Afghanistan und die Taliban sind das alles beherrschende Thema in Politik und Medien. Es entstand der Eindruck, als wären die Taliban plötzlich auf der Bildfläche erschienen und hätten Afghanistan aus dem nichts eingenommen. Immer wieder hörte man von offizieller Seite die Aussage, dass man die Lage falsch eingeschätzt habe. Alle schienen in Panik und mit der Situation überfordert zu sein. Beschränkt man sich auf die Bilder des Flughafens in Kabul, wo Menschenmengen rennen, klettern und sich panisch an Flugzeuge klammern, um ausgeflogen zu werden, d. h. nimmt man allein diese Bilder, die am Anfang die Medien dominierten, als Grundlage für die Einschätzung, könnte man an eine überraschende und unvorhergesehene Machtübernahme der Taliban glauben, auf die der Westen unvorbereitet schien, als hätte er zu diesem Zeitpunkt nicht mit den Taliban rechnen können.
Selbst ohne politisches Hintergrundwissen hätte man von Anfang an erkennen müssen, dass die Ereignisse in Afghanistan den US-amerikanischen Segen haben. Von Seiten der USA kamen keine Drohungen gegen die Taliban und keine Aufforderung, die Macht unverzüglich an den „rechtmäßig“ gewählten Präsidenten Aschraf Ghani zurückzugeben, der mit einem Hubschrauber voll Geld Afghanistan „couragiert“ verlassen hatte. Die Drohungen des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden betrafen ausschließlich den Fall, dass die Taliban US-Kräfte angreifen. Damit brechen die USA mit ihrer 20-jährigen Tradition in Afghanistan. Im Jahr 2001 brachen sie dort einen Krieg vom Zaun, obwohl die damals regierenden Taliban sich nach den Anschlägen vom 11. September sehr kooperativ gezeigt hatten. Man sollte also meinen, dass Biden angesichts der Einnahme Afghanistans durch die Taliban beunruhigt sein und mit einem Militärschlag drohen müsste, doch Fehlanzeige. Er wirkte geradezu tiefentspannt. Ebenso wenig hörte man von den Taliban irgendwelche Siegesrufe, dass man über die USA und den Westen gesiegt habe. Die Reaktionen auf beiden Seiten sind nicht die erwarteten. Untypisch für die politische Lage war auch, dass die westlich ausgebildete afghanische Armee keinerlei Widerstand leistete und keine Versuche unternahm, die Taliban aufzuhalten.
Wie überraschend kann die Machtübernahme der Taliban sein, wenn die USA seit Jahren unter Ausschluss der afghanischen Regierung mit den Taliban verhandelten und am Ende ein Abkommen mit ihnen schlossen? Die deutschen Medien berichteten regelmäßig über diese Vorgänge. Am 19. November 2018 konnte man beispielsweise online bei N-TV lesen: „Die USA ändern ihre Afghanistan-Strategie: Statt Bomben sollen direkte Gespräche mit den Taliban die Wende am Hindukusch schaffen. Schon mehrmals haben sich beide Seiten getroffen. Die Regierung in Kabul ist von den Gesprächen ausgeschlossen.“ Weiter hieß es: „Es war das dritte direkte Treffen von Vertretern der US-Regierung mit den Taliban seit Anfang des Sommers.“ Den US-amerikanischen Plan und die Rolle, die die Taliban darin spielen sollten, erwähnte der Artikel ebenfalls: „US-Medienberichten zufolge hatte die Trump-Regierung ihre Topdiplomaten angewiesen, direkte Gespräche mit den Taliban zu suchen, um den Krieg zu beenden.“ Die Medien berichteten regelmäßig über die Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban, die kein Geheimnis waren. So schrieb STERN.DE am 1. August 2019: „Die USA und die Taliban erwarten möglicherweise einen Durchbruch in ihren Gesprächen über Frieden in Afghanistan.“ Dort konnte man auch lesen: „Sieben Verhandlungsrunden hat der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad dafür bisher mit den Taliban geführt. Wie ein Wirbelwind fegte er vom Verhandlungsort Doha nach Kabul, Brüssel, Berlin, Islamabad und Washington.“ In den letzten Jahren hat es immer wieder Treffen und Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban gegeben, aus denen schließlich am 29. Februar 2020 ein Abkommen hervorging. Dies alles blenden die Medien aktuell aus, weil es medienwirksamer ist, die Taliban als frauenfeindliche Islamisten darzustellen, die Afghanistan überrannt hätten und nun die Scharia einführen wollen. Damit schürt man die Angst der Menschen vor dem Islam und den Muslimen.
Der Afghanistaneinsatz hatte keine höheren Ziele, sondern ausschließlich wirtschaftliche und politische Interessen. Es ging nie um Menschenrechte, den Kampf gegen Terror, Sicherheit oder Demokratie. Deshalb hatten die USA auch kein Problem damit, ein Abkommen mit den Taliban zu schließen, sofern sie ihre Interessen dadurch weiter wahren können. In Deutschland durfte das wahre Motiv für den Afghanistaneinsatz nie ausgesprochen werden. Als der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler diesen Tabubruch beging, musste er 2010 zurücktreten, nachdem er Folgendes sagte: „Meine Eischätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren […].“ So, wie Deutschland für seine wirtschaftlichen Interessen einen 20-jährigen Militäreinsatz mitmachte, wird es sich für ebendiese Interessen mit den Taliban einlassen. Am Ende sollte niemand überrascht sein.