… zwischen Einhörnern …
Das Scheitern moderner Moralphilosophie alias Die Unmöglichkeit der Universalität säkular-liberaler Menschenrechte
Im Anschluss an die Einsichten aus dem ersten Teil werden wir nun im zweiten Teil die Frage behandeln, ob die fehlende Universalität der säkular-liberalen Menschenrechte nicht einfach nur die Konsequenz eines fehlerhaften/unzureichenden Begründungsversuches, sondern auf Auswüchse eines Grundproblems zurückzuführen ist, welches der Misere der Moderne auf systematische Weise zugrunde liegt. Im Zentrum steht dabei die grundsätzliche Frage nach den Ressourcen der säkular-liberalen Gesellschaftsordnung zur Etablierung universeller Moral und Rechte.
Explizit heben wir an dieser Stelle den Zusammenhang zwischen der Frage nach der Universalität von den aus der säkular-liberalen Gesellschaftsordnung hervorgehenden Menschenrechten und der modernen moralphilosophischen Realisierbarkeit der rationalen Rechtfertigung von Moral hervor. Dies ist auf den besonderen vorjuridischen Geltungsanspruch der Menschenrechte zurückzuführen. Die Existenz der Menschenrechte beruht auf ihrer Begründbarkeit und nicht auf ihrer positiv-rechtlichen Setzung. Der Maßstab für die Geltung letzterer bleibt immer ihr vorjuridisch-moralischer Geltungsanspruch. Somit gründet die Grundlegung der Menschenrechte in der Moral, und insofern besteht ein untrennbarer Zusammenhang zwischen Menschenrechten und philosophischer Ethik, genauer, zwischen den säkular-liberalen Menschenrechten und der modernen Moralphilosophie.
Im ersten Teil haben wir zahlreiche Gründe dafür geliefert, die Universalität der Menschenrechte mit einem fundamentalen Zweifel zu versehen. Unmittelbare Konsequenz des zuvor hervorgehobenen Zusammenhangs zwischen der Frage nach der Universalität der Menschenrechte und der Frage nach der Realisierbarkeit der rationalen Rechtfertigung von Moral wäre demnach ein fundamentaler Zweifel an der gültigen moralphilosophischen Legitimation der Menschenrechte, oder aber noch allgemeiner an der grundsätzlichen Fähigkeit moderner Moralphilosophie, die rationale Rechtfertigung von Moral zu gewährleisten. Und eben genau diese grundsätzliche Unfähigkeit ist jene, die wir im Folgenden behaupten und auch zu begründen suchen, was damit einhergehend nicht nur die fehlende Universalität der aktuell rechtlich-gesetzten Menschenrechte implizieren würde (was im ersten Teil bereits gezeigt wurde), sondern viel grundsätzlicher die Unmöglichkeit der vorpositivistischen Universalisierung jeder erdenklichen Ausformulierung von säkular-liberalen Menschenrechten.
Dabei werden wir die Unfähigkeit der modernen Moralphilosophie, eine rationale Rechtfertigung von Moral zu liefern, nicht einfach nur auf das Unvermögen der modernen Moralphilosophen zurückführen, sondern werden noch viel grundsätzlicher versuchen, zum eigentlichen Kern des Problems vorzudringen, das der säkular-liberalen Gesellschaftsordnung und der Moderne im Allgemeinen auf systematische Weise zugrunde liegt. Dabei werden wir uns insbesondere auf die umfassenden Arbeiten von A. MacIntyre (Verlust der Tugend, 2006, & Whose Justice? Which Rationality?, 1988) stützen, der es wie kaum ein anderer geschafft hat, das Unvermögen der modernen Moralphilosophie auf ein in der Moderne angelegtes Grundproblem zurückzuführen.
Um bis zu diesem Grundproblem vorzudringen, wird es zunächst nötig sein, die westliche Tradition, aus der der Versuch der Formulierung der Menschenrechte sowie ihrer ideologischen Rechtfertigung stammt, hinsichtlich der Frage nach dem Wesen von Moral genauer unter die Lupe zu nehmen. In diesem Rahmen wird sich herausstellen, dass die moderne gesellschaftliche Situation sowie die der nach Legitimation förmlich schreienden Moralphilosophie auf Entwicklungen der Dimension einer historischen Katastrophe zurückzuführen sind. Dabei wird sich zeigen, dass die moralischen Ressourcen der Moderne erschöpft und die heutigen Moral- und Rechtsbestände nichts weiter sind als die Überreste von Scheinbildern einer Moral, die aus ehemals christlich-jüdischen (theologischen) und aristotelischen (teleologischen) Verständnissen übernommen wurden. So schreibt MacIntyre, „dass die moderne moralische Äußerung und Praxis nur als eine Reihe bruchstückhafter Überreste einer älteren Vergangenheit verstanden werden können, und dass die unlösbaren Probleme, die sie den modernen Moraltheoretikern gestellt haben, so lange unlösbar bleiben, bis das richtig erkannt ist.“ Falls der „deontologische Charakter moralischer Urteile der Schatten der Konzeption des göttlichen Rechts“ und falls „ihr teleologischer Charakter […] der Schatten der Konzeption der menschlichen Natur und ihrer Handlungen“ sei, dann sollten wir damit rechnen, dass „die Probleme, moralische Urteile zu verstehen und ihnen einen verstandesmäßig fassbaren Status zuzuweisen, sowohl ständig zunehmen als auch philosophischen Lösungen immer unzulänglicher werden“.
Diese These werden wir, MacIntyre in der Darstellung Y. Kuhns (Über Moral, Macht und Islam im unmöglichen Staat, 2019) im Wesentlichen folgend, in den nächsten Abschnitten deutlich machen und im Anschluss aufzeigen, auf welche Weise die Legitimation der Universalität der säkular-liberalen Menschenrechte davon betroffen ist. Vielmehr, werden wir im Laufe des Nachvollziehens der westlichen Tradition sogar erkennen, in welch missliche Lage die Moderne sich durch die Säkularisierung und der damit einhergehenden sowie zum Teil ihr vorausgehenden Negation (des Zusammenspiels) von Teleologie und Theologie unumkehrbar hineinmanövriert hat und dass letzten Endes nur der Islam Ressourcen bieten kann, dieser Misere auf angemessene Weise Abhilfe zu schaffen, ganz im Sinne der Worte Allahs (t): „Er ist es, der Seinem Diener klare Zeichen offenbart, damit Ereuch aus den Finsternissen ins Licht hinausbringt. Und Allah ist wahrlich mit euch gnädig und barmherzig.“ (Koran 57:9)
Die historischen Vorläufer der heutigen westlichen Moralkonzeptionen gehen alle zurück auf eine moralische Konzeption, die aristotelische Ethik, die in ihrer Grundstruktur dadurch geprägt ist, dass in ihr Moral und menschliches Handeln als teleologisch begriffen wurden. Dies im Sinne einer dreigliedrigen teleologischen Struktur: Diese bestand erstens aus dem unvollkommenen Naturzustand des Menschen, zweitens dem vollkommenen Wesen des Menschen als telos und drittens der Ethik als vernunftgeleiteter Übergang durch die moralische Praxis zur Verwirklichung des vollkommenen menschlichen Wesens. Durch Verbindung mit theistischen Vorstellungen im Laufe der westlichen Tradition, vor allem zurückgehend auf die christlichen bzw. jüdischen Philosophen Thomas von Aquin und Moses Maimonides, wurde diese dreigliedrige teleologische Struktur zwar in dem Sinne erweitert, dass nun die Gebote Gottes als mit der Vernunft nachvollziehbar den Übergang zwischen dem unvollkommenen Naturzustand des Menschen und seines vollkommenen Wesens darstellten, jedoch einer grundsätzlichen Veränderung unterlag sie von ihrer Struktur her nicht.
Diese dreigliedrige theologisch-teleologische Struktur hatte Bestand bis zum Eintreten der Aufklärung. Die Aufklärung stand unter dem Kantischen Motto: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Was ist Aufklärung?, 1784) Sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, war also das Motto der Aufklärung, was gleichbedeutend mit der völligen Verbannung jeder Autorität und jedes äußeren Referenzpunktes und der vollkommenen Insistenz auf die von Tradition und Religion befreite autonome Vernunft war. Konsequenz war das Streichen jedes teleologischen und kategorischen (theologischen) Gehaltes der dreigliedrigen theologisch-teleologischen Struktur, unter gleichzeitiger Beibehaltung der übrigbleibenden Elemente, die nun im Rahmen des Projekts der Aufklärung eine völlig neue Rolle einnahmen. Begleitet wurde dieser Prozess der Zerrüttung der dreigliedrigen theologisch-teleologischen Struktur durch eine gegenläufige Entwicklung innerhalb des Protestantismus, der die ursprünglich doppelte Struktur eines jeden moralischen Satzes, der aus dem Gebot Gottes und dessen vernünftigen menschlichen Nachvollziehens bestand, dadurch auflöste, dass die Vernunft aufgrund des Sündenfalls für unfähig erklärt wurde, die Gebote Gottes nachzuvollziehen, und dementsprechend nur noch die Gnade Gottes übrig blieb, um den Weg zum telos, dem vollkommenen menschlichen Wesen, einzuschlagen.
Implikation dieser beiden Entwicklungen, der der Aufklärung und der des Protestantismus, war eine Vorstellung von der Vernunft des Menschen, welche sie auf völlige Autonomie (von Tradition und Religion) sowie auf ein lediglich berechnendes Denken und eine instrumentelle Rationalität im Dienste von Leidenschaften und Interessen reduzierte. Diese Vernunftautonomie bestand in enger Verbindung mit dem im Zuge der Aufklärung Einzug findenden Naturalismus als Metaphysik der modernen Welt, unter dessen Vorzeichen alles Werthafte, Moralische, Gute und alle immanenten Gründe aus der Welt herausgestrichen wurden und sie durch eine völlige Entleerung und Entzauberung zu nicht mehr als stummer und toter Materie wurde, der die autonome Vernunft des Menschen nun zur Seite gestellt werden konnte. So betont C. Korsgaard (Sources of Normativity, 1996), dass „die Ethik der Autonomie […] die einzige“ sei, „die mit der Metaphysik der modernen Welt vereinbar ist.“ Ferner folgert Kuhn in seiner kommentierenden Zusammenfassung der Schlussfolgerungen von C. Larmore (Vernunft und Subjektivität, 2012): „Soweit in dieser [naturalistischen] Welt überhaupt Normatives zur Geltung kommt, muss es der neutralen Materie von der Vernunft von außen auferlegt werden.“
Diese Entwicklung hatte auch zur Folge, dass das Moralische zu einem eigenständigen Gebiet wurde, es also zu einer Trennung von Moralischem und Theologischen, Rechtlichem sowie Ästhetischem kam, bei der die autonome Vernunft als einzige Quelle zur Begründung und Rechtfertigung des Moralischen übrig blieb. Dies ging so weit, dass das Wort Moral erst etwa zwischen 1630 und 1850 seine heutige Bedeutung bekommen hat. So schreibt MacIntyre, dass die Geschichte des Wortes Moral nicht richtig wiedergegeben werden könne, ohne über die Versuche in diesem Zeitraum zu berichten, eine rationale Rechtfertigung von Moral zu liefern, als der Begriff eine gleichzeitig allgemeine und spezielle Bedeutung hatte. Moral wurde zur „Bezeichnung für jenen besonderen Bereich, in dem Verhaltensregeln, die weder theologisch noch gesetzlich noch ästhetisch waren, ein eigener kultureller Raum zugestanden wurde. Erst im späten 17. und 18. Jahrhundert, als die Trennung des Moralischen vom Theologischen, Rechtmäßigen und Ästhetischen zur anerkannten Lehre wurde, wurde der Plan einer unabhängigen, rationalen Rechtfertigung der Moral nicht nur zu einem Anliegen einzelner Denker, sondern zu einer zentralen Frage der nordeuropäischen Kultur.“ Und auch K. Bayertz (Warum überhaupt moralisch sein?, 2006) kommt zu der gleichen Schlussfolgerung, bei der er die Herausbildung der Moral zu einem eigenständigen Bereich hervorhebt. Ihm nach sei die Verselbständigung der Moral zu einem autonomen Bewertungssystem ein Produkt der frühen Neuzeit gewesen, was auch zeige, dass der Begriff Moral erst in der Neuzeit seine heutige Bedeutung angenommen hat: „Weder in der Antike noch im Mittelalter gab es einen Ausdruck, dessen Bedeutung unserem Begriff von »Moral« oder »moralische« äquivalent war. Dies zeigt sich in der schwankenden Terminologie, die wir in den philosophischen Texten der griechischen und lateinischen Antike finden: Wo wir den Begriff »moralisch gut« verwenden würden, finden sich hier Ausdrücke wie fromm, schön, lobenswert, ehrenhaft oder gerecht. Diese terminologische Unentschiedenheit kann als ein Indiz dafür gelten, dass es die Moral als eigenständiges, von Religion, Recht und Sitte unterschiedenes System von Normen und Werten in dieser Zeit noch nicht gab; und dass der Moralbegriff seine heutige (enge) Bedeutung erst in einem langen Differenzierungsprozess annahm, der im 17. Jahrhundert einsetzte.“
Schließlich blieben also zwei voneinander getrennte und unzusammenhängende Bereiche übrig: zum einen der Bereich der Moral, der in gewissem Sinne noch mit aus der christlich-jüdischen Tradition stammenden Vorstellungen übereinstimmte, zum anderen der Bereich der menschlichen Natur, die maßgeblich auf das Vermögen der autonomen Vernunft reduziert wurde. Ziel des Projekts der Aufklärung war infolgedessen die aus der christlich-jüdischen Tradition konservierten moralischen Sätze via autonome Vernunft auf die menschliche Natur zu gründen. Das war die Aufgabe, die sich die Moralphilosophen des 18. Jahrhundert gesetzt hatten.
Das Problem bestand jedoch darin, dass diese beiden Bereiche aufgrund der Tatsache, dass sie unzusammenhängende Bruchstücke eines einst zusammenhängenden Denk- und Handlungssystems waren, so sehr im Widerspruch zueinander standen, dass sich in der modernen Moralphilosophie schließlich eine Doppelbewegung ergab: Auf der einen Seite wurde der Versuch nicht aufgegeben, die Moral durch die autonome Vernunft zu begründen, auf der anderen Seite gab es aber immer wieder Eingeständnisse unterschiedlicher Moralphilosophen, dass es doch eigentlich keine schlüssigen und widerspruchsfreien Ansätze gäbe. Dies ist, was Kuhn mit Bezug auf MacIntyre in der folgenden Passage reflektiert: „Die aufgeklärten Vertreter des Projekts der rationalen Rechtfertigung der Moral zeigten also zugleich […] immer deutlicher eben seine Undurchführbarkeit auf. So kommt es, dass sich in Diderots Rameaus Neffe »eine schärfere und einsichtigere Kritik des gesamten Vorhabens der Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts als in jeder externen Kritik der Aufklärung« […] findet. Kant wiederum kam in der Kritik der praktischen Vernunft zu der Einsicht, dass »das gesamte Vorhaben der Moral ohne teleologischen Rahmen unverständlich wird« […]. Und Hume brachte noch als Zweifel zum Ausdruck, was später zum sogenannten Humeschen Gesetz erhoben wurde, nämlich dass aus einem nicht-normativen »ist«-Satz nicht logisch auf einen normativen »soll«-Satz geschlossen werden kann.“
Schließlich bildeten sich zwei maßgebliche Hauptströmungen aus, in denen unabhängig voneinander versucht wurde, die Moral rational zu begründen: einerseits der Utilitarismus, andererseits die Kantische Deontologie. Der Utilitarismus trat den Versuch an, die Entfernung des teleologischen Charakters der ursprünglich dreigliedrigen theologisch-teleologischen Struktur der Moral durch die Etablierung einer neuen Teleologie – durch den Bezug auf den Nutzen – zu kompensieren. Die Kantische Deontologie dagegen versuchte, die Verbannung des theologisch-kategorischen Charakters eben jener ursprünglich dreigliedrigen theologisch-teleologischen Struktur der Moral durch ein neues Gebotensein zu ersetzen, indem er den Versuch antrat, moralische Sätze entsprechend des Projektes der Aufklärung auf ein durch die autonome Vernunft abgeleitetes rationales Fundament zu stellen.
Die Anfänge des Utilitarismus gehen auf J. Bentham zurück, der das Streben nach Lust bei gleichzeitiger Vermeidung von Schmerzen als einziges Motiv für menschliches Handeln erachtete. Die neue Teleologie sei demnach durch die Maximierung von Lust bei gleichzeitiger Minimierung von Schmerz gegeben, welche im Sinne eines Abwägungskalküls gesamtgesellschaftlich zur Grundlage der Moral werde. Sein utilitaristischer Nachfolger J. S. Mill sah in dem Ansatz von Bentham eine der Hauptschwierigkeiten des Utilitarismus. Die menschlichen Empfindungen von Lust und Schmerz seien nicht einheitlich, zudem könne man sie weder quantitativ noch qualitativ messen, sodass die von Bentham eingeführte Teleologie kein sinnvolles Kriterium für grundlegende moralische Entscheidungen sein könne. So übte er eine Kritik an Bentham, obgleich er dem Utilitarismus treu blieb, indem er Benthams Ansatz in dem Sinne weiterentwickelte, dass Handlungen dann als moralisch zu bezeichnen seien, wenn sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, während Handlungen dann unmoralisch seien, wenn sie zu Leid führen. Dabei versuchte er einen Unterschied zwischen höheren und niedrigeren Lüsten einzuarbeiten, was allerdings an einem fehlenden Kriterium dafür scheiterte, tatsächlich höhere von niedrigeren Lüsten rational und intersubjektiv gültig unterscheiden zu können. MacIntyre kommt in seiner Darstellung deshalb zu dem Schluss, dass der Gedanke des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl tatsächlich ein „Pseudokonzept“ sei, „das für eine Vielzahl ideologischer Verwendungen genutzt werden kann, aber mehr auch nicht.“ Wenn wir im täglichen Leben auf seine Verwendung stoßen, so sei es stets notwendig zu fragen, „welches eigentliche Vorhaben oder Ziel durch seine Verwendung verschleiert wird.“
H. Sidgwick setzte in der Nachfolge die utilitaristische Selbstkritik fort, indem er das Vermögen der Psychologie, als Grundlage für die utilitaristische Teleologie zu dienen, einer grundsätzlichen Kritik unterzog und zu dem Schluss gelangte, dass moralische Aussagen viel zu heterogen seien als dass sie utilitaristisch begründet werden könnten. Er ebnete so den Boden für einen Intuitionismus, der bald darauf von G. E. Moore zu einem Emotivismus umformuliert wurde – allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass er diesen Übergang zum non-kognitivistischen Emotivismus, nach dem moralische Forderungen ohne Anspruch auf intersubjektive Gültigkeit zu Sachen des Gefühls und Geschmacks verkommen, als Befreiung von Sidgwick und dem Utilitarismus als Ganzem erachtete.
So wurde der Utilitarismus zum Intuitionismus, und der Intuitionismus schließlich zum Emotivismus. Einige Moralphilosophen der analytischen Philosophie wollten sich mit dieser Entwicklung nicht zufriedengeben, weshalb sie sich wieder auf die Kantische Deontologie zurückbezogen und versuchten, sie unter Berücksichtigung ihrer Unzulänglichkeiten neu aufzurollen und an wesentlichen Stellen neu zu denken.
Bevor wir auf den bedeutendsten dieser Korrekturversuche zu sprechen kommen, werden wir jedoch zunächst die ursprüngliche Kantische Deontologie vom Ansatz her erklären: Im direkten Anschluss an das Projekt der Aufklärung, der rationalen Rechtfertigung der Moral, war es Kants Vorhaben, die Moral tatsächlich durch den alleinigen Bezug auf die autonome Vernunft zu begründen. Faktisch war es jedoch so, dass Kant den Moralbestand aus dem christlichen Erbe übernahm und versuchte, gerade diesen rational zu begründen. Im Mittelpunkt seines Versuches standen dabei zwei Hauptthesen: Erstens, wenn die Gesetze der Moral rational sind, dann müssen sie für alle vernünftigen Menschen gleich sein, und zweitens, wenn die Gesetze der Moral für alle bindend sind, dann ist der Wille der Menschen, sie auszuführen, das entscheidende Kriterium dafür – und eben nicht die Fähigkeit der Menschen – diese Gesetze überhaupt zu befolgen. So war das Kantische Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral ein Projekt der Entwicklung eines rationalen Tests – dem Kategorischen Imperativ –, der die Maximen bestimmen sollte, nach der der menschliche Wille sich im Streben nach der Verwirklichung der Moralgesetze ausrichten sollte. Kants Kategorischer Imperativ galt dabei als Werkzeug mit der Funktion, die widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit von Handlungsmaximen zu testen. Dieser Anspruch auf widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit rührte daher, dass Kant die Welt in die Sinnenwelt (mundus sensibilis) und Geisteswelt (mundus intelligibilis) aufteilte, in dessen Rahmen der Mensch durch seine autonome Vernunft an der Geisteswelt teilnehme und dort im Rahmen des abstrakten moralischen Diskurses die Pflicht auferlegt bekomme, bestimmte Maxime als gesamtweltlich moralisch richtig auszuweisen. Aus diesem Grund bezeichnet man die Kantische Deontologie, entgegen des auf der Nutzenethik beruhenden Utilitarismus, auch als Pflichtethik. Ganz wesentlich war für Kant mit Rückbezug auf das Wesen der autonomen Vernunft dabei, jeglichen Bezug auf eine teleologische Dimension (wie zum Beispiel das Streben nach Glück oder die Verwendung des Schadensprinzips) oder äußeren Referenzpunkt (göttliche Gebote) aus dem Diskurs um die Rechtfertigung von Moral auszuschließen.
Die Kritik an der Kantischen Deontologie war einschneidend. Im Fokus der Kritik stand die fehlende Eignung des Kategorischen Imperativs, Maxime der Moral auf überzeugende Art und Weise abzuleiten. So waren fehlerhafte Argumentation und der Moral offenkundig widersprechende Maxime die Konsequenz des Kategorischen Imperativs. So schreibt MacIntyre, dass Kants eigene Argumente nicht nur grobe Fehler enthalten, es sei auch ganz einfach zu erkennen, dass viele unmoralische und triviale, nicht moralische Maxime durch Kants Prüfung ebenso überzeugend und manchmal noch überzeugender unterstützt werden als die moralischen Maxime, die Kant unterstützen will. „»Halte dein ganzes Leben alle Versprechen, bis auf eines«, »Verfolge alle, die falsche religiöse Überzeugungen haben« und »Iss im März am Montag immer Muscheln« bestehen die Prüfung Kants, denn sie alle können folgerichtig verallgemeinert werden.“
Ferner produzierte die strikte Trennung zwischen Sinnen- und Geisteswelt eine radikale Trennung der Rechtfertigung der Moral von der praktischen Vernunft, die sich zum Beispiel auf das Abwenden von Schaden oder den Gehorsam gegenüber des göttlichen Gebots ausrichten könnte, sodass Kant kaum sinnvolle Gründe dafür liefern konnte, das entsprechende moralische Handeln überhaupt zu motivieren.
Der einflussreichste Korrekturversuch im Anschluss an die Kantische Moralphilosophie war die Diskursethik von K.-O. Apel und J. Habermas, bei der sie zurückgehend auf den von L. Wittgenstein ausgehenden sprachpragmatischen Paradigmenwechsel innerhalb der Philosophie versuchten, die Moral über die sogenannte sprachpragmatische Transzendentalphilosophie rational zu begründen. Doch auch dieser Versuch muss heute vor dem Hintergrund, dass sich kaum Anhänger über den engen Kreis der Verfechter hinaus gefunden haben, faktisch als gescheitert gelten. So fasst Kuhn zusammen, dass alle Versuche einer Vernunftbegründung der Moral bislang zumindest in dem Sinne faktisch gescheitert sind, dass sie sich alle gegenseitig bekämpfen und keine Anhänger über den engsten Kreis ihrer jeweiligen Verfechter hinaus gefunden haben. In Bezug auf die Diskursethik fügt er hinzu: „Und dies gilt übrigens gleichermaßen für die Diskursethik in ihren verschiedenen Versionen. Diese Vorhaben sind und bleiben allesamt im besten Fall eben Projekte, ohne bereits berechtigten Anspruch auf eine erfolgreiche Durchführung erheben zu können.“
Letzten Endes kam es durch das Scheitern der beiden Hauptströmungen der Moralphilosophie, des Utilitarismus sowie der Kantischen Deontologie sowie der ihr anschließenden Korrekturversuche, die Moral auf ein rationales Fundament zu stellen, dazu, dass eine Kultur entstand, die als maßgeblich emotivistisch zu bezeichnen ist. So war es zwar so, dass einzelne Moralphilosophen ihrem Selbstverständnis nach nicht-emotivistische Positionen vertraten, die Inkommensurabilität unterschiedlicher Ansätze zur Begründung der Moral und ihre gegenseitigen Widerlegungen aber so zunahmen, dass hinter den einzelnen Begründungsversuchen notwendigerweise nichts weiter als nach außen hin verborgene Gefühls- und Geschmacksurteile steckten. MacIntyre fasste diese ausweglose Begebenheit mit Bezug auf D. Hume, Kant und S. Kierkegaard auf bemerkenswerte Weise zusammen: „So wie Hume die Moral auf die Leidenschaften zu gründen sucht, weil seine Argumentation die Möglichkeit ausgeschlossen hat, sie auf die Vernunft zu gründen, so gründet Kant sie auf die Vernunft, weil seine Argumentation die Möglichkeit ausgeschlossen hat, sie auf die Leidenschaften zu gründen, und Kierkegaard gründet sie auf die kriterienlose, absolute Wahl aufgrund dessen, was er für das zwingende Wesen der Überlegungen hält, die sowohl die Vernunft wie die Leidenschaften ausschließen. So beruhte die Bestätigung der jeweiligen Position in wesentlichen Teilen auf dem Scheitern der beiden anderen, und die wirksame Kritik jeder Position durch die anderen erwies sich unter dem Strich als Scheitern aller. Das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral war eindeutig gescheitert; und seitdem fehlte der Moral der uns vorausgegangenen Kultur – und anschließend auch unserer eigenen – jede öffentliche, gemeinsame logische Grundlage oder Rechtfertigung.“
Konsequenz war die Inkohärenz und die Verwahrlosung des moralischen Diskurses, welcher nichts anderes als die Selbstzerstörung von Moral und Ethik zur Folge hatte, die wir heute an allen Ecken und Enden der Welt mit gar nicht allzu großer Verwunderung erleben.
Aus dieser zutiefst emotivistischen und folglich gespaltenen modernen Moralphilosophie entstand ein gespaltener gesellschaftlicher Bewusstseinszustand, vor dessen Hintergrund alle so tun, als wäre das Projekt der Aufklärung, die Begründung der Moral durch die autonome Vernunft, geglückt, wohingegen die Art des zumeist doppelmoralischen Gebrauches vollkommen emotivistisch abläuft. Dieses ist ein sowohl den theoretischen moralischen Diskurs als auch die gesellschaftliche Praxis durchziehendes Merkmal, bei dem sich eine enorme Kluft zwischen moralischen Ausdrücken, die so formuliert werden, als wäre die rationale Rechtfertigung vollzogen, und der Art ihres Gebrauches, der zumeist emotivistisch und unter Vorzeichen höherer Interessen und instrumentellen Nutzens abläuft, auftut. So geht aus dieser der modernen Moralphilosophie zugrunde liegenden Inkohärenz eine Unstimmigkeit zwischen der moralischen Autonomie des Individuums und der systematischen Manipulation der die gesellschaftliche Ordnung bestimmenden Instanzen hervor, die die Paradoxie der modernen politischen Kultur auszeichnet. Konsequenz sind endlose Debatten mit unvereinbaren Standpunkten im Rahmen eines Gegensatzes zwischen einem auf Rechte gegründetem Individualismus und der auf Nutzen, Machtinteressen und Willkür ausgerichteten sozialen Ordnungssysteme. Gerade dieses Verhältnis steht stellvertretend für den Gegensatz zwischen dem individuellen Anspruch der Menschenrechte auf der einen und der Art ihres gesellschaftspolitischen Gebrauches auf der anderen Seite.
Wir möchten diesen zweiten Teil mit einem längeren Zitat von MacIntyre abschließen, welches es sich im Sinne einer Reflexion des bisher Gesagten lohnt, auf der Zunge zergehen zu lassen: „dass dem Menschen einfach in seiner Eigenschaft als Mensch solche Rechte [(Menschenrechte)] zu eigen sein sollten, erscheint im Licht der Tatsache natürlich etwas seltsam […], dass es nämlich bis fast zum Ende des Mittelalters in keiner alten oder mittelalterlichen Sprache einen Ausdruck gibt, der genau unserem »Recht« entspräche; dieser Vorstellung fehlt vor etwa 1400 im Hebräischen, Griechischen, Lateinischen und Arabischen, klassisch wie mittelalterlich, jede Ausdrucksmöglichkeit, ebenso im Altenglischen, im Japanischen sogar bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Daraus folgt selbstverständlich nicht, dass es keine Natur- oder Menschenrechte gibt; es folgt daraus nur, dass niemand hatte wissen können, dass es welche gab. Und zumindest das wirft einige Fragen auf. Aber wir brauchen uns nicht durch die Suche nach Antworten aus dem Konzept bringen zu lassen, denn die Wahrheit ist einfach: es gibt keine solchen Rechte, und der Glaube daran entspricht dem Glauben an Hexen und Einhörner. Der beste Grund für die forsche Behauptung, es gäbe keine solchen Rechte, ist von genau der gleichen Art wie der beste Grund, den wir für die Behauptung besitzen, es gäbe keine Hexen, und wie der beste Grund, den wir für die Behauptung besitzen, es gäbe keine Einhörner: alle Versuche, stichhaltige Gründe für die Überzeugung zu liefern, dass es solche Rechte gibt, sind gescheitert. Die philosophischen Verfechter der Naturrechte des 18. Jahrhunderts erklären an einigen Stellen, dass Behauptungen, dass der Mensch solche Rechte besitze, selbstverständliche Wahrheiten seien; aber wir wissen, dass es keine selbstverständlichen Wahrheiten gibt. Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts haben sich gelegentlich auf ihre und unsere Intuitionen berufen; aber wir sollten aus der Geschichte der Moralphilosophie doch wenigstens das gelernt haben, dass die Einführung des Wortes »Intuition« durch einen Moralphilosophen immer ein Zeichen dafür ist, dass bei der Beweisführung etwas gründlich danebengegangen ist. In der UN-Deklaration der Menschenrechte von 1949 wird rigoros eingehalten, was seither zur gängigen UN-Praxis geworden ist – es werden für welche Erklärung auch immer keine guten Gründe mehr geltend gemacht. Und der letzte Fürsprecher dieser Rechte, Ronald Dworkin […], räumt ein, dass das Bestehen solcher Rechte nicht nachgewiesen werden kann, bemerkt zu diesem Punkt jedoch, dass aus der Tatsache, dass eine Behauptung nicht nachgewiesen werden kann, nicht folgt, dass sie nicht zutrifft […]. Was zwar richtig ist, aber genauso gut für die Verteidigung der Behauptung, es gäbe Einhörner und Hexen, verwendet werden kann.“