Westliche Konzeptionen Struktureller Rassismus

Was wir gerade an Rassismus erleben, ist die Spitze eines Eisbergs und niemand weiß, wie weit dieser Eisberg in die Tiefe reicht.

Was wir gerade an Rassismus erleben, ist die Spitze eines Eisbergs und niemand weiß, wie weit dieser Eisberg in die Tiefe reicht. Die Verantwortlichen wollen es auch gar nicht wissen, wie etwa Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der eine Studie über strukturellen Rassismus bei der Polizei ablehnt. Hierbei verhält er sich wie das Kind, das die Augen schließt und denkt, es sei für alle unsichtbar. Es bedarf ohnehin keiner Studie oder eines wissenschaftlichen Nachweises, um zu erkennen, dass die Polizei in ihren Strukturen ein Rassismusproblem aufweist. Als Polizisten aus Nordrhein-Westfalen, die jahrelang in Chatgruppen rechtsextreme Inhalte ausgetauscht hatten, kürzlich aufflogen, musste NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) eingestehen, dass man nicht mehr von Einzelfällen sprechen könne.

Das Image der Polizei als Freund und Helfer ist dem Bild vom Polizisten als Rassist gewichen. Beim strukturellen Rassismus geht es gar nicht so sehr darum, dass vereinzelt Polizisten eine ausgeprägte rechtsradikale Einstellung haben und ihre rechten Ideen mit anderen Polizisten teilen, indem sie beispielsweise Bilder von Flüchtlingen in Gaskammern oder Hitlerbilder austauschen. Es geht vielmehr um Strukturen innerhalb der Polizei, die dazu führen, dass Polizisten unabhängig von ihrer persönlichen Einstellung rassistisch handeln. Ein Beispiel hierfür ist das Racial Profiling, das in Deutschland verboten ist und dennoch praktiziert wird, indem Menschen aufgrund äußerer Merkmale, wie etwa eine dunkle Hautfarbe, von der Polizei kontrolliert werden. Die Polizisten führen solche Kontrollen durch, weil es inzwischen zur Routine gehört und die rassistische Sicht, dass Dunkelhäutige eher zu kriminellen Handlungen neigen, bei der Polizei als Institution fest verankert ist. Das Problem ist folglich nicht damit gelöst, Rechtsradikale bei der Polizei auszusortieren.

Zu sehr legt man bei dem Thema „struktureller Rassismus“ den Schwerpunkt auf die Polizei. Struktureller Rassismus, den man auch als institutionellen Rassismus bezeichnet, ist nicht nur ein Problem bei der Polizei, sondern prägt beispielsweise auch Abläufe im Schulsystem. Das bedeutet z. B., dass das Kind mit Migrationshintergrund schon wegen seines Namens benachteiligt wird und schlechtere Noten bekommt als sein Mitschüler mit deutschem Namen, weil es aufgrund von Vorurteilen vom ersten Schultag an in einer bestimmten Schublade landet. Es findet von Anfang an eine Selektion statt, ohne dass Fähigkeiten und Leistungen einbezogen werden. Denn im deutschen Universum kann Ali in der Schule nicht besser sein als Paul. Wenn das betreffende Kind nicht Deutsch als Muttersprache hat, hat es kaum eine Chance auf eine Rolle als guter Schüler oder gute Schülerin. Die Intelligenz des Kindes wird auf die Sprachkenntnis reduziert, und zwar nicht nur im Deutschunterricht, sondern in allen Fächern. Die Strukturen innerhalb des Schulsystems sind gar nicht darauf ausgelegt, die Sprache der betreffenden Schüler zu fördern, damit sie aufholen können. Ihre Leistung wird immer an ihrer Schwäche in der deutschen Sprache gemessen. Der strukturelle Rassismus an Schulen führt dazu, dass diese Schüler das Klischee zwangsläufig erfüllen. Sie bekommen keine Gymnasialempfehlung und haben am Ende einen niedrigeren Bildungsabschluss.

Man muss nicht lange suchen, um auf strukturellen Rassismus an Schulen zu stoßen. Wenn Schüler im Schulunterricht das Thema „Islam“ behandeln, dann wird das Thema in den Schulbüchern so präsentiert, als bestünde die Schülerschaft nur aus Nichtmuslimen. Die zahlreichen muslimischen Schüler erfahren eine Diskriminierung, indem sie sich mit ihrem eigenen Glauben aus der Perspektive von Nichtmuslimen auseinandersetzen müssen, als wäre der Islam für sie eine fremde Religion, die problematisch und gefährlich ist. Die Schule konfrontiert sie mit Aufgabenstellungen, die auf nichtmuslimische Schüler zugeschnitten sind, die von außen auf den Islam blicken. Nicht der einzelne Lehrer legt fest, wie das Thema Islam im Schulunterricht zu behandeln ist, sondern er orientiert sich an Vorgaben des Lehrplans, so dass auch hier ein struktureller Rassismus vorliegt.

Selbst in der Wissenschaft wird man fündig. Nichteuropäische Wissenschaftler werden oft nicht ernst genommen. Ihre Schriften und Erkenntnisse finden keine Beachtung und werden in den Lehrbüchern kaum erwähnt. Der Bereich Wissenschaft ist sogar besonders betroffen vom strukturellen Rassismus. Schwarze Wissenschaftler sind gegenüber weißen Wissenschaftlern grundsätzlich im Nachteil. Menschen, die mit Vorurteilen zu kämpfen haben, wird der Aufstieg in hohe Position an Universitäten erschwert. Auch hier geht es weniger um den Rassismus einzelner Personen, als vielmehr um Strukturen, die dazu führen, dass jemand unabhängig von seiner Einstellung rassistisch entscheidet.

Zahlreiche Institutionen sind also vom strukturellen Rassismus betroffen, der jetzt in aller Munde ist. Eine Rassismusdebatte zu führen, die um den strukturellen Rassismus kreist, birgt jedoch die Gefahr, dass das einzelne Individuum aus der Verantwortung gezogen wird. Struktureller Rassismus kann nur zustande kommen, wenn das öffentliche Meinungsbild in einer Gesellschaft rassistisch ist. Nur wenn der Rassismus von Individuen auf Akzeptanz in der breiten Gesellschaft stößt, kommt es zu strukturellem Rassismus. Die Frage nach strukturellem Rassismus bei der Polizei, an den Schulen oder in der Wissenschaft muss immer auch mit der grundlegenden Frage verknüpft bleiben, was die Ursachen für Rassismus sind. Wenn ein Polizist das Bild eines Flüchtlings in einer Gaskammer an andere verschickt, dann darf die Frage nicht nur lauten, warum der Betreffende in seiner Position als Polizist jahrelang unentdeckt blieb, sondern warum er überhaupt den Wunsch hegt, Flüchtlinge zu vergasen. Viel entscheidender ist also, warum er ein Rassist ist.

Man kann keinen strukturellen Rassismus bekämpfen, wenn man nicht dem Rassismus im Ganzen entgegenwirkt. Ein Wille zur Bekämpfung von Rassismus ist jedoch nicht zu erkennen, auch wenn die Politik immer wieder beteuert, dem Rassismus einen Riegel vorzuschieben. Denn das kapitalistische System fördert den Rassismus innerhalb der Gesellschaft. Bei dem Beispiel mit dem rechtsradikalen Polizisten kommt in besonders ausgeprägter Form das Überlegenheitsgefühl des Weißen gegenüber anderen nichteuropäischen Völkern zum Ausdruck, die er als minderwertig ansieht. Dieses Überlegenheitsgefühl findet sich nicht nur bei Rechtsradikalen, sondern ist Teil der westlichen Kultur und ihrer Kolonialgeschichte, die mit den Ideen der Aufklärung auch den damit verbundenen Rassismus übernommen hat. Der Rassismus klebt an dieser Kultur wie ein Schatten, den sie mit den Ideen und Werten, die sie vertritt, nie wieder loswird.