Als Kalifat-Redaktion freuen wir uns, dem englischsprachigen Teil unserer Leserschaft das Strategic Estimate 2022 vorstellen zu können. Bei dem Strategic Estimate handelt es sich um die jährliche Analyse der weltpolitischen Lage von Adnan Khan bzw. dessen Denkfabrik theGeopolity, bei der die wichtigsten geopolitischen Ereignisse und Trends in den Blick genommen werden.
Das aktuelle Papier schließt in seiner Betrachtung an die Entwicklungen des Jahres 2021 an, in dem sich die USA vor den Augen der Weltöffentlichkeit gedemütigt in die Liste der in Afghanistan geschlagenen Supermächte einreihen mussten. Nach zwei Dekaden fanden sich die Vereinigten Staaten in derselben Lage wieder wie einst das British Empire und die Sowjetunion, die in Afghanistan ausbluteten, je länger der Krieg andauerte. Das jüngste Afghanistan-Debakel akzeleriert die bereits seit einem Jahrzehnt andauernde Debatte über den Niedergang der USA und verstärkt die damit in Verbindung stehende Wahrnehmung einer geschwächten Supermacht. Hinzu kommt die Präsidentschaft von Donald Trump, die neben innenpolitischen Verwerfungen vor allem zu einer Schwächung der internationalen Beziehungen der USA geführt bzw. diese erheblich belastet hat. Der amtierende US-Präsident Joe Biden steht nun vor der Aufgabe, die außenpolitischen Beziehungen zu revitalisieren und die innergesellschaftliche Polarisierung zu überwinden, um die globale Machtstellung der Vereinigten Staaten erneut zu festigen. Auf strategischer Ebene muss sich die US-Regierung zudem mit makropolitischen Trends auseinandersetzen, die von dem National Intelligence Council in dem im April 2021 veröffentlichten Papier Global Trends 2040 umrissen werden. Zu den wichtigsten mittel- bis langfristigen Trends, die zu gesellschaftlichen Belastungen, der Intensivierung zwischenstaatlicher Konflikte und insgesamt zu katastrophalen Erschütterungen führen könnten, zählen der globale Klimawandel, demografische Veränderungen bzw. Überalterungsprozesse, gefährliche Krankheiten, Finanzkrisen und disruptive Technologien.
Mit Blick auf Russland fokussiert das Papier auf die regierungskritischen Proteste des vergangenen Jahres, die trotz der im Jahr 2020 gesetzlich verankerten Dominanz der sicherheitspolitischen Klasse in zahlreichen Regionen des Landes ausbrachen. Im Mittelpunkt der Demonstrationen stand der vom Westen unterstützte Oppositionsführer Alexej Nawalny, der durch russische Sicherheitsbehörden festgenommen und anschließend inhaftiert wurde. Vor dem Hintergrund der Bestrebungen Russlands, erneut zu einem Akteur mit globalem Einfluss aufzusteigen, gewinnt die innere Stabilität des Landes zunehmend an Bedeutung und bildet eine strategische Voraussetzung zur Erreichung dessen internationaler Ziele. Im Zuge des kontroversen Wahlprozesses in Belarus im Jahre 2020 und der damit einhergehenden Destabilisierung des Landes, zielte Russland im vergangenen Jahr durch unterschiedliche Maßnahmen auf die systemische Integration Weißrusslands, das seit dem Sturz der prorussischen Regierung in Kiew im Jahre 2014 der letzte verbliebende osteuropäische Verbündete Russlands ist. Auch die aktuellen Spannungen an der Ukrainisch-Russischen Grenze sowie das strategische Beziehungsgeflecht zwischen den USA, Russland und China werden in dem Papier diskutiert.
Das Strategic Estimate 2022 skizziert ebenso die aktuellen Entwicklungen in der Volksrepublik China. So feierte die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) im Juli 2021 ihr hundertjähriges Jubiläum und untermauerte in diesem Kontext ihre zentrale Botschaft, dass nur sie in der Lage sei, das Reich der Mitte zu seiner gebührenden Stellung als Weltmacht zurückzuführen. Doch das Jahr 2021 konfrontierte China mit unterschiedlichen Herausforderungen; neben massiven Stromausfällen und der sich herausbildenden Einhegungsstrategie der USA im Indopazifik verzeichnete China die geringste Bevölkerungswachstumsrate seit Beginn dahingehender Erhebungen im Jahre 1953. Diese aus strategischer Sicht negative demografische Entwicklung wird sich strukturell auf die weitere ökonomische und politische Entwicklung des Landes auswirken und die globalen Ambitionen der Volksrepublik schwer belasten.
Doch auch für Europa brachte das Jahr 2021 bedeutsame Entwicklungen mit sich. So ist das Vereinigte Königreich nach dem erfolgten Brexit seit dem 1. Januar 2021 offiziell nicht mehr Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion. Zugleich nahmen die Diskussionen über schottische Unabhängigkeitsbestrebungen Fahrt auf, nachdem die Schottische Nationalpartei (SNP) die Durchführung eines erneuten Referendums zur Abspaltung vom Vereinigten Königreich zu einem ihrer zentralen Wahlversprechen machte. Weiterhin reflektiert das Strategic Estimate die Perspektiven zur EU-Erweiterung im Balkan sowie die Herausforderungen für die neue deutsche Regierung, deren Politikgestaltung nicht nur die Bundesrepublik, sondern die gesamte Europäische Union maßgeblich beeinflussen wird.
In dem Papier werden neben den genannten Themenfeldern ebenso makropolitische und -ökonomische Trends betrachtet. Hierzu zählen die globale Wirtschaftsentwicklung und die COVID-19-Pandemie, die damit in Verbindung stehenden Disruptionen globaler Lieferketten sowie angebotsseitige Engpässe an Arbeitskräften, Rohstoffen und Energieträgern. Ferner werden die Ergebnisse des in Glasgow durchgeführte Klimagipfels (COP 26) und die dahinterliegenden Dynamiken internationaler Klimapolitik, die Einführung des Bitcoins als nationale Währung in El Salvador sowie die globale demografische Entwicklung und deren geostrategische Bedeutung analysiert.
Das vollständige Papier kann hier heruntergeladen werden. Ein Muss für alle politisch interessierten Leser!