Kommentar Rayan ist eines von vielen Kindern

Die ganze Welt nahm an Rayans Schicksal Anteil und hoffte auf seine Rettung. Aber da sind noch unzählige Kinder in der islamischen Welt, die in einer schlimmen Lage sind, in der man sie nicht lassen darf.

Für wenige Tage stand Marokko im Fokus vieler Muslime, die die aufwendige Rettungsaktion des fünfjährigen Rayan verfolgten. Rayan war am 1. Februar in einen 32 Meter tiefen Brunnen gefallen und konnte nicht von oben geborgen werden, da der Brunnenschacht zu eng war. Also mussten sich die Rettungskräfte mit großer Mühe und mit viel Zeitaufwand zu ihm durchgraben – ein fast unmögliches Unterfangen. Im Fernsehen und im Internet konnte man die tagelange Rettungsaktion live verfolgen und den Moment erleben, als es den Rettungskräften gelang, zu Rayan vorzudringen. Doch nur kurz nachdem er ins Krankenhaus gebracht wurde, kam die Nachricht von seinem Tod, der die ganze Umma erschütterte. Wie hätte uns das Schicksal Rayans nicht berühren sollen, der vier Tage in dem Brunnen bei Dunkelheit und Kälte feststeckte, während seine Eltern um ihn bangten?

Rayan hatte für uns ein Gesicht, das während der Liveübertragung permanent gezeigt wurde. Wir konnten das Leid nachempfinden und mussten hierzu unsere Vorstellungskraft nicht allzu sehr bemühen. Denn eine Kamera zeigte, wie Rayan in dem Brunnen lag. Und wir konnten in die Augen der Mutter blicken, die um das Leben ihres Kindes fürchtete. Deshalb ließ uns das Schicksal Rayans nicht unberührt. Für den Verstand mag es keinen Unterschied machen, aber emotional ergreift es uns stärker, wenn wir live an einer Rettungsaktion teilhaben können, statt nur von dem Vorfall zu lesen. Hätten wir nur in den Nachrichten gelesen, dass ein Fünfjähriger in Marokko in einen Brunnen gestürzt sei und die Rettungsaktion seit Tagen andauere, hätten wir vielleicht nicht so intensiv mitgefiebert.

Die Frage, ob ein Kind, das in einen Brunnen stürzt, gerettet werden soll, stellt sich nicht. Es hätte einen Aufschrei der Muslime gegeben, hätte man Rayan im Brunnen seinem Schicksal überlassen. Das Argument, dass man außerstande sei, ihn zu retten, hätte niemand gelten lassen. Die Methode, um Rayan herauszuholen, war allen klar: Es musste ein Tunnel zu ihm gegraben werden. Auch wenn Rayan am Ende starb, weil es vorgeschrieben war, war es doch die Schuld der marokkanischen Regierung, die ihre Betreuungsverantwortung den Bürgern gegenüber jahrzehntelang vernachlässigt hat, sodass die Menschen gezwungen waren, durch instabiles Erdreich gefährliche und ungesicherte Brunnen zu graben, um an sauberes Wasser zu gelangen.

Auch Saudi-Arabien blieb nach dem tödlichen Sturz Rayans nicht untätig und ließ etwa 2500 ungenutzte Brunnenschächte zuschütten oder sichern. Diese Maßnahme regt fast zum Lachen an, ginge es nicht um einen so traurigen Fall. Was ist so lächerlich an dieser Maßnahme? Saudi-Arabien schaut seit Jahren tatenlos zu, wie Kinder in Krisen- und Kriegsgebieten in der islamischen Welt getötet werden. Mehr noch, Saudi-Arabien beteiligt sich schon seit Jahren aktiv an ihrer Tötung. Wie viele Kinder mussten im Jemen wegen der Blockade der See- und Flughäfen verhungern, die Saudi-Arabien 2015 verhängt hatte und jahrelang aufrechterhielt? Nicht einmal Hilfsgüter wurden durchgelassen. Da hätte Saudi-Arabien die jemenitischen Kinder genauso gut in tiefe Brunnen werfen und dort sterben lassen können. Sucht man nach den Ursachen für die schlimmen Zustände, unter denen die Kinder in der islamischen Welt leben müssen, wird man schnell fündig. Es sind vor allem die Regenten in den islamischen Ländern, unter denen Kinder und Erwachsene zu leiden haben. Da erscheint das Zuschütten von Brunnen, die nicht mehr genutzt werden, wie ein Hohn.

Die Regenten in der islamischen Welt sehen tatenlos zu, wie Kinder im Meer ertrinken, weil sie mit ihren Eltern flüchten müssen. Sie flüchten vor Krieg, Verfolgung und Elend und all diese Fluchtgründe gehen auf die Regierenden der islamischen Länder und zurück und auf die Kolonialmächte, die sie eingesetzt haben. Die einen Regenten sorgen für ihre Flucht und die anderen wollen sie nicht aufnehmen, außer sie erhalten von den Kolonialmächten Geld für ihre Aufnahme und dafür, sie ihnen vom Hals zu halten. Vor diesem Hintergrund sind ungesicherte Brunnen, um die sich Saudi-Arabien so engagiert kümmert, das geringste Problem der Kinder. Für Rayans Eltern war es ohne Frage eine schwere Prüfung, ihren Sohn durch den Sturz in den Brunnenschacht zu verlieren, aber es musste eine noch viel schwerere Prüfung sein, dass Marokkos König Muhammad VI. anrief und kondolierte. Denn er ist die Ursache für die Existenz solcher Brunnenschächte und die miserable Infrastruktur in Marokko.

Das Interesse der Muslime darf sich nicht darauf beschränken, dass ein einzelnes Kind in einen Brunnen fällt und Rettung braucht. Die Muslime müssen sich bewusst machen, in welcher Lage die Kinder insgesamt in der islamischen Welt sind. Ein Kind muss nicht erst in einen Brunnen fallen, um die Aufmerksamkeit der Muslime auf sich zu ziehen. Wir wissen, wie schlimm es den Kindern in vielen islamischen Ländern geht, ob in Afghanistan, in Palästina, im Irak, in Syrien, im Jemen usw. Und wir kennen auch die Gründe und die Methode, um die Ursachen zu beseitigen. Die Beseitigung der Missstände besteht nicht im Zuschütten von Brunnen, sondern in der Umsetzung des islamischen Systems.

(U.A.)