Westliche Konzeptionen Wenn die Freiheit zum Grundrecht erklärt wird

Die Corona-Krise ist nicht nur eine Krise der Gesundheit und der Wirtschaft, sondern auch eine Krise westlicher Ideen und Werte.

Die Corona-Krise ist nicht nur eine Krise der Gesundheit und der Wirtschaft, sondern auch eine Krise westlicher Ideen und Werte. Nicht nur die westliche, sondern die gesamte Welt ist von der Pandemie und ihren Folgen betroffen, aber nur die westliche Welt befindet sich in der Situation, dass sie ihre Grundüberzeugungen gegen das Virus behaupten muss, weil sie mit der aktuellen Situation nicht kompatibel sind. Denn das Virus hat eine Realität geschaffen, in der für die Idee der Freiheit, die man als universelles und natürliches Grundrecht des Menschen propagiert, kein Platz ist.

Die westlichen Regierungen mussten in der Pandemie erkennen, dass sie sich mit der Idee der Freiheit selbst Fesseln angelegt hatten, weil sie jede Schutzmaßnahme gegen das Virus genau abwägen müssen, um die Freiheit der Individuen möglichst nicht anzutasten. Sie mussten mit ihren Prinzipien brechen, weil ein stupides Festhalten am Freiheitspostulat geradezu tödlich sein kann. Die Corona-Realität zwang die Staaten zum Lockdown, zu Kontaktverboten, zur Maskenpflicht, zum Alkoholverbot, zur Testpflicht und zu anderen Maßnahmen, die ein gravierender Eingriff in die sogenannten Freiheitsrechte des Individuums darstellen. Man kann es also drehen und wenden wie man will: Die Freiheit des Individuums wurde von staatlicher Seite beschnitten, obwohl der kapitalistische Staat seine Aufgabe darin sieht, die Freiheit seiner Bürger zu gewährleisten. Für gewöhnlich tritt er als Verteidiger der Freiheit auf, indem er beispielsweise die Muslime angreift und ein Niqabverbot verhängt oder Lehrerinnen das Kopftuch an Schulen verbietet, weil es seinem Verständnis von Freiheit widerspricht, dass eine Muslima sich aus freien Stücken an die islamische Kleidervorschrift hält. Diese Verbote sind in Wahrheit auch Einschränkungen der Freiheit, ohne dass man sie als Schutzmaßnahmen rechtfertigen könnte. An ihnen stört sich aber niemand, weil sie sich gegen Muslime richten und von der großen Masse als Durchsetzung freiheitlicher Werte verstanden werden. In diesem Fall geht es aber nicht darum, die Freiheit von Muslimen einzuschränken, sondern die aller Bürger, die mit der Idee der Freiheit indoktriniert wurden. Schon der Gedanke an die Einschränkung ihrer Freiheit passt ihnen nicht, auch wenn es zu ihrem Schutze ist.

Tausende demonstrierten am 1. August in Berlin und protestierten gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen. Sie missachteten bewusst die Hygiene- und Abstandsregeln und trugen demonstrativ keine Maske. Es war nicht die erste Demonstration dieser Art, doch sie wurde Thema in den Medien, weil die ZDF-Moderatorin Dunja Hayali vor Ort war und die Dreharbeiten aufgrund massiver Anfeindungen abbrechen musste. Die Menschen, die während Hayalis Spießroutenlauf zu Wort kamen, äußerten sich zwar irrational, aber man kann sie nicht als „Covidioten“ bezeichnen, wie es beispielsweise die SPD-Vorsitzende Saskia Esken tat, weil es das Verhalten dieser Menschen nicht erklärt, wenn man sie als Idioten abstempelt. Ihr Verhalten ist die Folge einer permanenten Indoktrination mit der Idee der Freiheit, die die kapitalistischen Staaten als höchste Idee propagieren. Jeder, der den westlichen Freiheitsbegriff ablehnt, betrachtet der Kapitalismus als Feind, den es zu bekämpfen gilt. Was will die Regierung den Demonstranten also vorwerfen? Dass sie der Freiheit Vorrang vor jeder Vernunft geben, wozu der Staat sie erzogen hat? Wahrscheinlich würden sie sogar für das Tragen von Masken demonstrieren, wenn man ihnen diese verböte, weil es dann ebenfalls um die Einforderung der Freiheit ginge. Man kann die Menschen nicht mit der Idee der Freiheit erziehen und sich dann wundern, wenn sie für genau diese Freiheit demonstrieren und sich der Corona-Politik widersetzen.

Das Phänomen der sogenannten Hygiene-Demos findet man vor allem in Deutschland. Hier stellt sich die Frage, weshalb es Ähnliches nicht beispielsweise in kapitalistischen Staaten wie Italien oder Spanien gibt. Dort kam es zu viel strengeren Einschränkungen der Freiheit als in Deutschland. Italiener, Spanier oder auch Franzosen sind genauso mit der Idee der Freiheit indoktriniert wie die Deutschen, jedoch waren sie viel stärker von der Pandemie betroffen. In Deutschland hat man den Luxus, dass man, verglichen mit anderen Ländern, noch gut durch die Krise gekommen ist, so dass die Menschen den Politikern vorwerfen können, ihre Maßnahmen seien übertrieben gewesen. Viele der Gegner der Corona-Politik zweifeln grundsätzlich an der Existenz des Corona-Virus und argumentieren damit, dass sie persönlich keinen Erkrankten kennen würden. Würde in Italien jemand die Existenz des Virus anzweifeln und Demonstrationen gegen die Schutzmaßnahmen organisieren, die zudem noch dazu führen könnten, dass sich das Virus zusätzlich verbreiten könnte, weil viele Menschen ohne Schutzvorkehrungen zusammenkämen, würde man ihn für verrückt erklären. Denn in Italien konnten die Menschen das verheerende Ausmaß mit eigenen Augen sehen, etwa die Militärfahrzeuge, die reihenweise Särge abtransportierten. Viele Italiener hatten selbst Tote zu beklagen. Es musste sie kein Virologe von der Gefährlichkeit des Virus überzeugen. Die Realität selbst ließ keinen Spielraum für irgendwelche Freiheitsansprüche.

Für alle westlichen Staaten gilt das Ziel, die Pandemie zu bewältigen und die Freiheit wiederherzustellen. Die Corona-Krise hat jedoch gezeigt, dass die Idee von der Freiheit nicht vereinbar ist mit der Realität. Freiheit kann kein universelles Grundrecht des Menschen sein. Sie widerspricht sogar seiner Natur, denn sie verleitet ihn zu Handlungen, die ihm und anderen offensichtlich schaden. Am Ende dient die Idee der Freiheit nur dazu, die Menschen ruhigzustellen. Jedoch steht dieses Instrument den kapitalistischen Staaten in Zeiten der Pandemie nicht in vollem Umfang zur Verfügung.