Ausland Mittelalter 2.0

Der Fortschritt steht niemals still. Die technologische, wissenschaftliche und medizinische Entwicklung schreitet voran, dass man kaum mitkommt.

Der Fortschritt steht niemals still. Die technologische, wissenschaftliche und medizinische Entwicklung schreitet voran, dass man kaum mitkommt. Jeder hat heutzutage Zugang zu Wissen, wozu man inzwischen nur ein Smartphone benötigt, das zumindest in den westlichen Industriestaaten fast jeder besitzt. Die zivilisatorischen Errungenschaften haben unser Leben überaus erleichtert. Man kann seine Haustür mit dem Smartphone auf- und abschließen, das Licht damit ein- und ausschalten, die Kaffeemaschine in Betrieb nehmen oder die Waschmaschine starten. Autos können zum Teil autonom fahren. Aber all das hat die Natur des Menschen nicht verändert, dessen Instinkte und Bedürfnisse unveränderlich sind.

Das Handeln des Menschen hängt nicht vom zivilisatorischen Fortschritt ab, sondern von seinem Denken. Der Mensch kann mit einem Auto oder aber mit einer Kutsche fahren; auf sein Denken und sein Verhalten hat das keinen Einfluss. Zum Denken braucht er keine Technologie, sondern seinen Verstand, die Realität sowie Wissen, das er erwirbt und das mit der wahrgenommenen Realität verknüpft werden muss. Sein Verhalten ist das Resultat seines Denkens. Die Tatsache, dass der Mensch heute mehr über die Welt weiß als der mittelalterliche Mensch, hat z. B. zur Folge, dass er Frauen nicht mehr für alles, was er sich nicht erklären kann, verantwortlich macht und als Hexen verbrennt.

Problematisch wird es, wenn die Verknüpfung zwischen Realität und Wissen fehlschlägt. Vor allem wenn man mit einer neuen Realität konfrontiert wird, sind das Vorwissen und der Erwerb von neuem Wissen entscheidend. Die Corona-Pandemie ist eine neue Realität und legt offen, dass sich der Mensch von heute nicht allzu sehr vom mittelalterlichen Menschen unterscheidet, wenn das Wissen entweder fehlt oder Wissen und Realität nicht verknüpft werden. Im europäischen Mittelalter hätten die Menschen wahrscheinlich für eine solche Pandemie Hexen verantwortlich gemacht und auf den Scheiterhaufen gebracht. Heute unterstellen sie Microsoft-Gründer Bill Gates, dass er die Menschen kontrollieren wolle, indem er ihnen mit Corona-Impfungen einen Chip einpflanze. Es kursieren Vorstellungen, die man im 21. Jahrhundert nicht vermuten würde, etwa dass Kinder sterben könnten, wenn sie Masken tragen. Der eine oder andere ist überzeugt, dass Aluhüte vor sogenannten Chemtrails schützen, glaubt aber nicht daran, dass Schutzmasken eine Corona-Infektion verhindern können. Noch viel skurriler ist die Ansicht, dass man Kinder entführe, um ihr Blut zu trinken. Hierzu halte man sie in unterirdischen Tunnelsystemen gefangen, wo man sie außerdem foltere. Diese Legende wurde von QAnon verbreitet und kursiert vor dem Hintergrund der Corona-Krise auch in Deutschland, die manch ein Normalbürger für wahr hält.

Es ist viel einfacher, eine Frau als Hexe zu verbrennen und zu glauben, man habe damit das Problem gelöst, als sich zu informieren und die Ursache des Problems zu ergründen. Denn es könnte sein, dass die Lösung des Problems ein Umdenken und eine Änderung des Verhaltens verlangt. Eine politische Verschwörung hinter der Pandemie zu vermuten, um die Menschen ihrer Freiheit zu berauben und Diktaturen in der freiheitlich-demokratischen westlichen Welt zu errichten, ist für viele Menschen bequemer als die Tatsache, dass sich ein gefährliches Virus ausgebreitet und eine Pandemie ausgelöst hat. Letzteres erfordert nämlich eine Verhaltensänderung und Einschränkungen.

Die Pandemie als extreme Ausnahmesituation ist nicht der Grund für ein solches Verhalten. Man kennt dieses mittelalterliche Denken auch unter Normalbedingungen ohne Corona-Krise. Ein Beispiel hierfür ist die Pegida-Bewegung. Pegida steht für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ und sie vertritt die Vorstellung, dass die Politik mit ihrer Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik eine Islamisierung des sogenannten Abendlandes betreibe. Dagegen demonstriert die Pegida seit 2014 und hat das ohnehin fremden- und islamfeindliche Deutschland auf die Spitze der Islamfeindlichkeit getrieben und den Hass auf die Muslime angeheizt. Bereits der Rückgriff auf ein vermeintlich christliches Abendland legt offen, dass man sich archaischer Begriffe bedient, die nicht den Verstand, sondern die Emotionen ansprechen. Die Menschen sollen zu Fackel und Heugabel greifen und ihr christliches Abendland gegen die angebliche Invasion der Muslime verteidigen. Auch einem Islamhasser wie Thilo Sarrazin war es möglich, seine islamfeindlichen Thesen zu Muslimen zu verbreiten, etwa dass Muslime dümmer seien als andere Menschen, und zwar lange bevor muslimische Flüchtlinge in größerer Zahl nach Deutschland kamen. Es gibt zahlreiche Menschen, die Sarrazins wahnwitzige Thesen glauben, so mittelalterlich sie auch erscheinen mögen. Das Ergebnis sind Angriffe gegen Muslime und Anschläge auf sie wie der im Februar 2020 in Hanau, bei dem elf Menschen erschossen wurden. Die irrationalen Argumente der Islamhasser kommen, so irrsinnig sie klingen, bei den Menschen an und werden unreflektiert übernommen. Die Einstellung zum Islam und den Muslimen basiert nicht auf Wissen, sondern resultiert allein aus der Hetze, die von allen Seiten – nicht nur von der Pegida oder der AfD– gegen sie betrieben wird. Es ist die gleiche Einstellung, die die Menschen schon vor Jahrhunderten zu Muslimen hatten. Sie wurde einfach nur neu aufbereitet.

Der Mensch kann sich all dem nur entziehen, wenn er die Realität mit Wissen verknüpft. Es setzt autonomes Denken voraus, das der Menschheit weitaus nützlicher ist als beispielsweise autonomes Fahren. Denn wenn das Denken degeneriert, nützt auch jeder Fortschritt nichts.