Neben der Beteiligung an EU-Sanktionen stoppte die Bundesregierung zudem das laufende Genehmigungsverfahren der Erdgaspipeline Nord Stream 2 und gibt auf diese Weise ihren jahrelangen Widerstand gegen Washington auf. Am 26. Februar gab die Bundesregierung schließlich auch in ihrer restriktiven Haltung hinsichtlich deutscher Waffenlieferungen sowie beim Ausschluss russischer Banken aus dem Zahlungsdienstleistungssystem SWIFT nach. Das stärker werdende Spannungsfeld russisch-amerikanischer Machtpolitik und die damit einhergehende Unterordnung deutscher Interessen verdeutlicht erneut den dringenden Bedarf einer strategischen Neuausrichtung der bundesrepublikanischen Außen- und Sicherheitspolitik, der eine fundamentale Analyse gegenwärtiger Allianzen sowie geopolitischer Rahmenbedingungen vorausgehen muss.
In Reaktion auf den massiven Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze sowie auf die im Dezember 2021 formulierten Forderungen des Kremls, einen künftigen NATO-Beitritt der Ukraine in Form schriftlicher Garantien auszuschließen und die Osterweiterung des transatlantischen Bündnisses auf den Stand vor 1997 rückabzuwickeln, begannen die Vereinigten Staaten mit der Vorbereitung umfassender Wirtschafssanktionen, um diese im Falle eines russischen Einmarsches in Kraft zu setzen. Dem amerikanischen Sanktionsimperativ folgend, begannen die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ebenso mit der Vorbereitung entsprechender Maßnahmen: Jede Aggression gegen die Ukraine wird politische Konsequenzen und hohe ökonomische Kosten für Russland zur Folge haben. Wir befinden uns diesbezüglich in enger Abstimmung mit unseren transatlantischen […] Partnern, so der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am 13. Dezember. Nach der am 20. Februar durch Russland erfolgten Anerkennung von Donezk und Luhansk als unabhängige Volksrepubliken, reagierte die EU zunächst mit dem Einfrieren von Vermögenswerten der 351 Duma-Abgeordneten und 27 weiteren hochrangigen russischen Staatsbürgern und Organisationen. Ferner wurde untersagt, den gelisteten Personen und Organisationen Gelder zur Verfügung zu stellen, Ein- und Durchreiseverbote erlassen und die Wirtschaftsbeziehungen zu den von den Separatisten kontrollierten Gebieten sowie der russische Zugang zu europäischen Kapital- und Finanzmärkten eingeschränkt. In Folge der am 24. Februar erfolgten Militärinvasion in die Ukraine einigte sich der Europäische Rat sukzessive auf weitere Sanktionen, die den Finanz-, Energie-, Technologie- und Verkehrssektor, den Handel von Gütern mit doppeltem Verwendungszeck (dual-use), Ausfuhrkontrollen und Auslandsfinanzierung, die Visumspolitik sowie die Aufnahme weiterer russischer Staatsbürger und Organisationen in die Sanktionslisten umfassen. Weiterhin wurden Vermögenswerte von Wladimir Putin und dem russischen Außenminister Sergej Lawrow eingefroren, ein Verbot von Transaktionen mit der russischen Zentralbank erlassen, der EU-Luftraum und Flughäfen für russische Fluggesellschaften gesperrt, die Sendetätigkeiten der Nachrichtenportale Sputnik und RT in der EU ausgesetzt und sieben russische Banken vom internationalen Zahlungsdienstleistungssystem SWIFT ausgeschlossen.
Obgleich der Tatsache, dass die Bundesregierung die genannten Sanktionen mitgetragen hat, liegen diese nicht im ökonomischen und geopolitischen Interesse Deutschlands. So heißt es beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK): Die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen entwickelten sich bis zum Ausbruch der Krise gut. […] Im Gesamtjahr 2021 stiegen die deutschen Exporte um 15,5 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum auf 26,6 Milliarden Euro. Die deutschen Einfuhren sind sogar um 52,3 % gegenüber dem Vorjahr auf 33,1 Milliarden Euro gestiegen. Das Handelsvolumen lag 2021 bei 59,8 Milliarden Euro. Für die deutsche Wirtschaft stellt der erweiterte Binnenmarkt der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) mit 180 Millionen Verbrauchern ein enormes Potenzial dar, was sich neben dem klassischen Exportgeschäft auch in deutschen Direktinvestitionen in Höhe von 20 Mrd. Euro im vergangenen Jahr äußerte. Um die nun durch die Sanktionen auftretenden Auswirkungen abzufedern, kündigte Bundeswirtschaftsminister Habeck am 3. März ein Hilfsprogramm an und sagte deutschen Wirtschaftsverbänden zu, dass der Staat für 7,4 Mrd. durch Garantien abgeschirmte Direktinvestitionen und für die durch Hermes-Bürgschaften abgesicherten Exportgeschäfte im Wert von 11,4 Mrd. Euro aufkommen werde. Eine weitaus größere Herausforderung stellt jedoch die deutsche Abhängigkeit von russischen Rohstoff- und Energielieferungen dar. So stammen 17 % der Aluminium-, 18 % der Palladium- und 44 % der Nickelimporte aus Russland und müssen nun durch entsprechende Umgestaltungen der Lieferketten kompensiert werden. Die kurzfristigen Folgen sind drastisch, weil es an vielen Stellen nicht zu relativen Einschränkungen kommt, sondern zu echten Unterbrechungen, einem umfassenden Stopp der Zusammenarbeit, so der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) Siegfried Russwurm. Weiterhin bezieht die Bundesrepublik 55 % ihres Erdgases, 50 % ihrer Kohle und 35 % ihres Erdöls aus Russland, wodurch die Beziehung zu Moskau einen wesentlichen Einfluss auf die Energieversorgungssicherheit Deutschlands und eine dementsprechend geostrategische Dimension besitzt. Trotz geplanter Verstärkung von Diversifizierungs- und Energieeffizienzmaßnahmen positionierte sich Wirtschaftsminister Habeck daher explizit gegen ein Embargo russischer Energieimporte: Ich würde mich sogar dagegen aussprechen, weil wir damit den sozialen Frieden in der Republik gefährden. […] Deswegen brauchen wir und werden auch die Möglichkeit für Energie-Zufuhren aus Russland offenhalten.
Es sind diese Rahmenbedingungen und die damit verbundene Interessenlage, die Deutschland zu seiner restriktiven Haltung hinsichtlich antirussischer Sanktionen und Waffenexporten an die Ukraine veranlasst haben. So verhinderte die Bundesregierung im Europäischen Rat bis zum 26. Februar eine Einigung zum Ausschluss russischer Banken aus dem SWIFT-System und stimmte diesem erst unter der Bedingung zu, dass die Sberbank und Gazprombank von der Maßnahme ausgenommen werden: Ein hochrangiger EU-Beamter begründete dies damit, dass einige EU-Länder besonders abhängig von Energielieferungen aus Russland seien – dazu gehört auch Deutschland. Sberbank und Gazprombank seien die wichtigsten Banken für die Bezahlung der Energielieferungen. Der Vorgang wurde schließlich durch eine Pressemitteilung des Kanzleramts am 07. März bestätigt: Bewusst hat Europa Energielieferungen aus Russland von Sanktionen ausgenommen. Die Versorgung Europas mit Energie für die Wärmeerzeugung, für die Mobilität, die Stromversorgung und für die Industrie kann im Moment nicht anders gesichert werden. […] Daher ist es eine bewusste Entscheidung von uns, auch weiterhin die Aktivitäten der Wirtschaftsunternehmen im Bereich der Energieversorgung mit Russland weiterzuführen. Auch im Hinblick auf die Erdgaspipeline Nord Stream 2 war die Bundesregierung bis zuletzt danach bestrebt, den eigenen Interessen Rechnung zu tragen und dem Druck der Vereinigten Staaten standzuhalten, die seit 2015 die Realisierung des Projekts zu verhindern versuchen. So weigerte sich Bundeskanzler Olaf Scholz bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit US-Präsident Joe Biden am 8. Februar 2022 trotz mehrfacher Nachfrage von Journalisten, Nord Stream 2 im Zusammenhang mit möglichen Sanktionen gegen Russland zu benennen. Präsident Biden stellte hingegen auf derselben Pressekonferenz klar: Wenn Russland einmarschiert, wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen. Nachdem die Bundesregierung auch nach der am 20. Februar erfolgten Anerkennung von Luhansk und Donezk keine dahingehenden Schritte unternahm, erhöhte die US-Regierung am Abend des 21. Februars in Form weiterer enger Konsultationen den Druck auf das Kanzleramt, was schließlich zur Unterbrechung des laufenden Genehmigungsverfahrens der Pipeline führte. Um sich einen letzten Ausweg offen zu halten, wählte das Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) eine Vorgehensweise, die eine Reaktivierung des Verfahrens zu einem späteren Zeitpunkt ermöglicht: Die Bundesregierung zieht den Versorgungssicherheitsbericht der Vorgängerregierung für die Gasleitung Nord Stream 2 zurück. […] Solange der Versorgungssicherheitsbericht nicht aktualisiert ist, kann keine positive Zertifizierungsentscheidung durch die Bundesnetzagentur ergehen, so die BMWK-Pressemitteilung vom 22. Februar. Hierauf reagierte die US-Regierung nur einen Tag später mit Sanktionen gegen das deutsch-russische Konsortium Nord Stream 2 AG, um Deutschland auch die letzte Option einer künftigen Inbetriebnahme der energie- und geopolitisch bedeutsamen Erdgaspipeline zu nehmen!
Am 26. Februar gab die Bundesregierung schließlich auch ihre historisch begründete Position zu Waffenlieferungen in Krisengebiete auf und verkündete, 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ Stinger an die Ukraine zu liefern. Weiterhin wurde die lange umstrittene Erlaubnis zur Weitergabe von Haubitzen aus DDR-Beständen von Estland an die Ukraine erteilt und wenige Tage später die Ausfuhr von 2700 Flugabwehrraketen vom Typ Strela genehmigt. Durch die Waffenlieferungen an die Ukraine begibt sich die Bundesrepublik in ein zunehmend konflikthaftes Verhältnis zu Russland, dessen aggressives Verhalten wiederum außen- und sicherheitspolitische Gewissheiten in Deutschland massiv in Frage stellt. Am 27. Februar erklärte Bundeskanzler Scholz in der historischen Sondersitzung des Deutschen Bundestages: Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. […] Wer Putins historisierende Abhandlungen liest, wer seine öffentliche Kriegserklärung an die Ukraine im Fernsehen gesehen hat […], der kann keinen Zweifel mehr haben: Putin will ein russisches Imperium errichten. Er will die Verhältnisse in Europa nach seinen Vorstellungen grundlegend neu ordnen. Die Bundesrepublik müsse daher in die eigene Sicherheit investieren und die Bundeswehr zu einer leistungsfähigen, hochmodernen und fortschrittlichen Truppe machen. Hierfür werde ein Sondervermögen Bundeswehr eingerichtet und für das Haushaltsjahr mit 100 Mrd. Euro ausgestattet. Weiterhin werde die Bundesrepublik nun jährlich mehr als 2 % des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung investieren, um – wie es Bundesfinanzminister Christian Lindner ausgedrückt hat – die Bundeswehr zu einer der schlagkräftigsten Armeen in Europa zu machen!
Der Kriegsausbruch in der Ukraine hat in Deutschland zu einer sicherheitspolitischen Zeitenwende geführt, in deren Zuge die Bundesregierung richtungsweisende Entscheidungen treffen muss. Hierfür gilt es, die geopolitischen Rahmenbedingungen zu analysieren und anzuerkennen, dass sich Deutschland aufgrund seiner Mittellage in einem stärker werdenden Spannungsfeld russisch-amerikanischer Machtpolitik befindet. Durch die massive Erweiterung des amerikanischen Fußabdrucks auf dem europäischen Kontinent, der sich durch die gegenwärtige Aktivierung transatlantischer Verteidigungspläne, der Verlegung der NATO Response Force (NRF) sowie die damit in Verbindung stehende Aufstockung von US-Truppenkontingenten äußert, droht die europäische Sicherheitsarchitektur und die deutsche Interessensphäre zunehmend unter amerikanischen Einfluss zu geraten. Gleichzeitig sieht sich die Bundesrepublik mit einer fortschreitenden Erosion der regelbasierten Nachkriegsordnung konfrontiert, die in Europa von Russland und auf globaler Ebene perspektivisch von China in Frage gestellt wird. Um in einer multipolaren Welt bestehen und sein eigentliches Potenzial entfalten zu können, muss sich in Deutschland die Erkenntnis durchsetzen, dass es weder am Hindukusch noch am Euphrat oder Tigris verteidigt wird! Vielmehr muss es sich vor der Einflussnahme aus Washington, London, Paris und Moskau schützen, denn es sind diese Akteure, die Deutschland als Rivalen betrachten und auf politischer, geoökonomischer und militärischer Ebene stets ihren eigenen Interessen Vorrang geben und mit entsprechenden Maßnahmen Nachdruck verleihen.
Vor diesem Hintergrund rät Hizb-ut-Tahrir der Bundesregierung eindringlich, die oktroyierte Westbindung zu lösen und sich aus der Einhegung transatlantischer Strukturen zu befreien. Weiterhin fordert Hizb-ut-Tahrir Deutschland auf, umgehend sämtliche Politiken einzustellen, die im Schlepptau franko-amerikanischer Initiativen auf die ökonomische, politische, kulturelle oder militärische Einflussnahme in der Islamischen Welt abzielen. Nur durch eine vollständige Einstellung aller kolonialistischen Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitiken kann es der Macht in der Mitte gelingen, an seine historische Verbindung mit dem Osmanischen Kalifat anzuknüpfen und eine strategisch vorteilhafte Beziehung zur islamischen Umma aufzubauen – eine Umma, die ihre Wehrhaftigkeit durch den erfolgreichen Kampf gegen die Sowjet-Union und die NATO in Afghanistan unlängst unter Beweis gestellt hat. Dies sollten die Strategen des Auswärtigen Amtes bei der Ausformulierung der angekündigten Nationalen Sicherheitsstrategie bedenken und sich darüber im Klaren sein, dass die Umma durch die bevorstehende Errichtung des Kalifats ihre vollständige Handlungsfähigkeit wiedererlangen und dem menschenverachtenden Kolonialismus der USA, Frankreichs, Großbritanniens und Russlands sowie all ihrer Verbündeten ein Ende bereiten wird!
﴿هَٰذَا بَلَاغٌ لِلنَّاسِ وَلِيُنْذَرُوا بِهِ﴾
Dies ist eine Botschaft an die Menschen, auf dass sie dadurch ermahnt werden […].[14:52]
07. Šaʿbān 1443 n. H.
10.03.2022
Hizb-ut-Tahrir
im deutschsprachigen Raum