Geschichte Der mögliche Staat

Die Schaffung und Funktionsfähigkeit eines Nationalstaates setzen die ethnokulturelle Homogenität des Volkes als konstituierendes Element voraus. Einmal entstanden führt die Leitvorstellung von der homogenen Nation zu einer harten Exklusionspraxis gegenüber nationalen Minderheiten, stehen diese doch dem nationalen Einheitsprozess im Weg. Der Islamische Staat verfolgt hingegen keine ethnozidalen Assimilations- oder Vernichtungspolitiken gegenüber Minderheiten und gewährleistet auf struktureller Ebene das friedliche Zusammensein unterschiedlicher Gruppen – eine Tatsache, die sich unter anderem an der Historie des Westbalkan ablesen lässt und eine ordnungspolitische Möglichkeit für die Lösung gegenwärtiger Spannungen der krisengebeutelten Region bietet.

Als in den 1990er der Zerfallsprozess auf dem Westbalkan begann und neue Nationalstaaten entstehen sollten, war für die meisten Beobachter klar, dass dies ethnische Konflikte zur Folge haben wird. Nachdem im Juni 1991 Slowenien als erste jugoslawische Teilrepublik ihre Unabhängigkeit per Volksabstimmung erklärte und verhältnismäßig glimpflich davonkam, mündete die kroatische Unabhängigkeit bereits in einen schweren militärischen Konflikt mit den ersten ethnischen Säuberungsaktionen.

Weitaus verheerender sollte es die Teilrepublik Bosnien-Herzegowina treffen. Aufgrund seiner ethnisch sowie religiös heterogenen Struktur konnte der Weg Bosniens zu einem unabhängigen Nationalstaat nur unter einem hohen Blutzoll und der gewaltsamen Vertreibung der ansässigen muslimischen Bevölkerung aus den mehrheitlich von Serben bewohnten Gebieten erfolgen. Denn keine Ethnie in diesem Land verfügte über eine signifikante Mehrheit – die nach nationalstaatlicher Logik jedoch ein konstituierendes und daher notwendiges Element bildet. Für die Schaffung eines souveränen Nationalstaates waren es also denkbar schlechte Voraussetzungen. Auch zwei Jahrzehnte nachdem die Kriegsparteien das Dayton-Abkommen unterzeichneten und Bosnien-Herzegowina sich derweil zu einem dysfunktionalen Staat entwickelte, verfügen die Regierungen auf dem Westbalkan nach wie vor über kein tragfähiges Konzept, um eine friedliche Koexistenz zwischen den verschiedenen Ethnien und Religionsgruppen zu gewährleisten. Bis heute wird die Region immer wieder von ethnisch-religiösen Spannungen heimgesucht. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass das friedliche Zusammenleben über einen längeren Zeitraum sehr wohl möglich war; der Balkan also nicht als ewiger Konfliktherd gesehen werden dürfte. So kamen die verschiedenen Völker beispielsweise unter dem Osmanischen Kalifat fünf Jahrhunderte lang weitestgehend friedlich miteinander aus, ohne, dass die ethnischen oder religiösen Gruppen sich gegenseitig ihre Existenzberechtigung absprachen. Erst im Zuge des 19. Jahrhunderts, als die Idee des Nationalstaats sich schrittweise auf dem Balkan ausbreitete und sich die Völker zunehmend über ihre neugeschaffene nationale Identität zu definieren begannen, löste dieser Prozess jene ethnischen Spannungen aus, mit denen die Menschen auch heute noch zu kämpfen haben.

Dass es unter der islamischen Herrschaft derartige Konflikte entlang ethnokultureller Grenzen auf dem Balkan nicht gab, darf keineswegs auf eine pragmatische Politik des Osmanischen Staates zurückgeführt werden, die unter anderen Umständen hätte anders aussehen können. Vielmehr wurde das gesellschaftliche Zusammenleben nach feststehenden islamischen Prinzipien geregelt. Dabei spielt die ethnische Komponente bekanntermaßen keine Rolle, womit sich der islamische Ansatz vom nationalstaatlichen fundamental unterscheidet. Der Islam bewertet den Menschen nämlich nicht hinsichtlich seiner Geschichte, Abstammung oder Sprache. Demnach haben diese Kategorien auch in der gesellschaftspolitischen Betrachtung keinerlei Relevanz. Denn diese Merkmale bilden im Grunde genommen jenes soziale Gefüge, in das jeder Mensch hineingeboren wird, ohne darauf Einfluss genommen zu haben. Was der Mensch dagegen sehr wohl beeinflussen kann und sich demzufolge auch bewusst aneignet ist seine Sichtweise auf die Welt, das Leben und die Suche nach seinem Platz in der Gesellschaft. Es ist also der weltanschauliche Standpunkt, der den Menschen ausmacht und ihn von anderen unterscheidet. Folglich kann ein Mensch die islamische Botschaft annehmen oder zurückweisen unabhängig davon, welchen ethnischen, sprachlich-kulturellen oder historischen Hintergrund er besitzt. Auf diese Weise konnten die Nichtmuslime wesentliche Aspekte ihrer ethno-kulturellen Identität wie die Sprache beibehalten und wurden keiner Assimilationspolitik unterzogen. Diese Tatsache lässt sich nicht leugnen, trotz der zahlreichen Schauergeschichten über die blutrünstigen Türken, die vor allem serbische und griechische Nationalisten bis in die heutige Zeit unter ihren Landsleuten verbreiten. Denn obwohl der größte Teil des Westbalkans fünf Jahrhunderte unter islamischer Herrschaft stand, waren die Muslime dort stets eine Minderheit (!).

Nun wird an dieser Stelle gerne der Einwand erhoben, dass dieser ordnungspolitische Ansatz innere Spannungen auf ethno-kultureller Ebene zwar unterbinden könne. Wirklich überwinden ließe sich das Problem aber dennoch nicht, denn die Gefahr bestünde, dass Menschen statt auf ethnischer auf religiös-weltanschaulicher Ebene diskriminiert oder ungerecht behandelt werden könnten. Dieser Einwand wäre jedoch nur angebracht, wenn man diese Problematik unter nationalstaatlichen Rahmenbedingungen untersucht. So legitimiert sich der Nationalstaat durch ein genau definiertes Volk, dessen Zugehörigkeit anhand gemeinsamer Merkmale wie Sprache, Geschichte oder Ethnie konstruiert wird. Dieses bildet schließlich das politische Subjekt, dem die Souveränität übertragen wird. Somit setzt die Schaffung und Funktionsfähigkeit des Nationalstaates eine ethnokulturelle Homogenität voraus. Einmal entstanden führt die Leitvorstellung von der homogenen Nation zu einer harten Exklusionspraxis gegenüber nationalen Minderheiten, stehen diese doch dem nationalen Einheitsprozess im Weg. In diesem Sinne war es nur konsequent, dass im Bosnienkrieg die muslimische Bevölkerung gewaltsam vertrieben wurde, um den Traum von eine Nation, ein Staat wahr werden zu lassen. Die Tatsache, dass in einem Land verschiedene Nationen bzw. Ethnien leben, ist nach nationalstaatlicher Logik ein Störfaktor, der in letzter Konsequenz beseitigt werden muss, wenn sämtliche Assimilationsversuche fehlschlagen.

Im Gegensatz dazu verfolgt der Islam einen völlig anderen Ansatz. Der Staat konstituiert sich nach islamischer Auffassung durch zwei Prinzipien. Zum einen liegt die Souveränität nicht beim Menschen respektive einem Staatsvolk, sondern bei der Scharia. Zum anderen liegt die Autorität originär nicht beim Staat, sondern bei der Umma, die das Staatsoberhaupt einsetzt und zur Rechenschaft zieht. Durch diesen feinen, aber entscheidenden Unterscheid, ergibt sich für den Aufbau einer politischen Gemeinschaft ein im Verhältnis zur westlichen Staatsphilosophie ganz anderer Ausgangspunkt. Ob die Muslime in einem geographischen Gebiet die Mehrheit stellen oder nicht, ist aus diesem Staatsverständnis heraus keine Bedingung. Wie in der islamischen Geschichte häufig der Fall, bildeten Muslime in vielen Regionen des Kalifats eine Minderheit und zwar über einen längeren Zeitraum hinweg. Der Islam betrachtet die Existenz nichtmuslimischer Völker somit nicht als einen Störfaktor; weder für die Konstituierung des Staates noch für ein gelungenes Zusammenleben. Selbst westliche Historiker müssen eingestehen, dass Juden und Christen während der verschiedenen Epochen in der Regel keiner Assimilierung ausgesetzt waren oder als Parallel- oder Gegengesellschaft stigmatisiert wurden. Mehr noch, stellten sie über Jahrhunderte hinweg die Bevölkerungsmehrheit in zahlreichen eröffneten Gebieten. Vor diesem Hintergrund ist die Rückkehr zum islamischen Staatskonzept insbesondere für die auf dem Balkan lebenden Muslime die einzige Alternative, um ein geordnetes und friedliches Zusammenleben erneut ermöglichen zu können. Unter keinen Umständen dürfen sich die Muslime einreden lassen, es handele sich hierbei um ein längst überholtes Staatsverständnis, dessen Anwendung unter derzeitigen Rahmenbedingungen nahezu unmöglich erscheint. Vielmehr hat sich der Islam als ordnungspolitisches Konzept in der Geschichte bewährt – nur der Islam war und ist auch heute in der Lage, den heterogenen Charakter als eine gesellschaftliche Realität zu berücksichtigen und entsprechend seiner Normen zu gestalten.