„Ich möchte nicht auf meine Religion reduziert werden!“ Eine Aussage, die gerade im Kontext identitätspolitscher Debatten von einigen Muslimen immer wieder zu hören ist. Bedenklich erscheint sie vor allem deshalb, weil sie zunehmend von Personen getroffen wird, die nach außen hin religiös auftreten. Zudem suggeriert die Aussage, dass es neben dem Islam weitere identitätsstiftende Merkmale gäbe, durch die sich jene Personen wesentlich auszeichnen würden. Oder anders formuliert: Sie möchten von der Mehrheitsgesellschaft nicht primär als Muslime wahrgenommen werden!
Dass in dieser Frage Unklarheit zu herrschen scheint, kann auf zwei Ursachen zurückgeführt werden. Zum einen operieren noch immer viele Muslime mit einem verengten Religionsbegriff, der den Islam auf seine spirituelle Komponente reduziert. Auf diese Weise könne bei der Identitätsbildung auch nur dieser Aspekt, der ja bloß eine Facette des menschlichen Lebens bildet, berücksichtigt werden. Zum anderen hängt die oben genannte Aussage mit der Definition des Begriffs Identität zusammen bzw. damit, woraus sich die Identität eines Menschen zusammensetzt. Gerade dieser Punkt ist ein zentrales Thema der sogenannten Identitätspolitik und gleichzeitig das Abgrenzungsmerkmal zwischen linken und rechten Identitätspolitiken. An dieser Stelle wird deutlich, warum ein korrektes Identitätsverständnis für die muslimische Gemeinschaft unverzichtbar ist und welche soziopolitischen Folgen das oben genannte Statement nach sich zieht. Mit der unreflektierten Übernahme einer bestimmten Definition werden in aller Regel auch die dahinterstehenden politischen Konzepte übernommen. Oft ist Muslimen nicht bewusst, dass sie in ihrer politischen Arbeit beispielsweise von einem liberalen Menschen- oder Gesellschaftsbild ausgehen, wenn sie auf reaktive und unreflektierte Weise versuchen, für die eigenen Rechte einzutreten oder auf Diskriminierung aufmerksam zu machen. Die daraus resultierenden Widersprüche spiegeln sich schließlich in ihrer Argumentation und ihren Standpunkten wider. Die obige Aussage ist exemplarisch dafür.
Dass einige Muslime es dennoch als Makel betrachten, wenn sie im öffentlichen Diskurs lediglich auf den Islam reduziert werden, zeigt deutlich, dass hier von einem postmodernen Identitätsverständnis ausgegangen wird. Danach sei Identität kein festgeschriebenes Merkmal, sondern ein soziales Konstrukt und demzufolge wandelbar. Der renommierte US-Psychologe und Vertreter des postmodernen Ansatzes, Kenneth J. Gergen, fasst diese Position wie folgt zusammen: In der postmodernen Welt gibt es keine individuelle Grundlage, der man treu bleibt oder verbunden ist. Die eigene Identität ersteht fortwährend neu, umgeformt und anders ausgerichtet, während man sich durch das Meer der ständig wechselnden Beziehungen fortbewegt. In der Frage des “Wer bin ich?” handelt es sich um eine Welt, in der es von provisorischen Möglichkeiten wimmelt. Dieser Beschreibung zufolge sei Identitätsbildung ein Prozess, der den Menschen auf keine Kernidentität festlegt. Eine Alternative dazu sei Gergen zufolge eine gemischte Persönlichkeit, die sich fortwährend aus allen verfügbaren Quellen gewisse Elemente leiht und auf dieser Basis eine eigene Identität zusammenschustert. Die besagten Elemente können dabei von sexueller Orientierung bis zum ausgeübten Beruf reichen, über die sich der in der Postmoderne lebende Mensch definieren könne. Wichtig hierbei ist, dass die so gewählte Identität flexibel und von vorübergehender Dauer ist.
Dieser Ansatz kommt heute in der gesellschaftlichen Realität deutlich zum Ausdruck und lässt sich insbesondere bei verschiedenen Protestgruppen wie der LGBT-Bewegung oder Black Lives Matter beobachten. In beiden Fällen machen die betroffenen Personen nicht nur auf die Diskriminierung aufmerksam, die sie wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Hautfarbe erfahren haben. Vielmehr bilden diese beiden Aspekte die jeweils zentralen Identitätsmerkmale, über die sich die besagten Gruppen definieren und infolgedessen zu einer Minderheit formieren. Auf diese Weise kann jedes persönliche Merkmal – wie zum Beispiel sexuelle Orientierung oder Hautfarbe – zu einem identitätsstiftenden Faktor erhoben werden, aus dem heraus sich politische Ansprüche ableiten lassen. Kritiker wenden hier ein, dass eine auf diesem Verständnis fußende Identitätspolitik einen gesamtgesellschaftlichen Konsens verhindere und den Rechten damit in die Hände spiele. Für den Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hängt der Aufstieg populistischer bzw. rechter Parteien in den liberalen Demokratien mit eben diesem Phänomen zusammen. Im Vergleich zur Vergangenheit richte beispielsweise die Linke ihr Augenmerk nicht mehr primär darauf, weitestgehend ökonomische Gleichheit herzustellen. Stattdessen konzentriere sie sich heute darauf, die Interessen einer Vielfalt von benachteiligten Gruppen zu unterstützen, wie der von Schwarzen, der LGBT-Community oder von Frauen. In der Konsequenz entstehe kein Zugehörigkeitsgefühl zur Gesellschaft oder einer sozialen Schicht, sondern zu einer konstruierten Minderheitengruppe, mit der man ein spezifisches bzw. partikulares Interesse teilt.
Der Islam setzt mit Blick auf die Identität des Menschen an ganz anderer Stelle an. Weder die phänotypischen Merkmale wie Hautfarbe, Ethnie oder Geschlecht noch bestimmte Präferenzen in sexuellen Fragen spielen im Einzelnen für die Identitätsbildung eine Rolle. Das wesentliche Merkmal des Menschen ist vielmehr seine im Leben erworbene Weltanschauung. Denn aus ihr geht eine bestimmte Denk- und Handlungsweise hervor, die sich auf praktischer Ebene bei nahezu jeder Entscheidung im Leben äußert. Beispielhaft hierfür kann die sexuelle Neigung herangezogen werden. Dominiert in einer Gesellschaf das liberale Menschenbild, so entscheidet das Individuum selbst, wie es seine sexuellen Bedürfnisse befriedigen möchte, ohne an irgendwelche moralischen Normen gebunden zu sein. Doch für welche Option sich der Einzelne am Ende entscheidet, die sexuelle Orientierung bleibt ein Aspekt der menschlichen Persönlichkeit, die aus dem resultiert, was den Menschen tatsächlich ausmacht: seiner Vorstellung über die Welt, das Leben sowie seiner Rolle als Mensch darin. Die sexuelle Neigung zu einem oder gar dem zentralen Identitätsmerkmal zu erheben, würde dagegen zu der absurden Vorstellung führen, dass sie ein maßgeblicher Einflussfaktor dafür wäre, die eigene Wahrnehmung der Welt zu ordnen und diese entsprechend zu deuten.
Genau an diesem Punkt unterscheidet sich das islamische Identitätsverständnis vom dem, postmoderner Anschauungen. Einerseits betrachtet der Islam den Menschen in all seinen Facetten, ohne ihn dabei auf einen einzelnen Aspekt zu reduzieren. Andererseits nimmt der Islam eine bedeutsame Unterscheidung vor: so wird der Mensch nicht hinsichtlich seiner Hautfarbe, seines ethnischen Hintergrundes oder seines Geschlechts bewertet. Ausschlaggebend ist der weltanschauliche Standpunkt, den der Mensch in dieser Welt einnimmt und den er sich selbst aneignet.
Insofern erscheint die zu Anfang erwähnte Aussage unter islamischen Gesichtspunkten nicht nur bedenklich. Neben einem postmodernen Begriff von Identität transportiert sie zudem das eurozentrische Religionsverständnis, das im völligen Widerspruch steht zur ganzheitlichen Sicht des Islam auf den Menschen und das Leben. Im Grunde genommen schafft es gerade die Postmoderne nicht, eine umfassende Identität zu bieten, die sämtliche Dimensionen des Menschen berücksichtigen würde – und dies ist auch nicht ihr Anspruch. Der einzige Impuls, den postmoderne Anschauungen in dieser Frage bieten können, ist ein zugespitzter Individualismus; er versetzt das Individuum in die Situation, aus der Vielzahl an teilweise sich widersprechenden Sinnangeboten eine eigene Identität zusammen zu basteln. Dass diese folgerichtig nur von vorübergehender Dauer sein kann, sehen Verfechter des postmodernen Ansatzes zudem als große Errungenschaft und nicht etwa als Makel.
Für die Muslime hingegen muss eines klar sein: ein einfacher Blick in die islamischen Quelltexte gibt Aufschluss darüber, dass der Islam ein ganzheitlicher Lebensentwurf ist und darüber hinaus einen gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch erhebt! Er ist somit kein Puzzlestück, das sich neben einer Vielzahl an partikularen und optional gedachten Identitätsangeboten einreihen oder als einzelner Baustein ein einem größeren Identitätskonstrukt verwenden lässt. Dieser Gedanke muss der Ausgangspunkt der politischen Arbeit sein. Denn wie möchten Muslime hierzulande für ihre islamischen Interessen einstehen, wenn sie auf eben diesen Islam nicht reduziert werden wollen?