auf das Unnötigste verzichten wollen, etwa auf Restaurant- und Cafébesuche oder Freizeitvergnügungen im Freien. Trotz der allen bereits bekannten Bedrohung haben viele noch ihren Urlaub angetreten und sich und andere angesteckt oder eine Ansteckung und Verbreitung mutwillig in Kauf genommen. Beispielhaft hierfür ist der Skiort Ischgl in Tirol mit seiner Après-Ski-Bar „Kitzloch“, die trotz erkrankter Mitarbeiter den Betrieb aufrechthielt, weil der Wirt nicht auf den Profit verzichten wollte. Damit wurde die Bar zum Infektions-Hotspot, und das Corona-Virus konnte sich mit den infizierten Urlaubern über Europa verbreiten. Auf die Einsicht seiner Bürger kann ein kapitalistischer Staat folglich nicht hoffen, so dass er gezwungen ist, von der Empfehlung zum Verbot und zur Strafandrohung überzugehen. Das ruft wiederum den Unmut der Bürger hervor. Das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern kommt im Grunde einem Tauziehen gleich, weil eine Identifikation der Bürger mit ihrem Staat weitgehend fehlt. So empfinden viele die staatlichen Maßnahmen als Beschneidung ihrer Grundrechte. Ein solches Verhältnis zwischen Staat und Bürger vertieft die Krise, und der Staat muss weit mehr Kapazitäten aufbringen, um die Krise unter Kontrolle zu bringen. Wenn die Bürger sich nicht an die staatlichen Anweisungen halten, müssen Polizei und Ordnungsamt vermehrt gegen Verstöße vorgehen. Der staatliche Kraftakt, das Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten, steigt nämlich enorm, wenn sich die Bürger nicht an die Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote halten und leichtfertig anstecken. Der Grund für dieses Verhalten liegt in den Ideen und Werten, die den Menschen seit ihrer Kindheit vermittelt werden. Ein kapitalistischer Staat trägt somit nichts dazu bei, dass seine Bürger sich mit ihm identifizieren und auf ihn vertrauen.
Viele sehen inzwischen in der Corona-Krise eine Gefährdung der Demokratie. Sie blenden jedoch aus, dass die Gefährdung der Demokratie mit ihren Freiheiten darin begründet liegt, dass die Demokratie zur Bewältigung des Pandemieproblems keine Lösung bietet und man nicht auf sie zurückgreifen kann, ohne Menschen zu opfern. Die kapitalistischen Staaten haben im Grunde gar keine andere Wahl, als all ihre demokratischen Konzepte und Werte zu ignorieren und einen anderen politischen Weg einzuschlagen, der jenseits ihres Demokratieverständnisses verläuft, um die Krise zu bewältigen. Ausgangsperren, Kontakt- und Versammlungsverbote, die Einschränkung der Religionsfreiheit und Ähnliches prägen derzeit die demokratischen Staaten. Diese Tatsache sollte zu denken geben: Inwieweit ist die Demokratie grundsätzlich geeignet, die Probleme der Menschen zu lösen, wenn sie nicht auf alle Lebenslagen anwendbar ist und sich in der Krise als nutzlos und sogar gefährlich herausstellt?
Der Islam zieht sowohl den Staat als auch das einzelne Individuum in die Pflicht. Der islamische Staat muss Maßnahmen treffen, um seine Bürger im Falle einer Epidemie zu schützen. Seine Ausgangssituation hierzu ist jedoch eine ganz andere als die eines kapitalistischen Staates, weil die Aufgabe des Kalifen als Staatsoberhaupt grundsätzlich darin besteht, die Angelegenheiten seiner Bürger wahrzunehmen. Bricht eine Epidemie aus, steht das Kalifat beispielsweise nicht vor einem maroden Gesundheitssystem, bei dem es an allem fehlt. Denn der islamische Staat ist dazu verpflichtet, für die medizinische Versorgung seiner Bürger aufzukommen. Ihre medizinische Versorgung und der Zugang dazu hängen nicht von irgendeiner Krankenversicherung und wirtschaftlichen Faktoren ab. Im kapitalistischen Staat ist ein Krankenhaus ein Unternehmen, das rein wirtschaftlich arbeitet und von Kürzungen und Einsparungen geprägt ist, im islamischen Staat nicht. Der islamische Staat darf sich wirtschaftlich auch nicht von anderen Staaten abhängig machen, indem er die Produktion in andere Länder verlagert, um billiger produzieren zu können, so dass er gar nicht erst in die Situation kommt, dass im Falle einer Pandemie Mundschutz oder Desinfektionsmittel fehlen. Das Kalifat ist eine Staatsform, die die islamische Vorgabe hat, politisch und wirtschaftlich unabhängig zu sein. Wie wichtig das ist, zeigt sich am Beispiel Deutschlands, das nicht einmal in der Lage ist, seine Landwirtschaft aufrechtzuerhalten, ohne Erntehelfer aus dem Ausland einzufliegen. Ohne die Hilfe von außen wäre angesichts der Corona-Krise die Lebensmittelversorgung in Deutschland ernsthaft gefährdet. Der islamische Staat muss – ob unter Normalbedingungen oder in Krisenzeiten – immer darauf bedacht sein, seine Bürger eigenständig versorgen zu können. Das islamische Wirtschaftssystem baut nicht darauf auf, das Bruttoinlandsprodukt zu steigern und den Gewinn zu maximieren. Denn Zahlen sagen nichts darüber aus, ob jeder ausreichend versorgt ist. Im islamischen Wirtschaftssystem geht es im Kern um die Verteilung. Der Kalif wird für jede Nachlässigkeit nicht nur von Allah (t) zur Rechenschaft gezogen, sondern es ist auch die Pflicht der Muslime, ihn zur Rechenschaft zu ziehen und sich notfalls an das maẓālim-Gericht zu wenden, das für das Fehlverhalten Regierender zuständig ist.
Hinzu kommt, dass auch das einzelne Individuum rechenschaftspflichtig vor Allah (t) ist. Wenn der Kalif Maßnahmen anordnet, um eine Epidemie einzudämmen, indem er den Menschen verbietet, ihre Häuser zu verlassen, so haben die Muslime die islamische Pflicht, sich an diese Anweisung zu halten. Denn sie sind dem Kalifen gegenüber zu Gehorsam verpflichtet, was dem Gehorsam gegenüber Allah (t) gleichkommt. Im Koran heißt es:
﴿يَا أَيُّهَا الَّذِينَ آمَنُوا أَطِيعُوا اللَّهَ وَأَطِيعُوا الرَّسُولَ وَأُولِي الْأَمْرِ مِنكُمْ﴾
„Ihr, die ihr glaubt! Gehorcht Allah und gehorcht dem Gesandten und denjenigen, die unter euch die Befehlsgewalt innehaben.“[4:59]
Nicht die Angst vor staatlichen Sanktionen veranlasst die Muslime dazu, sich an die Maßnahmen zu halten, sondern die Gottesfurcht und das Wissen, dass der Staat die islamischen Gesetze anwendet und im Sinne seiner Bürger handelt. Muslime müssen bei einer Epidemie aber nicht erst darauf warten, bis der Staat Verbote ausspricht. Bei al-Buḫārī ist folgender Hadith überliefert: ʿĀʾiša (r) berichtete: Ich erkundigte mich beim Gesandten Allahs (s) über die Pest, und er teilte mir mit
«أَنَّهُ عَذَابٌ يَبْعَثُهُ اللَّهُ عَلَى مَنْ يَشَاءُ وَأَنَّ اللَّهَ جَعَلَهُ رَحْمَةً لِلْمُؤْمِنِينَ لَيْسَ مِنْ أَحَدٍ يَقَعُ الطَّاعُونُ فَيَمْكُثُ فِي بَلَدِهِ صَابِراً مُحْتَسِباً يَعْلَمُ أَنَّهُ لَا يُصِيبُهُ إِلَّا مَا كَتَبَ اللَّهُ لَهُ إِلَّا كَانَ لَهُ مِثْلُ أَجْرِ شَهِيدٍ»
dass sie eine Strafe sei, die Allah über wen Er will kommen lässt. Allah machte sie auch zu einer Barmherzigkeit für die Gläubigen. Keiner wird die Heimsuchung der Pest erleben, sich weiterhin in seinem Ort standhaft und in Erwartung des Lohnes Allahs aufhalten, im Wissen, dass ihn nur das trifft, was Allah für ihn bestimmt hat, ohne dass ihm der gleiche Lohn wie der eines Märtyrers zuteilwird.
Auch berichtete Abū Huraira, dass der Prophet (s) sagte:
«لا يُورِدُ مُمْرِضٌ علَى مُصِحٍّ»
Kein Gesunder soll einem Kranken ausgesetzt werden![ Buḫārī ]
Schon das veranlasst jeden einzelnen Muslim dazu, so zu handeln, dass sich eine Seuche nicht weiter ausbreitet.
Das Eindämmen einer Epidemie funktioniert im Islam somit auf zwei Ebenen. Zum einen ergreift der Staat Maßnahmen, um eine Ausbreitung zu verhindern, zum anderen hält sich das Individuum auf der Basis seiner Glaubensüberzeugung und aus Gottesfurcht an die islamische Überlieferung und an die Anweisungen des Staatsoberhaupts. Es liegt in der Natur des Islam, dass Staat und Bürger das gleiche Ziel haben und das Handeln des Kalifen und das des Individuums ineinandergreifen. Zwar lässt sich das Auftreten einer Epidemie niemals verhindern, aber der Islam zeigt auf, wie sich eine Pandemie verhindern lässt. Dass sich das Corona-Virus über die Welt ausbreiten konnte und die Folgen so verheerend sind, ist vor allem auch ein Resultat des Kapitalismus mit seinem Handlungsmaßstab und seinem Freiheitskonzept.