Die daʿwa eines Muslims orientiert sich am Beispiel des Propheten Muḥammad (s.). Er ist der Maßstab und das Vorbild für die Einladung der Menschen zum Islam und für jegliche Anstrengung, den Islam vollständig umzusetzen. Seine Methode ist bindend. Dennoch beschreibt Allah (t.) die daʿwa des Propheten Nūḥ auf außergewöhnlich detaillierte Weise im Koran, wie es bei fast keinem anderen Propheten der Fall ist. Auch wenn der Koran viel mehr über andere Propheten preisgibt, liegt der Schwerpunkt ihrer Geschichten nicht auf ihrer daʿwa. Die Geschichte Mūsās (a.) beginnt beispielsweise schon mit seinem Säuglingsalter und berichtet in Einzelheiten über seine Wunder. Auch über Yūsufs Leben wird im Koran viel berichtet, etwa wie seine Brüder ihn in den Brunnen warfen, wie die Frau seines Herrn ihn zu verführen versuchte und über seine Zeit im Gefängnis und das Wiedersehen mit seinen Brüdern. Nūḥ (a.) ist hingegen der einzige Prophet, dessen daʿwa im Koran so ausführlich beschrieben ist. Wir erfahren nicht nur, dass er zu seinem Volk entsandt wurde, sondern auch, auf welche Art er die Menschen zum Glauben aufrief. Allah (t.) erwähnt sogar die Zeitspanne, in der Nūḥ (a.) dies tat:
﴿وَلَقَدْ أَرْسَلْنَا نُوحًا إِلَى قَوْمِهِ فَلَبِثَ فِيهِمْ أَلْفَ سَنَةٍ إِلَّا خَمْسِينَ عَامًا﴾
Und wahrlich, Wir sandten Nūḥ zu seinem Volk, er weilte unter ihnen ein Jahrtausend weniger fünfzig.[29:14]
Hierbei handelt es sich nicht um das Alter Nūḥs, sondern um die Zeit seiner daʿwa. Die Menschen sollen unbedingt von Nūḥs Geschichte erfahren, denn Allah (t.) fordert Muḥammad (s.) auf:
﴿وَاتْلُ عَلَيْهِمْ نَبَأَ نُوحٍ﴾
Und trage ihnen die Geschichte Nūḥs vor.[10:71]
Nūḥ (a.) war einer der ersten Gesandten in der Menschheitsgeschichte, er war auch einer der ersten, die sich der daʿwa widmeten. In der Zeit von Nūḥ (a.) trat der širk, also der Götzenglaube, prominent in Erscheinung, so dass es notwendig wurde, die Menschen zum tauḥīd, zum Glauben an den einzigen Gott, zurückzuführen. Vom tauḥīd bis zum širk war es ein schleichender Prozess. Das Volk Nūḥs war nicht immer ein Volk von Götzenanbetern. Bevor der Götzenglaube dominierte, gab es zahlreiche rechtschaffene Menschen. Die Menschen gingen irgendwann dazu über, Statuen von ihren Verstorbenen anzufertigen und aufzustellen, um an ihre Rechtschaffenheit zu erinnern. Zu den Statuen kamen kleine Figuren hinzu, die die Menschen zuhause aufstellten. All dies geschah zunächst nur in Gedenken an die Toten und die Gesellschaft sah nichts Schlimmes darin. Die Menschen schrieben den Statuen und Figuren anfangs noch keine göttlichen Eigenschaften zu und behandelten sie wie gewöhnliche Bilder. Auf den ersten Blick wirkt all das relativ harmlos, doch es war der erste Schritt in Richtung Götzenanbetung. Von Generation zu Generation vergaßen die Menschen, warum diese Figuren überhaupt existierten. Sie kannten ihre Namen, aber sie verknüpften diese nicht mehr mit den Menschen, zu deren Ehren sie aufgestellt wurden. Ihnen war der Sinn der Statuen nicht mehr bekannt. In dieser Phase begannen sie den Figuren selbst eine Bedeutung beizumessen, auch wenn sie in ihnen noch keine Götzen sahen. Aber in dem Moment, in dem eine Figur nicht mehr als tote Materie betrachtet wird, an der man wie an einem gewöhnlichen Stein vorbeigeht, reißt man die Tür zum Götzenglauben auf. Die Menschen beginnen Handlungen zu vollziehen, durch die die Statuen überhöht werden, indem sie beispielsweise darauf achten, dass sich kein Staub darauf ablegt. Auch das stellt noch keine Anbetung der Figuren dar, aber sobald man Dinge mit diesen Handlungen verknüpft, ist es širk. Schließlich dachten die Menschen, dass die Figuren Positives bewirken könnten, wenn man sie berührt oder wenn man etwas an ihnen reibt wie Geld, das sich dadurch vermehren soll. Noch heute gibt es ähnliche Vorstellungen, etwa dass das Streicheln des Bauchs einer Buddha-Figur Glück bringe. Auf diese Weise fand der Götzenglaube allmählich Einzug in das Volk von Nūḥ (a.). Was scheinbar harmlos als Andenken an die Toten begann, mündete im Götzenglauben und in der Vielgötterei. Nūḥs Volk hielt hartnäckig an seinen Götzen fest, die sogar noch die Namen jener Menschen trugen, die die Figuren ursprünglich abbilden sollten.
﴿وَقَالُوا لَا تَذَرُنَّ آَلِهَتَكُمْ وَلَا تَذَرُنَّ وَدًّا وَلَا سُوَاعًا وَلَا يَغُوثَ وَيَعُوقَ وَنَسْرًا﴾
Sie (die Götzenanbeter) sagten: „Lasst eure Götter nicht im Stich. Und verlasst weder Wadd noch Suwāʿ noch Yaġūṯ und Ya‘ūq und Nasr.“[71:23]
Die Götzenanbeter zur Zeit von Nūḥ unterschieden sich kaum von den Götzenanbetern, auf die Muḥammad (s.) später traf.
Die Sure „Nūḥ“ beginnt mit den folgenden Worten:
﴿إِنَّا أَرْسَلْنَا نُوحًا إِلَى قَوْمِهِ أَنْ أَنْذِرْ قَوْمَكَ مِنْ قَبْلِ أَنْ يَأْتِيَهُمْ عَذَابٌ أَلِيمٌ﴾
Wahrlich, Wir entsandten Nūḥ zu seinem Volk (und sprachen:) „Warne dein Volk, eine schmerzliche Strafe bevor über sie kommt.“[71:1]
Die daʿwa Nūḥs beginnt also mit einer Warnung an sein Volk, dem die Chance gegeben wird, der Strafe Allahs zu entgehen, wenn es sich rechtleiten lässt. Denn Allah (t.) bestraft kein Volk, das nicht zuvor Kenntnis von der Wahrheit erhalten hat. Nūḥ (a.) setzte aber nicht nur die Strafandrohung als Mittel ein, um die Menschen zum Glauben an Allah (t.) zu bewegen. Er teilte ihnen außerdem mit, dass Allah (t.) ihnen Aufschub gewähren und ihnen sogar vergeben würde, wenn sie Abstand nähmen vom Götzenglauben. Mehr noch, er zeigte ihnen auf, welche Gegenleistung sie erwartet, wenn sie an Allah (t.) glauben:
﴿اسْتَغْفِرُوا رَبَّكُمْ إِنَّهُ كَانَ غَفَّارًا يُرْسِلِ السَّمَاءَ عَلَيْكُمْ مِدْرَارًا وَيُمْدِدْكُمْ بِأَمْوَالٍ وَبَنِينَ وَيَجْعَلْ لَكُمْ جَنَّاتٍ وَيَجْعَلْ لَكُمْ أَنْهَارًا﴾
Sucht Vergebung bei eurem Herrn; denn Er ist Allvergebend. Er wird Regen für euch in Fülle herniedersenden; und Er wird euch mit Vermögen und Kindern ausstatten und wird euch Gärten bescheren und für euch Flüsse strömen lassen.[71:10-12]
Als die Götzenanbeter Nūḥ (a.) fragten, welchen Nutzen sie vom Glauben an Allah (t.) hätten, sagte er ihnen als Lohn Reichtum, Kindersegen und ein erfülltes Leben zu. In der daʿwa ist es grundsätzlich wichtig, die Menschen sowohl mit der Strafe Allahs als auch mit Seiner Belohnung zu konfrontieren, wenn es darum geht, sie an die Einhaltung der islamischen Gesetze zu erinnern. Dieses Mittel setzte schon Nūḥ (a.) bei seiner daʿwa ein.
Aus dem Koran geht hervor, dass Nūḥ (a.) auf viele verschiedene Arten versucht hatte, sein Volk von der Existenz Allahs zu überzeugen. Er sprach ihren Verstand an und versuchte ihren Blick auf die Realität zu richten, in der klare Beweise für die Existenz Allahs sind. Im Koran heißt es:
﴿مَا لَكُمْ لَا تَرْجُونَ لِلَّهِ وَقَارًا وَقَدْ خَلَقَكُمْ أَطْوَارًا أَلَمْ تَرَوْا كَيْفَ خَلَقَاللَّهُ سَبْعَ سَمَوَاتٍ طِبَاقًا وَجَعَلَ الْقَمَرَ فِيهِنَّ نُورًا وَجَعَلَ الشَّمْسَ سِرَاجًا وَاللَّهُ أَنْبَتَكُمْ مِنَ الْأَرْضِ نَبَاتًا ثُمَّ يُعِيدُكُمْ فِيهَا وَيُخْرِجُكُمْ إِخْرَاجًا وَاللَّهُ جَعَلَ لَكُمُ الْأَرْضَ بِسَاطًا لِتَسْلُكُوا مِنْهَا سُبُلًا فِجَاجًا﴾
Was ist mit euch, dass ihr Allah nicht (in der Ihm gebührenden Weise) ehrt, wo Er euch doch in (verschiedenen) Phasen erschaffen hat? Habt ihr nicht gesehen, wie Allah sieben aufeinander geschichtete Himmel erschaffen hat und den Mond als ein Licht in sie gesetzt hat? Und gemacht hat Er die Sonne zu einer Leuchte. Und Allah hat euch wie die Pflanzen aus der Erde wachsen lassen. Dann wird Er euch wieder in sie zurückkehren lassen, und Er wird euch dann aus ihr hervorbringen. Und Allah hat die Erde für euch zu einer ausgelegten Fläche gemacht, auf dass ihr auf ihren gangbaren Wegen ziehen möget.[71:13-20]
Nūḥ (a.) lenkte das Augenmerk der Götzenanbeter auf die Entwicklung des Menschen, auf die Himmel und auf die Himmelskörper, um ihnen zu verdeutlichen, dass dahinter eine gewaltige Macht steckt und nicht etwa tote Materie, die durch Menschenhand zu Figuren geformt wurde. Die Götzenanbeter sollten über die Schöpfung nachdenken und sich fragen, ob es möglich ist, dass Figuren aus Stein die Himmel, den Mond, die Sonne und die Erde erschaffen haben. Ihnen sollte das Irrationale dieses Gedankens bewusst werden.
Die daʿwa Nūḥs war sehr reflektiert. Er lud die Menschen sowohl öffentlich als auch im Geheimen zum Glauben an Allah (t.) ein, da er auch jene Menschen erreichen wollte, die sich möglichweise nicht trauten, ihren Glauben öffentlich zu machen, und nur aus Angst vor der Reaktion der Gesellschaft am Götzenglauben festhielten. Nūḥ (a.) wollte es ihnen leicht machen und trat deshalb im Geheimen an sie heran. Die Angst vor negativen Konsequenzen sollte nicht das Hindernis sein zwischen den Menschen und dem Glauben an Allah (t.).
Wie war nun die Reaktion der Götzenanbeter auf Nūḥs daʿwa? Auch darüber berichtet der Koran:
﴿وَإِنِّي كُلَّمَا دَعَوْتُهُمْ لِتَغْفِرَ لَهُمْ جَعَلُوا أَصَابِعَهُمْ فِي آَذَانِهِمْ وَاسْتَغْشَوْا ثِيَابَهُمْ﴾
Und sooft ich sie einlud, auf dass Du ihnen vergeben mögest, steckten sie ihre Finger in die Ohren und hüllten sich in ihre Gewänder.[71:7]
Die Götzenanbeter wollten von der daʿwa Nūḥs nichts wissen und steckten sogar ihre Finger in die Ohren, um seine Worte nicht zu hören, was den Grad ihrer Ablehnung widerspiegelt. Nūḥ (a.) gab nicht auf und versuchte durch Gesten zum Glauben an Allah (t.) aufzurufen, doch die Götzenanbeter zogen ihre Gewänder über sich, um auch nichts zu sehen. Sie verschlossen sich der daʿwa völlig. Je mehr Nūḥ (a.) die Götzenanbeter zum Glauben an Allah (t.) aufrief und sie aufforderte, von ihrem Götzenglauben abzulassen, desto mehr lehnten sie seine Botschaft ab. Dies lag jedoch nicht an Nūḥ (a.), denn er hatte alle Möglichkeiten der daʿwa ausgeschöpft und all seine Zeit der daʿwa gewidmet, wie er selbst sagt:
﴿رَبِّ إِنِّي دَعَوْتُ قَوْمِي لَيْلًا وَنَهَارًا﴾
Mein Herr, ich habe mein Volk bei Nacht und bei Tag (zum Glauben) aufgerufen.[71:5]
Folglich hatte sich Nūḥ (a.) Tag und Nacht über einen Zeitraum von 950 Jahren der daʿwa gewidmet. Seine Bitte an Allah (t.), alle Ungläubigen zu vernichten und keinen einzigen von ihnen übrig zu lassen, erfolgte nach dieser langen Zeit der daʿwa, die Nūḥ (a.) auf unterschiedliche Arten umsetzte. Er wurde beleidigt, verlacht, für verrückt erklärt und der Lüge bezichtigt und zeigte dennoch diese Standhaftigkeit und Ausdauer. Als von Allah (t.) schließlich der Befehl an Nūḥ (a.) erging, ein Schiff zu bauen, spotteten die Götzenanbeter über ihn und fragten, wo die angekündigte Strafe bleibe. Da Nūḥ (a.) als Prophet gescheitert sei, wolle er ihnen jetzt weißmachen, dass er Zimmermann sei. Die Reaktion der Götzenanbeter auf Nūḥ (a.) und seine daʿwa erinnert stark an die Reaktion der Götzenanbeter auf die daʿwa Muhammads (s.). Die Parallelen sind nicht zufällig, weil der Unglaube im Kern gleich bleibt und sich die Reaktion auf den Islam immer in Angriffen und Diffamierungen statt in Argumenten äußert. Das ist heute nicht anders.
Warum brach Nūḥ (a.) nach 950 Jahren die daʿwa ab? Weshalb vollendete er nicht die 1000 Jahre? Aufgeben war für Nūḥ (a.) nie eine Option. Trotz aller Hindernisse beendete er die daʿwa nicht aus Hoffnungslosigkeit. Vielmehr war es die Entscheidung Allahs, Der Nūḥ (a.) wissen ließ, dass niemand sich mehr zum wahren Glauben bekennen wird. Im Koran heißt es:
﴿وَأُوحِيَ إِلَى نُوحٍ أَنَّهُ لَنْ يُؤْمِنَ مِنْ قَوْمِكَ إِلَّا مَنْ قَدْ آَمَنَ فَلَا تَبْتَئِسْ بِمَاكَانُوا يَفْعَلُونَ وَاصْنَعِ الْفُلْكَ بِأَعْيُنِنَا وَوَحْيِنَا وَلَا تُخَاطِبْنِي فِيالَّذِينَ ظَلَمُوا إِنَّهُمْ مُغْرَقُونَ﴾
Und es wurde Nūḥ offenbart: „Keiner von deinem Volk wird glauben, außer jenen, die bereits geglaubt haben, sei darum nicht traurig über ihr Tun. Und baue das Schiff unter Unserer Aufsicht und nach Unserer Anweisung, und lege bei Mir keine Fürsprache für diejenigen ein, die gefrevelt haben; denn diese werden ertrinken.“[11:36-37]
Es war also weder das ablehnende Verhalten der Götzenanbeter, das zum Abbruch der daʿwa führte, noch die geringe Zahl derjenigen, die am Ende Nūḥ (a.) folgten und seinen Glauben annahmen. Der Erfolg oder Misserfolg der daʿwa darf somit nur die Frage bestimmen, welches das beste Mittel der daʿwa ist, nicht aber, ob diese fortgesetzt werden soll. Dies gilt für die islamische daʿwa insgesamt.