Ausland Alle Menschen sind gleich, aber Europäer sind gleicher

Der Ukrainekrieg schockiert die Welt. Aber schockierender ist die Erkenntnis, dass das Leid von Europäern über das Leid von Nichteuropäern gestellt wird, vor allem wenn es sich bei den Nichteuropäern um Muslime handelt. Russland hat das große Tabu gebrochen und einen Krieg gegen Europäer angefangen. Das ist die Welt nicht mehr gewohnt.

Der Russe ist historisch vorbelastet und gilt allen als Feindbild, wenn er nicht gerade eingebunden ist in einen Krieg gegen die Muslime, der als Kampf gegen den Terror international gutgeheißen wird. „Die Russen kommen!“ war der Angstruf der Deutschen im Osten, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs vor der Roten Armee flohen. Kurz darauf folgte der Kalte Krieg und die Furcht vor einem alles vernichtenden Atomkrieg zwischen der Sowjetunion und den USA. Dieser Konflikt zwischen den Westmächten mit den USA an der Spitze und dem Ostblock, angeführt von der Sowjetunion, führte zur Gründung der Nato im Jahr 1949. Der Kalte Krieg endete zwar 1989, aber die Nato blieb als Militärbündnis bestehen genau wie das Bild vom russischen Aggressor. Zu seinem negativen Image hat Russland aber auch selbst viel beigetragen. Wer die Menschenrechtsverbrechen Russlands in Tschetschenien kennt, die sich nicht nur auf die Zeit der Tschetschenienkriege beschränken, weiß, zu welchen Gräueln Russland in der Lage ist. Es bedurfte folglich keiner großen Anstrengung, Russland als bösen Aggressor hinzustellen, als das russische Militär am 24. Februar in die Ukraine einmarschierte.

Aber ist dieses Verhalten wirklich typisch russisch? Ist der Ukrainekrieg die Tat eines russischen Irren, der kurz davor ist, den roten Knopf zu drücken und einen verheerenden nuklearen Weltkrieg auszulösen? Den russischen Präsidenten und ehemaligen hochrangigen KGB-Agenten als Geisteskranken hinzustellen, ist eine Eigenart westlicher Medien, mit dem Thema umzugehen. Putin handelt nach dem Prinzip einer Großmacht, die um ihren Einfluss ringt und sich vom Westen die Wurst nicht vom Brot nehmen lässt. Großmächte haben schon immer andere Länder wegen ihrer Machtinteressen angegriffen. Russlands Begründung der Entnazifizierung der Ukraine ist zudem nicht lächerlicher als die Begründung anderer Staaten bei der Rechtfertigung eines Angriffskriegs.

Dreht man die Zeit neunzehn Jahre zurück, schockierte ein ganz anderer Staat die Welt, als er mit einer großen Lüge einen Krieg anzettelte. Am 20. März 2003 griffen die USA den Irak unter einem Vorwand an, von dem die ganze Welt wusste, dass er konstruiert war und die vorgelegten Beweise manipuliert waren. Am 5. Februar 2003 hatte der amerikanische Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat gesagt, dass der Irak im Besitz von Massenvernichtungswaffen sei und mobile Produktionsanlagen für die Herstellung biologischer Waffen existieren würden. Dies war eine offensichtliche Lüge, denn die UN-Waffeninspekteure hatten den Irak monatelang akribisch nach Massenvernichtungswaffen durchsucht und nichts gefunden. Darüber hinaus hatten die USA versucht, eine Verbindung zwischen dem Irak und al-Qaida herzustellen. Der Öffentlichkeit einen Beweis vorzulegen, der einen Angriff auf den Irak rechtfertigen sollte, war reine Formsache. Denn die USA hatten in jedem Fall vor, den Irak anzugreifen, was sie dann auch ohne UN-Mandat taten.

Damals war es Putin, der diesen widerrechtlichen Krieg verurteilte und die Aggression der USA zusammen mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder kritisierte. Da verhielt sich Putin wie ein „lupenreiner Demokrat“, während der US-amerikanische Präsident George W. Bush eindeutig der Aggressor war. Gab es Anstrengungen, Drohungen oder Sanktionen, die USA von ihrem Kriegsvorhaben im Irak abzuhalten oder ihren völkerrechtswidrigen Angriff zu bestrafen? Hatte man die USA vom Rest der Welt isoliert, Besitztümer reicher Amerikaner beschlagnahmt, die USA vom internationalen Zahlungssystem ausgeschlossen, Geschäftsbeziehungen mit amerikanischen Firmen aufgelöst und Ähnliches, wie man es heute mit Russland tut? Natürlich nicht! Hatten die Menschenrechtsverbrechen, die amerikanische Soldaten im Irak verübten, Konsequenzen? Wer erinnert sich nicht an den Folterskandal im Gefängnis von Abu Ghraib, wo Gefangene gefoltert, misshandelt und vergewaltigt wurden? Bilder gingen um die Welt, auf denen zu sehen war, wie US-Soldaten mit entkleideten Gefangenen posierten, die von den Soldaten erniedrigt wurden. Was könnte Russland Schlimmeres in der Ukraine tun? Russland ist im Grunde kein größerer Aggressor als die USA. Was den Ukrainekrieg der Russen und den Irakkrieg der USA lediglich unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Amerikaner einen Krieg gegen die Muslime führten.

Wenn es um Angriffe und Kriege gegen Muslime geht, ist die Weltöffentlichkeit desinteressiert und hält sich sowohl in ihrer Verurteilung des Aggressors als auch in ihrer Hilfsbereitschaft für Muslime zurück. Als Putin 2015 einen Krieg gegen das syrische Volk begann und als Vorwand einen Hilferuf des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad angab, gab es keine Reaktionen des Westens und keine Versuche, ihm Einhalt zu gebieten. Getarnt als Terrorbekämpfung, führte er einen erbarmungslosen Krieg gegen das syrische Volk, der schlimmer ist als Putins Krieg gegen die Ukraine. Was in der Ukraine geschieht, so tragisch es ist, ist nicht annähernd so schlimm wie das, was den Menschen in Syrien durch den jahrelangen Militäreinsatz Russlands widerfuhr, zumal niemand Partei für das syrische Volk ergriff, weil Russland seinen Krieg gegen die Muslime als Terrorbekämpfung tarnte. Die USA sahen Russlands mörderisches Treiben in Syrien sogar mit Wohlwollen, weil es um den Machterhalt Assads ging, der ohne äußere Einmischung längst Geschichte wäre. Auch in Deutschland stufte man den Krieg gegen das syrische Volk als völkerrechtskonform ein, weil der Menschenrechtsverbrecher Assad bzw. die verbrecherische syrische Regierung den Militäreinsatz genehmigt hatte. Die Welt sah zu, wie Russland seine Bomben auf die syrische Bevölkerung abwarf. Solidaritätsbekundungen mit dem syrischen Volk oder Forderungen zur Beendigung des Krieges waren nicht zu hören. Vor allem gab es keine Sanktionen gegen Russland.

Der Ukrainekrieg legt in Wahrheit nicht das wahre Gesicht Russlands offen, sondern das des ganzen Westens. Der Syrienkrieg Russlands wird vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs nicht als vollwertiger Krieg Russlands wahrgenommen, sondern als Testlauf degradiert. So sagte der Chefredakteur des Magazins „Zenith“ über Syrien: „Ja, das Land wurde zur Arena für das Testen und öffentliche Vorführen militärischer Güter aus russischer Produktion: bunkerbrechende Waffen, Drohnen, Luftabwehrraketen, oder auch militärische Beratung. Syrien wurde zum Terrain, auf dem man militärische Taktiken aus den Tschetschenienkriegen verfeinern konnte.“ Das ist ein klares Eingeständnis, dass das, was in der Ukraine geschieht und die Welt so entsetzt, eins zu eins in Syrien geschah – nur ohne den öffentlichen Aufschrei und ohne Hofieren von Flüchtlingen.

Die Ungleichbehandlung von Flüchtlingen ist ein weiterer Aspekt, der die Verlogenheit westlicher Werte offenlegt. Der Westen versucht nicht einmal, seinen Rassismus zu verbergen, und gibt eiskalt hellhäutigen Ukrainern den Vorzug, während er Nichtukrainer, vor allem dunkelhäutige, zurückweist. Er differenziert ganz klar zwischen europäischen und nichteuropäischen Flüchtlingen sowie zwischen nichtmuslimischen und muslimischen. Dieser Rassismus tritt aber nicht erst seit dem Ukrainekrieg zutage, sondern ist der übliche Umgang mit Flüchtlingen. Warum sonst lässt man Flüchtlinge auf dem Meer ertrinken oder im Nirgendwo stranden, wo sie selbst in der bittersten Kälte im Freien schlafen müssen – Erwachsene wie Kinder? Würde der Westen ukrainische Flüchtlinge auf dem Meer hilflos treiben lassen oder sogar ihre Boote zum kentern bringen? Die Sichtbarkeit dieses Rassismus ist schockierender als der Ukrainekrieg selbst. Denn der Krieg wird enden, aber der Rassismus nicht. Der Ukrainekrieg hat also vor allem eins gezeigt: Alle Menschen sind gleich, aber Europäer sind gleicher.