Während auf der griechischen Insel Lesbos Geflüchtete ohne irgendeine Perspektive und ohne Würde seit Jahren vegetieren, bezeichnete Griechenlands Kulturministerin Lina Mendoni die Entscheidung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die Hagia Sophia wieder als Moschee zu öffnen, als „eine Provokation für die zivilisierte Welt“. Die sogenannte zivilisierte Welt sieht tatenlos zu, wie Menschen mitten in Europa auf einer Insel weggesperrt werden und in menschenunwürdigen Verhältnissen leben müssen – sie hat diese Zustände überhaupt erst herbeigeführt –, schreit aber auf, weil ein Museum, das ohnehin ein halbes Jahrtausend eine Moschee war, wieder als solche genutzt werden soll. Die westliche Welt lässt Menschen im Meer ertrinken, schweigt zu den Menschenrechtsverbrechen gegen die Uiguren, verhinderte nicht die Vertreibung der Rohingya und schaut bei so manchem Unrecht auf der Welt gerne weg. Sie sollte sich daher bei der Verwendung des Begriffs „zivilisiert“ nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und bedachter damit umgehen. Findet sie etwa die Nutzung der Hagia Sophia als Moschee schlimmer als die Bombardierung Unschuldiger in Syrien durch türkisches Militär? Fühlte sich irgendjemand in der westlichen Welt provoziert, als Erdoğan Idlib angreifen ließ oder Aleppo dem Schlächter von Damaskus überließ?
Die Öffnung der Hagia Sophia als Moschee stellt keine Umwandlung einer Kirche in eine Moschee dar, vielmehr wurde die Umwandlung einer Moschee in ein Museum rückgängig gemacht. So hob am 10. Juli das Oberste Verwaltungsgericht in der Türkei den Status der Hagia Sophia als Museum auf und entschied, dass sie künftig als Moschee genutzt werden darf. Sie war ursprünglich eine byzantinische Kirche und ab 1453 eine Moschee, nachdem Konstantinopel von den Muslimen eröffnet wurde. Mustafa Kemal Atatürk, der das Kalifat zerstört hatte, machte 1934 aus der Hagia Sophie schließlich ein Museum.
Wenn die Menschen im Westen dennoch meinen, dass hier eine Kirche zur Moschee wird, und sich darüber aufregen, sollten sie sich um ihre Kirchen in den westlichen Ländern mehr Gedanken machen. Immer häufiger werden Kirchen verkauft und umfunktioniert. Niemand scheint sich provoziert zu fühlen, wenn die Kirche ihre eigenen Gotteshäuser verkauft, aus denen am Ende Geschäfte, Lokale Diskotheken, Bankfilialen usw. werden. Sie werden inzwischen wie normale Immobilien gehandelt. Es kam auch schon vor, dass aus einer Kirche ein Nachtclub wurde, wo Striptease-Tänzerinnen abends auf dem Altar auftreten.
Was bedeutet es für die Muslime, wenn sie wieder in der Hagia Sophie beten können? Für sie war es ein besonderes Ereignis, dass nach mehr als 80 Jahren das islamische Gebet erstmals wieder in der Hagia Sophia verrichtet wurde. Es sollte sie aber vor allem an den Grund erinnern, weshalb es überhaupt dazu kam, dass jahrzehntelang kein Gebet mehr in der Hagia Sophia stattfinden konnte. Dies ging nämlich mit der Zerstörung des Kalifats durch Atatürk einher und ist mit genau diesem Ereignis verknüpft. Dass all die Jahre kein Gebet mehr in der Hagia Sophia verrichtet wurde, verweist auf das wahre Problem der Muslime, das in der Nichtexistenz eines Kalifats besteht.
Istanbul mag es an allem mangeln, jedoch nicht an Moscheen. Wohin man den Blick wendet, erblickt man mindestens eine Moschee. Erdoğan hofft vielleicht insgeheim auf einen Eintrag in die islamischen Geschichtsbücher, der ihn zusammen mit Muhammad al-Fatih erwähnt. Dieser könnte lauten: „Kaiser Justinian ließ die Hagia Sophia erbauen, Muhammad al-Fatih machte sie zur Moschee, Atatürk verwandelte sie in ein Museum und Erdoğan trat in die Fußstapfen Muhamad al-Fatihs und ließ sie wieder zur Moschee werden.“ Warum hat sich Erdoğan jetzt erst zu diesem Schritt entschlossen, nachdem er schon so lange an der Macht ist? Wenn er sich an dem Status der Hagia Sophia als Museum stört, dann sollte er auch alles andere Unislamische in Angriff nehmen, das Atatürk eingeführt hatte, als er das Kalifat zerstörte – an erster Stelle den Laizismus. Als Atatürk aus der Hagia Sophia ein Museum machte, war das noch eine seiner harmlosen Vergehen gegen den Islam. Denn er verwandelte den islamischen Staat in eine laizistische Republik. Diesen Akt Atatürks sollte Erdoğan rückgängig machen. Atatürks islamfeindliche Politik wollte jede islamische Erscheinungsform im Keim ersticken. Zu seinen Maßnahmen zählten z. B. die Einführung einer westlichen Kleidervorschrift in Form des Hutgesetzes, die standesamtliche Trauung oder aber die Ersetzung der islamischen Rechtsprechung durch das Schweizer Zivilrecht. Selbst die arabische Sprache als Sprache des Koran sollte eliminiert werden, weil sie den Schlüssel zum Islamverständnis darstellt. Für Erdoğan gäbe es also vieles, was er rückgängig machen könnte – und vor allem müsste.