Inzwischen jedoch mutierte die nationalstaatliche Idee zur einzig akzeptierten Staatsauffassung. Die Vereinten Nationen formulierten aus diesem Gedanken heraus sogar ein universelles Grundrecht und verankerten es in ihrer Charta: das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung.
Dieses Prinzip ist nicht zuletzt aufgrund seiner politischen Implikationen bedeutsam. Denn es soll jedem Volk das Recht verleihen, über seinen politischen Status frei entscheiden zu können und sich von jeglicher Fremdherrschaft zu lösen. Das Selbstbestimmungsrecht solle auf diese Weise jedem Volk ermöglichen, eine Nation bzw. einen Nationalstaat zu bilden. Dieser Logik zufolge könne sich ein Volk sogar einem anderen Staat, dem es sich zugehörig fühlt, anschließen. Doch ist ein friedvolles Zusammenleben verschiedener Völker, Ethnien und Kulturen unter nationalstaatlichen Rahmenbedingungen leichter herzustellen? Müsste also jedes Volk auf dieser Erde in einem eigenen Staat leben, um Kriege und Konflikte vermeiden zu können?
Zumindest in der Theorie soll der Nationalstaat seinen Befürwortern zufolge genau das gewährleisten. Historisch betrachtet sollte er vor allem aber das blutige Gemetzel unter den christlichen Konfessionen in Europa beenden und dem Staat eine neue Legitimationsquelle verleihen. Unter dem Eindruck der Aufklärung dürfe sich staatliche Herrschaft nicht mehr über das Gottesgnadentum legitimieren, sondern über das Prinzip der Volkssouveränität. Dies warf die Frage auf, wer zu den Trägern dieser neuen Legitimationsquelle gehören sollte. Im Zuge dessen etablierte sich schließlich die Nation als neue politische Willensgemeinschaft. Gleichzeitig sei es dadurch möglich geworden, die unterschiedlichen religiösen Überzeugungen und den religiösen Aktivismus in Mitteleuropa kontrollierbar zu machen. Für den Soziologen Armando Salvatore war die Schaffung des Nationalstaats – die mit kultureller und sprachlicher Homogenisierung einherging – eine zwingende Voraussetzung, um die religiösen Strömungen zu neutralisieren und so den innerchristlichen Konflikt zu beenden. Andererseits musste sich die neue politische Gemeinschaft gegen restaurative Kräfte durchsetzen. Daher war es notwendig, dass sich die Gemeinsamkeit von Sprache, Kultur und Abstammung im Volk festigt.
Obgleich Europa als Geburtsort der Nationalstaatsidee gilt, zeigt seine Geschichte doch eindrucksvoll, dass es unterm Strich viel Gewalt bedurfte und letztlich ein blutiger Weg war, um diese Vorstellungen zu formen und das Konzept vom Nationalstaat in der Realität umzusetzen. Der Erste und Zweite Weltkrieg gelten hierbei als Höhepunkte einer Reihe von Kriegen und Konflikten sowie der Verschiebung von Grenzen zwischen den Nationen Europas, die vor allem Eines unter Beweis stellten: der Nationalstaat konnte sich nicht nur durch Säkularität konstituieren, sondern erst durch die gewaltsame Vertreibung ethnischer bzw. nationaler Minderheiten. Die Balkanregion und im speziellen die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens können hierbei ebenso als Paradebeispiel herangezogen werden.
Historisch gesehen galt insbesondere der Westbalkan seit jeher als religiös-ethnischer Flickenteppich. So ist seine religiöse Zusammensetzung für europäische Verhältnisse recht erstaunlich; neben Muslimen, Katholiken und orthodoxen Christen existiert ebenso seit Jahrhunderten eine jüdische Minderheit. Noch komplexer sind die ethnischen Zugehörigkeiten, die vor dem Zerfall Jugoslawiens 1991 etwa zwanzig verschiedene Volksgruppen zählten. Gerade in der Epoche des Osmanischen Kalifats wurde ein soziopolitischer Rahmen geschaffen, der trotz aller Turbulenzen die Koexistenz dieser Volksgruppen bis ins 20. Jahrhundert hinein garantieren konnte. Dies war nur möglich, weil das Zusammenleben unter religiös-weltanschaulichen Gesichtspunkten geordnet wurde und die jeweilige Ethnie keinerlei Rolle bei der gesellschaftlichen Betrachtung spielte. Dies hatte zur Folge, dass die meisten Siedlungsgebiete ethnisch heterogen blieben. Wie auch in vielen Teilen der islamischen Welt, kam es darüber hinaus auch auf dem Westbalkan unter den Ethnien immer wieder zu Durchmischungen. Exemplarisch hierfür kann die muslimische Bevölkerung an der Grenzregion zu Serbien, Montenegro und Kosovo herangezogen werden, die sich nicht lediglich aus Bosniaken und Albanern zusammensetzt. Vielmehr sind die dortigen Muslime in weiten Teilen von einem slawischen als auch albanischen Hintergrund geprägt. Dieser Aspekt führte allerdings nie zu einer gegenseitigen Abgrenzung auf nationaler Ebene, manifestiert sich darin doch die integrative Kraft des Islams, muslimische Völker unabhängig von ihrer Ethnie zusammenschmelzen zu lassen.
Nachdem jedoch der Nationalstaat auf dem Balkan Einzug hielt und die verschiedenen Volksgruppen damit begannen, ihre politische Identität über die ethnische Zugehörigkeit zu definieren, brach jener Konflikt aus, der seinen Höhepunkt in den Kriegen der 1990er Jahre fand. Zwar konnte das sozialistische Jugoslawien zwischen 1945 und 1991 die nationalen Bruchlinien vorrübergehend überdecken, indem eine jugoslawische Identität unter dem Motto Brüderlichkeit, Einigkeit propagiert wurde. Doch spätestens mit dem Fall des Eisernen Vorhangs flammten die ungelösten nationalen Konflikte auf dem Westbalkan erneut auf. Besonders hart getroffen hat es den Staat Bosnien-Herzegowina, der aufgrund seiner ethnisch-religiösen Vielfalt lange Zeit als Musterschüler des Multikulturalismus galt. In den Jahren von 1992 bis 1995 kostete allein der Bosnienkrieg schätzungsweise 100.000 Menschen das Leben. Geprägt war dieser Konflikt von nationalen Dominanzansprüchen allen voran seitens der in Bosnien lebenden Serben und Kroaten. Getragen vom Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Völker sollten beispielsweise alle Serben das Recht beanspruchen, sich dem serbischen Staat anschließen zu dürfen. Da sich die serbischen Siedlungsgebiete nicht nur auf den Staat Serbien beschränkten, sondern zu einem beträchtlichen Teil Kroatien und insbesondere Bosnien umfassten, setzte sich nach nationalstaatlicher Logik eine Dynamik der Sezession und gewaltsamen Grenzverschiebungen in Gang. Dies hatte in Bosnien zur Folge, dass ganze Landstriche – die von Muslimen seit Jahrhunderten bewohnt waren – ethnisch und kulturell gesäubert wurden, um einen homogenen serbischen Nationalstaat realisieren zu können.
Dieser Prozess der Grenz- und Bevölkerungsverschiebung wurde mit der Beendigung des Krieges 1995 auch institutionell verankert: der Vertrag von Dayton besiegelte so die Zweiteilung des Landes in die sogenannte Republika Srpska und die muslimisch-kroatische Föderation. An der Spitze steht seither ein Dreier-Präsidium aus einem kroatischen, einem muslimischen und einem serbischen Vertreter. Vor allem die muslimischen Bosniaken empfanden den Friedensvertrag faktisch als Legitimierung der ethnischen Säuberungen, bildeten sie doch die Voraussetzung, um eine serbische Teilrepublik mitten in Bosnien entstehen zu lassen. Dass das Dayton-Abkommen lediglich als Waffenstillstand gewertet werden muss und keinerlei Stabilität schaffen konnte, lässt sich angesichts aktueller Sezessionsforderungen in Bosnien deutlich erkennen. So strebt der bosnische Serbenführer Milorad Dodik danach, die Republika Srpska endgültig aus dem bosnischen Zentralstaat zu lösen. Seiner Ansicht zufolge habe die Zentralregierung seiner Republik in 140 Bereichen unrechtmäßig Vollmachten entzogen. Anfang Dezember 2021 beschloss dann das Parlament der serbischen Teilrepublik die Abspaltung, die innerhalb von sechs Monaten vollzogen werden solle. Dazu gehöre der Rückzug aus der Armee, dem Justiz- und dem Steuersystem der Zentralregierung.
Das hier ein ungelöster Konflikt abermals aufflammen und einen Flächenbrand erzeugen könnte, bereitet gerade den Menschen in Bosnien große Sorgen. Doch die Ursache derartiger Sezessionspläne liegt weniger in einer ungerechten Verteilung der Vollmachten auf Regierungsebene. Es sind vielmehr die nationalistischen Impulse, die sich in diesem Fall in der Bestrebung niederschlagen, die serbische Teilrepublik an Serbien anzuschließen. Das Interesse, die Grenzen nach ethnischen Kriterien ein weiteres Mal zu verschieben, lässt sich indes genauso unter kroatischen, albanischen sowie bosniakischen Nationalisten beobachten. So versetzten im vergangenen Jahr zwei inoffizielle diplomatische Diskussionspapiere – deren Urheberschaft nicht abschließend geklärt werden konnte – die Öffentlichkeit in Aufruhr. Der in diesen Non-Papers enthaltene Teilungsplan schlug die Schaffung eines Großserbiens, eines Großalbaniens und eines Großkroatiens vor, um die nationalen Spannungen auf diese Weise lösen zu können, die nach wie vor ein maßgebliches Hindernis für die EU-Erweiterung im Westbalkan darstellen.
Ob das von Bluntschli formulierte Nationalitätenprinzip tatsächlich eine friedliche Koexistenz souveräner Staaten sichern könne, muss angesichts der derzeitigen Lage auf dem Westbalkan erneut in Frage gestellt werden. Doch man braucht nicht bis nach Südosteuropa zu blicken, um die zersetzende Kraft des Nationalstaats zu erkennen. Selbst die Europäische Union ist ein indirekter Beleg dafür, dass dem eigenen Staatsmodell keine dauerhafte Stabilität mehr zugetraut wird. Schließlich konnte der europäische Kontinent nach zwei Weltkriegen nur durch die EU als supranationales Konzept befriedet werden, indem nationalstaatliche Ambitionen in den Hintergrund gerückt wurden.
In Anbetracht dieser Tatsachen muss sich insbesondere unter Muslimen die Erkenntnis durchsetzen, dass die Idee des Nationalstaats eine wesentliche Ursache für die ethnisch-religiösen Konflikte sowohl auf dem Balkan als auch in den übrigen Teilen der islamischen Welt bildet. Es ist dieses Staatsverständnis, das vom europäischen Volksbegriff ausgehend postuliert, dass Türken, Araber, Kurden, Albaner und Bosniaken eigenständige Völker seien, die das Recht auf einen eigenen Nationalstaat hätten. Das vergangene Jahrhundert hat den Muslimen deutlich vor Augen geführt, welch tragischen Konsequenzen dieses ordnungspolitische Konzept mit sich bringt; wenn nicht der Islam die Menschen zu einer politischen Gemeinschaft verbindet, sondern eine aus dem Boden gestampfte nationale Identität.