Ausland Wird China die USA in Afghanistan ablösen?

Nach dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan wird das angrenzende China nach Einschätzung zahlreicher Beobachter nun in das gebirgige Land einrücken, um die Vereinigten Staaten zu ersetzen.

Während die westliche Hegemonie schwindet und die Welt 200 Jahre westlicher Vorherrschaft hinter sich lässt, bewegt sich die ehemals abgeschottete Nation zögerlich auf das Vakuum zu, das durch die Abnahme westlicher Einflüsse entstanden ist.

China hat erhebliche wirtschaftliche, strategische und sicherheitspolitische Interessen in Zentralasien, wobei Afghanistan den Knotenpunkt dieser Anliegen bildet. Die Transportwege durch den Wakhan-Korridor sind integraler Bestandteil der Neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative – BRI). Sie sind für das chinesische Bestreben, die Engpässe in der Straße von Malakka zu umgehen, von entscheidender Bedeutung. Die Interessen Chinas sind in Afghanistan also beträchtlich und von Dauer.

Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten von Amerika hat China seit dem Zweiten Weltkrieg, dem Koreakrieg im Jahr 1951 und dem Krieg mit Vietnam im Jahr 1979 keine Kriege mehr geführt und gewonnen. China hat weiterhin davon abgesehen, seine Streitkräfte außerhalb seiner Grenzen einzusetzen.

Auch kulturell hat China wenig zu bieten, während die Soft Power der USA und ihre Kulturexporte schleichend alle Aspekte des modernen Lebens durchdrungen haben. Von der Mode bis zur Musik dominieren westliche Marken und Trends und lassen nur wenig Raum für einen eindeutig chinesischen Kulturexport. Alle von China aufgebrachten Aspekte der Soft Power werden so beeinträchtigt. Das ist der Grund, warum sich die afghanische Elite selbst in Afghanistan vom Westen und nicht vom Osten inspirieren lässt.

Politisch ist der chinesische Einfluss gleichermaßen gering, während die USA, wenn auch mit beträchtlicher Doppelzüngigkeit, die Vorzüge ihres säkularen liberal-demokratischen und kapitalistischen politischen Systems propagieren. Die chinesische Form der Regierungsführung ist nichts, was man an irgendeinem anderen Ort auf der Welt möchte. Schließlich ist es schwierig, die äußerst unabhängigen Afghanen davon zu überzeugen, dass sie einen monolithischen und totalitären Einparteienstaat errichten sollten, dessen Wurzeln alle Aspekte des Lebens seiner Bürger durchdringen. Daher sind die chinesischen Beziehungen zu Afghanistan typisch für das Engagement Chinas gegenüber den meisten anderen Nationen. Ohne jeglichen kulturellen und politischen Einfluss überwiegt in den chinesisch-afghanischen Beziehungen die Wirtschaft.

Afghanistan seinerseits ist mit enormen Bodenschätzen gesegnet. Metalle, seltene Erden, Kohlenwasserstoffe, Gold, Silber, Platin, Eisenerz, Kupfer, Bauxit, Zink, Lithium und andere natürliche Ressourcen mit einem potenziellen Wert von bis zu drei Billionen Dollar liegen unter dem zerklüfteten Boden des Landes begraben. Allein die Lithiumvorkommen haben das Potenzial, Afghanistan in das Saudi-Arabien der Lithiumindustrie zu verwandeln.

Bereits vor dem Abzug der USA und ohne Berücksichtigung der Kosten für die US-Besatzung Afghanistans war China die wichtigste Quelle für ausländische Direktinvestitionen in Afghanistan. Allein im Jahr 2019 wurden die chinesischen Direktinvestitionen in Afghanistan auf über 400 Mio. USD geschätzt. Im Gegenzug war es die durch die US-Präsenz geschaffene Sicherheit, die chinesische Investitionen erleichtert hat.

Für die nächste Reihe chinesischer Investitionen wird nach dem Abzug der USA die Fähigkeit der Taliban ausschlaggebend sein, für Sicherheit und Stabilität in Afghanistan und der umliegenden Region, insbesondere in Xinjiang, zu sorgen. Diese umfangreichen Investitionen könnten die Infrastruktur Afghanistans und die mögliche Aufnahme in die chinesischen BRI-Programme umfassen.

Die Sichtweise der Taliban deckt sich dahingehend mit der Betrachtungsweise der Chinesen, für die die Taliban ein unvoreingenommener Wirtschaftspartner sind. LGBTQ-Rechte und eine Vielzahl anderer liberaler Politiken sind jedoch rote Linien, die die Taliban nicht überschreiten würden, egal wie hoch der wirtschaftliche Gewinn wäre.

Wenn die USA ein Land besetzen, üben sie oft eine umfassende Dominanz über dieses Land aus. Das politische, kulturelle und wirtschaftliche Leben der Einwohner des Landes wird den Interessen der USA untergeordnet. Die USA diktieren sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik des betreffenden Landes zum Nachteil des Landes selbst. Darüber hinaus ist der Einfluss der USA in vielen internationalen Einrichtungen institutionalisiert: Die Weltbank, der IWF, die UNO, die NATO und eine Vielzahl anderer politischer und wirtschaftlicher Gremien werden von den USA dominiert, was ihren Einfluss festigt und die Befolgung der US-Politik und -Verfahren sicherstellt.

China hingegen ist weder gewillt noch in der Lage, seinen Einfluss über den wirtschaftlichen Bereich hinaus auszudehnen. Selbst die von China angestrebten Sicherheitsgarantien beruhen nicht auf gemeinsamen Werten oder kultureller Verbundenheit, sondern sind das Ergebnis einer Konvergenz meist wirtschaftlicher Interessen und eines gegenseitigen Misstrauens gegenüber den Absichten anderer Nationen, wobei dies sogar für die ehemals mit China verbündeten Länder wie Pakistan gilt. Der noch recht schwache Einfluss der Chinesen ist auf internationaler Ebene institutionell kaum vertreten. Selbst in Gremien, in denen China ein Vetorecht innehat, wird es sich oft eher der Stimme enthalten, als in die Konfrontation zu gehen.

Auch wenn sich die USA aus Afghanistan zurückziehen, wird ihr politischer, militärischer, sozialer und wirtschaftlicher Einfluss nicht verschwinden, da China nichts bietet, was ihn ersetzen könnte.