… und Guillotinen
Die säkular-liberalen Menschenrechte als Spielart des westlichen Universalismus
Wir hatten im zweiten Teil festgestellt, dass die moderne Moralphilosophie es nicht vermochte, das Projekt der Aufklärung, d. h. die rationale Rechtfertigung der Moral, zum Abschluss zu bringen. Ganz im Gegenteil hatten wir aufgezeigt, dass ihr Scheitern in eine emotivistische Kultur mündete, welche durch die Inkommensurabilität der unterschiedlichen Ansätze zur Begründung der Moral und ihre gegenseitigen Widerlegungen gekennzeichnet war, was zu dem unmittelbaren Schluss führte, dass die jeweiligen Ansätze als nichts weiter zu bezeichnen sind als Ausdrücke verborgener Gefühls- und Geschmacksurteile.
Diese zutiefst gespaltene Moralphilosophie zog eine gespaltene gesellschaftliche Bewusstseinslage nach sich, die auf der einen Seite den äußeren Anschein zu vermitteln suchte, die rationale Rechtfertigung der Moral sei von Erfolg gekrönt gewesen, die auf der anderen Seite durch ihre durch Nutzen, Machtinteressen und Willkür geprägte emotivistische Haltung jedoch genau Gegenteiliges ausstrahlte. Wir hatten gesehen, dass genau diese Paradoxie einen wesentlichen Einfluss auf den modernen Menschenrechtsdiskurs hat: der Gegensatz zwischen dem Anspruch, die Moral rational gerechtfertigt zu haben, und die Gegenteiliges bedeutende emotivistische Haltung steht stellvertretend für den Gegensatz zwischen dem gesamtgesellschaftlich propagierten Universalitätsanspruch der Menschenrechte auf der einen und der Art ihres gesellschaftspolitischen Gebrauches auf der anderen Seite.
Unter Berücksichtigung des unmittelbaren Einflusses auf den modernen Menschenrechtsdiskurs/-gebrauch möchten wir an dieser Stelle noch einmal an das Scheitern der modernen Moralphilosophie anknüpfen, indem wir Bezug auf F. Nietzsche (Die fröhliche Wissenschaft, 1882) nehmen, der es wie kaum ein anderer innerhalb der westlichen Philosophie-Tradition vermochte, das Scheitern des Projekts der Aufklärung sowie die damit einhergehenden Konsequenzen zu antizipieren. Es war Nietzsches unter den sonstigen Philosophen herausstechende Leistung, nicht nur zu verstehen, dass die von dem Erfolg des Projekts der Aufklärung ausgehende Berufung auf Universalität in Wirklichkeit der Ausdruck eines subjektiven Willens war, sondern auch zu erkennen, was dessen tatsächliche Konsequenzen waren, nämlich eine „Kultur der Manipulation, in der die Sprache der Moral weithin zu einem Werkzeug im manipulativen Maskenspiel von Willen und Interessen herabgesunken ist“, so die Worte Kuhns.
So wurde der Bezug auf die Moral zu einem Werkzeug in den Diensten von Interesse und Macht, mit dessen Hilfe subjektive Entscheidungen zum Zwecke der Manipulation anderer gerechtfertigt wurden. Und haben wir heute tatsächlich etwas anderes als die Vorherrschaft des Manipulativen, bei dem durch den Verweis auf Universalität und Objektivität versucht wird, den Anschein von Rationalität zu wahren, der doch aber nichts anderes ist als moralischer Instrumentalismus? „Nein“ gibt Kuhn zu erkennen: „Der moralische Instrumentalismus mit seinen rein manipulativen Bestrebungen triumphiert, indem er kein anderes Kriterium als die effektive Wirksamkeit erlaubt.“
Und eben dieser Schlussfolgerung möchten wir im Folgenden noch etwas genauer nachgehen. Denn es ist nicht nur der moralische Universalismus, der sich im Rahmen der Berufung auf die Menschenrechte äußert, vielmehr ist es ein Universalismus, der die westliche Kultur von ihrer gesamten Anlage her durchzieht. Es ist ein Universalismus, der die grundlegende Legitimation des politischen Handelns darstellt, bei der die politischen Strategien durchwegs als von universellen Werten und Wahrheiten geleitet ausgewiesen werden. I. Wallerstein (Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus, 2010) fasst die Spielarten eben dieses Universalismus zusammen: Die erste bestehe in dem Argument, die Führer der pan-europäischen Welt verteidigten in ihrem politischen Handeln die Menschenrechte und förderten die Ausbreitung der Demokratie. Die zweite spreche vom „Kampf der Kulturen“, wobei man stets annehme, die westliche Zivilisation sei den anderen Zivilisationen überlegen, da sie die einzige sei, die sich auf die genannten universellen Werte und Wahrheiten stütze. Und die dritte Spielart sei die Annahme einer wissenschaftlich erwiesenen Überlegenheit des Marktes, das Konzept, Regierungen hätten keine andere Alternative als die Gesetzte der neoliberalen Wirtschaft zu akzeptieren und dementsprechend zu handeln.
Diese drei Spielarten, so führt er fort, seien allerdings alles andere als neu. Es handle sich dabei um sehr alte Themen, die während der gesamten westlichen Geschichte, mindestens seit dem 16. Jahrhundert, die „Rhetorik der Mächtigen“ und die Legitimation des (Post-)Kolonialismus grundsätzlich bestimmt haben. So sei die „Geschichte des Westens die Geschichte der Expansion europäischer Staaten und Völker in den Rest der Welt“, geprägt von „militärischen Eroberungen, ökonomischen Ausbeutungen und massiven Ungerechtigkeiten“. Das üblicherweise in den Mündern mitgeführte Argument lautete, die Expansion bzw. das moderne Analogon Intervention habe „etwas verbreitet, das abwechselnd als Zivilisation, wirtschaftliches Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung und/oder Fortschritt bezeichnet wird“. Jedoch stehen all diese Worte für die Berufung auf eben jenen durch universelle Werte und Wahrheiten gekennzeichneten westlichen Universalismus: „Alle diese Begriffe sind als Ausdrucksformen universeller Werte interpretiert worden, verankert in dem, was oft Naturrecht genannt wird. Man hat deshalb behauptet, dass diese Expansion nicht nur der Menschheit nütze, sondern auch historisch unvermeidlich sei. Die Sprache, in der man diese Handlungsweise gewöhnlich beschrieb, entstammte mal der Theologie, mal einer weltlich-philosophischen Weltanschauung.“
Im Zentrum der politischen und moralischen Struktur des so gelagerten modernen Weltsystems stehe also die Frage nach dem Recht zur Intervention; wohlgemerkt das Recht zur Intervention des Zivilisierten in nicht-zivilisierten Zonen, und das unter Rückbezug auf die seit 4 Jahrhunderten unveränderten Gründe: die Barbarei der Anderen, das Unterbinden von Praktiken, die universelle Werte verletzen, die Verteidigung Unschuldiger inmitten der grausamen Anderen sowie die Schaffung der Möglichkeit, universelle Werte zu verbreiten.
Die Intervention ist ein Recht, welches sich die Starken angeeignet haben. Es lässt sich nur schwer legitimieren, doch greifen die Intervenienten stets auf moralische Rechtfertigungen zurück: im 16. Jahrhundert ging die Rechtfertigung zurück auf das Naturrecht und das Christentum, im 19. Jahrhundert die Zivilisierungsmissionen und im 20. sowie 21. Jahrhundert sind es sowohl Menschenrechte als auch Demokratie. Allerdings geschieht der Rückgriff, wie wir anhand des Beispiels der säkular-liberalen Menschenrechte festgestellt haben, nicht auf tatsächlich universelle Werte und Wahrheiten, sondern auf diejenigen, die von den herrschenden Eliten festgelegt und per Diktum universalisiert worden sind. Das heißt, das Kriterium für das Recht auf Intervention ist kein globaler, sondern ein westlicher Universalismus, der aus einer Sammlung von Doktrinen und ethischen Ansichten besteht, die sich aus dem westlichen Kontext abgeleitet haben.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der westliche Universalismus die Verteidigung der Menschenrechte von Unterdrückten, zur gleichen Zeit aber auch die Ausbeutung durch die Starken gewährleistet. Es handle sich um eine „moralisch zweideutige Doktrin“, die die Verbrechen einiger angreife, die Verbrechen anderer aber legitimiere.
Deswegen verwundert es auch kaum, dass man auf Seiten der Intervenienten voller Enthusiasmus und Bewunderung schwärmt: „Gebe Gott, dass nicht nur Liebe zur Freiheit, sondern auch gründliche Kenntnis der Menschenrechte alle Nationen durchdringe!“ (B. Franklin), obgleich es sich auf Seiten der Unterdrückten ganz anders anhört: „Wenn man in Paris zwischen zwei und vier Uhr nachmittags das Wort Menschenrechte ausspricht, werden vor Schrecken alle Wangen bleich, und die Renten fallen. Menschenrechte – das ist die Guillotine!“ (L. Börnes, 1832).
Wie wahr es vor dem Hintergrund dieser moralisch zweideutigen Doktrin doch ist, was G. W. Bush dort aussprach, als er sich durch Wort und Tat anschickte, auf schier unnachahmliche Weise das Wesen der säkular-liberalen Menschenrechte zu verkörpern: „Kein Präsident hat jemals so viel für die Menschenrechte getan wie ich!“ Ja, George, da hast du ausnahmsweise mal Recht…
(I. A.)