Kriege und Kriegsverbrechen rufen unterschiedliche Reaktionen hervor. Die Frage, ob ein Aggressor angeklagt und ein Krieg als unmoralisch eingestuft wird oder nicht und ob es ein internationales Engagement gibt, den Krieg zu beenden, hängt ausschließlich vom Interesse westlicher Großmächte ab. Der Westen ist daher nicht in der Lage, die Werte, die er lautstark propagiert, auf identische Kriegssituationen gleichermaßen anzuwenden. Seine Werte ordnen sich seinem Maßstab unter, der natürlich im Nutzen besteht. Dieser Maßstab lässt keine absoluten Werte zu, da sie oftmals im Widerspruch zum Nutzen stehen. Das Interesse, einen Krieg anzuzetteln und zu befeuern oder sein Ende anzustreben, hängt nur vom Nutzen ab. Einen für ihn nützlichen Krieg erhält der Westen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln aufrecht, während er einen Krieg zu beenden versucht, der das Gegenteil von Nutzen bedeutet und beispielsweise die Energiepreise in die Höhe treibt, was die Wirtschaft behindert und die Menschen im Westen unmittelbar betrifft. Jeder Krieg steht und fällt mit dem Nutzen, den der Westen damit hat. Je weniger ihm ein Krieg nutzt, desto moralischer gibt er sich und nennt die Kriegsverbrechen beim Namen.
Für Europa bedeutet der Ukrainekrieg unermesslichen Schaden. Vor allem die wirtschaftlichen Nachteile lassen die Europäer ächzen. Europa würde von einem Ende des Ukrainekriegs profitieren. Genau das macht den Unterschied zwischen Russlands Krieg in Syrien und Russlands Krieg in der Ukraine aus. Der Nutzen des Syrienkriegs liegt in der Aufrechterhaltung der Macht Bashar al-Assads, der die Interessen der Kolonialmächte wahrt. Assad hat eine Aufgabe zu erfüllen und muss an der Macht bleiben. Deshalb ist der Syrienkrieg aus westlicher Sicht ein notwendiger Krieg. Anders verhält es sich mit dem Ukrainekrieg. Dieser hat unmittelbare negative wirtschaftliche Folgen für Europa. So etwas kennt die westliche Welt für gewöhnlich nicht, dass ein Krieg wütet und sie direkt betroffen ist und die Folgen zu spüren bekommt. Das Motiv, den Ukrainekrieg zu beenden, liegt also weniger darin begründet, das Leid der Ukrainer zu beenden, als vielmehr darin, die eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen zu schützen.
Der Westen hat zugegeben, dass Russlands Krieg gegen die syrische Bevölkerung und der Krieg Russlands gegen die Ukraine Parallelen aufweisen. Was die Ukrainer seit einigen Monaten an Bombardements und Kriegsverbrechen erleben, durchleben die Syrer schon seit 2015, ohne dass in dieser langen Zeit irgendein öffentliches Interesse des Westens an den Kriegsverbrechen Russlands in Syrien bestanden hätte. Russlands Syrienkrieg ist nur vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs von westlichem Interesse. Er ist zwar ins öffentliche Gedächtnis gerufen worden, aber nur deshalb, weil er als Testlauf Russlands für den Ukrainekrieg eingestuft wird und belegen soll, dass Russland eine Strategie des Bösen hat, die sich schon in vergangenen Kriegen zeigte. Der Syrienkrieg ist jedoch keine Trockenübung, sondern ein realer Krieg mit Toten und Verletzen. Dennoch gilt er lediglich als „Putins Blaupause“ für den Ukrainekrieg. Man suggeriert, dass das Motiv für Putins Krieg gegen die Syrer ausschließlich in einer Vorbereitung auf den Ukrainekrieg liege. In Wahrheit ist Russlands Syrienkrieg weder ein Testlauf noch eine Blaupause, sondern ein grausames Kriegsverbrechen gegen die syrische Bevölkerung.
Wenn wir annehmen, dass Syrien Putins Testarena war, um sich für einen Krieg in der Ukraine zu rüsten, so stellt sich doch die Frage, weshalb die westliche Welt so unterschiedlich auf die Kriegsverbrechen in Syrien und in der Ukraine reagiert, zumal man 2015 gar nicht wissen konnte, dass Russland sich in Syrien auf den Ukrainekrieg vorbereitet. Russlands Syrienkrieg war weitgehend von journalistischem Desinteresse und einer ebenso desinteressierten Öffentlichkeit geprägt – wobei das eine das andere bedingt –, während der Ukrainekrieg weltweit alle anderen Themen, die mindestens so wichtig sind, überschattet. Es ist inzwischen sogar zum Trend geworden, als westlicher Politiker oder Prominenter in die Ukraine zu reisen, um sich solidarisch zu präsentieren und sich vorgeblich ein eigenes Bild von der Lage zu machen. Ein Politiker oder Promi, der etwas auf sich hält, muss in die Ukraine reisen und sich gemeinsam mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj ablichten lassen. In das von Russland bombardierte Aleppo wollte hingegen keiner einen Fuß setzen, um sich ein Bild vom Schicksal der Menschen zu machen und ihnen Unterstützung anzubieten. Eins können wir in diesem Zusammenhang also festhalten: Der Syrienkrieg war definitiv keine Blaupause für westliche Humanität.
Völkerrechtlich werden der Syrienkrieg und der Ukrainekrieg unterschiedlich eingestuft. Wenn ein Diktator einen anderen Diktator darum bittet, ihm beim Abschlachten seiner eigenen Bevölkerung zu helfen, so verstößt das nach westlichem Verständnis nicht gegen das Völkerrecht. Da Syriens Präsident Bashar al-Assad Putin darum gebeten hatte, ihn im Krieg gegen sein eigenes syrisches Volk zu unterstützen, gilt Russlands Syrienkrieg als „Intervention auf Einladung“. In der Bewertung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages heißt es deshalb: „Vor diesem Hintergrund wird die russische Präsenz in Syrien in der Völkerrechtswissenschaft als zulässig erachtet.“ Da Russland nicht das Assad-Regime bombardiert, sondern die syrische Zivilbevölkerung, liegt kein Verstoß gegen das Völkerrecht vor. Erst wenn Russlands Bomben sich gegen den Diktator Assad richten würden und nicht gegen das Volk, hätte Russland gegen das Völkerrecht verstoßen. Russlands Krieg gegen die syrische Bevölkerung ist also absolut völkerrechtskonform. Nach diesem Völkerrechtsverständnis darf ein Diktator einen anderen Diktator also ohne Weiteres dazu einladen, ihn bei der Unterdrückung seines Volkes zu unterstützen, um sich gegen den Volkswillen an der Macht halten zu können. Daran erkennt man, dass Völkerrecht und Menschenrechte keine absoluten Werte darstellen. Sie liegen im Auge des westlichen Betrachters. Wenn der Krieg Russlands in Syrien völkerrechtskonform ist, ist das ein Armutszeugnis für den Westen und sein sogenanntes Völkerrecht. Es legt seine Doppelmoral offen.
Während die Welt sich darüber einig ist, dass Russland die Ukraine widerrechtlich angegriffen hat und die Ukraine unterstützt werden muss im Krieg gegen Putin, war sich die westliche Welt im Gegensatz dazu einig darüber, dass Russland unbedingt einen Krieg in Syrien führen sollte. Der Syrienkrieg war kein Alleingang Russlands. Denn die gesamte westliche Welt hat ein Interesse daran, den Diktator Bashar al-Assad an der Macht zu halten und ihm dafür jede Unterstützung zukommen zu lassen im Kampf gegen die Muslime, selbst wenn es bedeutet, einen Diktator wie Putin in die syrische Kampfarena zu schicken. Ohne die ständige Einmischung fremder Mächte wäre Bashar al-Assad im Grunde schon seit 2012 Geschichte. Aber er konnte durch die Unterstützung der Kolonialmächte und vor allem der USA weiter regieren. Im Jahr 2015 befanden sich trotz der militärischen Unterstützung des syrischen Regimes durch die Kolonialmächte die meisten Gebiete Syriens nicht mehr unter Assads Kontrolle. Ihm unterstanden gerade einmal zehn Prozent. Das erklärt den Zeitpunkt des Beginns von Russlands Syrienkrieg im September 2015. Der Zeitpunkt war also nicht zufällig gewählt, um in den Syrienkrieg einzusteigen. Wieder einmal galt es, Assads Herrschaft aufrechtzuerhalten.
Kein Staat gibt zu, aus niederen Beweggründen einen Krieg zu führen. So behauptet Russland, dass das Motiv für den Ukrainekrieg eine Entnazifizierung der Ukraine sei. Natürlich glaubt niemand Putin, dass es ihm um die Entnazifizierung der Ukraine geht und der Krieg ein Kampf gegen die Nazis sei. Im Gegensatz dazu nahm ihm die Welt aber sein vorgegebenes Motiv für den Syrienkrieg ab, das in der „Bekämpfung des Terrorismus“ bestehe. Russland gab, wie alle anderen Staaten auch, vor, den IS zu bekämpfen. Diese Lüge zweifelte niemand an, und so ließ man Russland in Syrien unbehelligt wüten, seine Bomben auf die syrische Bevölkerung abwerfen und seine Söldner, unter ihnen die berüchtigte Gruppe Wagner, die Menschen terrorisieren. Während man Putins Absichten für den Ukrainekrieg in Zweifel zieht, wurde seine Begründung für den Syrienkrieg von allen anerkannt und gestützt, auch wenn der Verlauf des Krieges deutlich macht, dass er nicht der Bekämpfung des IS galt, sondern des syrischen Volkes, das sich ohne westliches Einverständnis des Diktators Assad entledigen wollte. Um das zu verhindern, tat der Westen einfach so, als hätte Russland tatsächlich den IS bekämpfen wollen. Als es um den Syrienkrieg ging, galt Russland noch als glaubwürdiger Vertreter und Verteidiger westlicher Werte.
Wie wenig es Russland tatsächlich um Terrorbekämpfung und um Bekämpfung des IS in Syrien ging, zeigt sich an den Gebieten, die von Russland permanent angegriffen wurden. Die Nachrichtenagentur Reuters stellte fest, dass 80 Prozent der Ziele russischer Luftangriffe keine IS-Gebiete waren. In Wahrheit galten die russischen Angriffe zivilen Zielen, denn immerhin ist es die Zivilbevölkerung, die ihren Diktator Assad loswerden will. Nachweislich wurden Krankenhäuser, Schulen und Märkte bombardiert und tausende von Zivilisten getötet. Jetzt, da Russland das gleiche Vorgehen in der Ukraine zeigt, ist der Westen geneigt, die Berichte aus Syrien zu glauben, die auf diese Kriegsverbrechen hinwiesen. Immer wieder hat der Westen die Berichte von russischen Kriegsverbrechen in Syrien ignoriert oder für unwahr erklärt und an die Lüge von chirurgischer Präzision russischer Schläge gegen den IS geglaubt bzw. glauben wollen. Westliche Medien haben Russlands Darstellungen unreflektiert übernommen. Erst durch den Ukrainekrieg, der nun an den Syrienkrieg erinnert, bröckelt dieses Bild, das ausschließlich von russischer Propaganda stammt. Zu offensichtlich sind die Parallelen in der Kriegsstrategie Russlands. Amnesty International stellte fest, dass Angriffe auf Krankenhäuser und die Zerstörung der medizinischen Infrastruktur in Syrien zur russischen Militärstrategie gehörten. Es ist offensichtlich, dass Russlands Syrienkrieg sich nicht gegen den IS richtete, sondern gegen die Zivilisten.
Westlichen Staaten war es egal, dass Russland Krankenhäuser und Schulen in Syrien gezielt bombardierte. Es war ihnen genauso egal, dass Streubomben eingesetzt wurden, die im Falle der Ukraine jedoch für Empörung sorgen. Russland gab sogar zu, seine neue Waffentechnik in Syrien zu erproben. In der Ukraine tut Russland nun genau das Gleiche, doch erst jetzt sieht man eine Gefahr in Russlands neuer Waffentechnik. Erst vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs fragt sich der Westen, über welche Waffen Russland verfügt und welche Waffen zum Einsatz kommen. Im Syrienkrieg spielte es keine Rolle, mit welchen Waffen die Menschen getötet wurden.
Die Welt zeigte vollstes Verständnis, dass die Menschen vor dem Ukrainekrieg flüchten mussten. Man öffnete den Geflüchteten Tür und Tor. Dieses Verständnis fehlte im Falle des Syrienkriegs völlig. Es störte den Westen lediglich, dass Russland durch seine Luftangriffe auf Aleppo im Jahr 2016 die sogenannte Flüchtlingskrise verschärfen würde. Zehntausende mussten vor den russischen Bomben aus Aleppo fliehen. Nur deshalb kritisierten europäische Staaten das Vorgehen Russlands gegen die Zivilbevölkerung, die nicht nur vor den Luftangriffen fliehen musste, sondern auch vor russischen Söldnern, die Zivilisten folterten und töteten. Das heißt, nur die Furcht, dass der Krieg die Syrer wieder in eine Massenflucht nach Europa treiben könnte, veranlasste den Westen dazu, Russlands Kriegstreiben in Syrien zu kritisieren. Hätten die europäischen Staaten die Garantie gehabt, dass kein einziger syrischer Flüchtling es bis nach Europa schaffen würde, hätten sie Putin wahrscheinlich angespornt, seine Luftangriffe zu intensivieren, um den Willen der Syrer endgültig zu brechen und sich der Diktatur Assads zu fügen.