Obwohl der Islam eine ganzheitliche Sicht auf die Welt postuliert und demzufolge auch dem politischen Blick des Menschen eine umfassende Perspektive verleiht, ist in der heutigen Zeit unter Muslimen häufig eine entgegengesetzte Tendenz zu beobachten. Bedingt durch die unreflektierte und unsensible Übernahme westlicher Ideen hat sich entgegen der Erwartung vieler Muslime ihr Blick in politischen Fragestellungen stark verengt.
Dies wird besonders sichtbar, wenn es darum geht, den Status quo in der islamischen Welt von Grund auf zu verändern. Vielen Muslimen fällt es dabei schwer, Lösungsansätze zu denken, die sich ausschließlich aus dem Islam als weltanschaulichen Bezugspunkt ableiten lassen. Die Folge dessen ist, dass eine fundamentale Veränderung nicht mehr in Erwägung gezogen wird. Der Fokus richtet sich vielmehr auf schrittweise Reformversuche, die lediglich den Status quo zementieren. Doch unabhängig davon, ob es um die Entwicklung einer langfristigen Strategie geht oder um die Bewältigung aktueller Herausforderungen; die grundsätzliche Problematik besteht darin, dass auf jene ideologischen Konzepte zurückgegriffen wird, welche ursächlich sind für die politischen, ökonomischen und sozialen Probleme, mit denen die Muslime bis heute zu kämpfen haben. Ein Beispiel hierfür ist die noch immer verbreitete Vorstellung, dass der säkulare Nationalstaat als Vehikel verstanden werden könnte, durch den sich die islamischen Interessen transportieren und verwirklichen lassen. Statt dieses Staatskonzept radikal abzulehnen, wird der Gang durch seine Institutionen als alternativlos betrachtet, um politische Veränderungen einzuleiten. Aus Sicht vieler Muslime scheint somit der Einzug ins Parlament oder die Übernahme von Regierungstätigkeiten die einzige Möglichkeit zu sein, um den Einfluss des Islam zu stärken und die politischen Rahmenbedingungen auf lange Sicht zu verändern. Obgleich die politische Partizipation an den unislamischen Systemen nie die erwünschten Resultate brachte bzw. die Missstände sogar noch verschärfte, ist eine durch den Islam gedeckte Alternative zu dieser pragmatischen Herangehensweise nicht erkennbar. Interessanterweise fehlt es insbesondere den muslimischen Denkern keineswegs an der theoretischen Überzeugung, dass der Islam aufgrund seines holistischen Weltbildes auch den gesellschaftspolitischen Rahmen definiert. Dennoch werden Entscheidungen in realpolitischen Fragen nicht auf Basis der islamischen Primärtexte getroffen. Ebenso wenig ziehen die relevanten Akteure diese heran, um eine langfristige Strategie zu entwickeln. Auf diese Weise wird nicht nur die Existenz der säkularen Nationalstaaten sanktioniert. Vielmehr führt der pragmatische Ansatz letztlich zur Lähmung der eigenen politischen Handlungsfähigkeit. Denn er verhindert, dass die muslimische Gemeinschaft aus dem Gedankenkorsett ausbricht, das aus nationalstaatlichen Ordnungsvorstellungen und dem säkular-liberalen Gesellschaftsbild besteht.
Die Situation der Muslime auf dem Westbalkan kann exemplarisch für dieses Dilemma herangezogen werden. Gerade in Bosnien-Herzegowina wird man zumindest in religiösen Kreisen kaum jemanden finden, der den Islam als einzig funktionierenden ordnungspolitischen Rahmen ernsthaft in Zweifel ziehen würde. Doch bei der Frage, wie dies in der Praxis umgesetzt werden soll, wird gerne argumentiert, dass die Bosniaken als muslimische Minderheit es nicht schaffen könnten, die politischen Strukturen im Sinne des Islam nachhaltig zu verändern, etwa mit dem langfristigen Ziel, dort das Kalifat zu retablieren. Die nationalstaatlichen Rahmenbedingungen ließen den Bosniaken demzufolge keine andere Wahl, als sich in die bestehenden politischen Strukturen einzufügen und innerhalb dieser Lösungen auch für die derzeitigen Herausforderung zu finden. Zudem wird eine gewisse Unüberwindbarkeit suggeriert, denn die Bevölkerungsmehrheit auf dem Balkan, die bekanntlich nicht aus Muslimen besteht, könne nur schwerlich vom islamischen Staatskonzept überzeugt werden.
Doch diese Einwände offenbaren einen grundsätzlichen Denkfehler, der in erster Linie auf die Frage zurückgeht, worüber die Muslime sich als politische Akteure definieren. Die Beantwortung dieser Frage bestimmt nämlich die politischen Ziele und legt damit den Grundstein für die konkreten politischen Handlungen. Je nach dem also, an welchem ideologischen Anker die Muslime anknüpfen, entscheidet sich dadurch am Ende die politische Stoßrichtung. Erfolgt die primäre Selbstverortung in der Praxis über die ethnische statt über die religiös-weltanschauliche Zugehörigkeit, können politische Lösungen auch nur einen ethnisch-nationalen Charakter besitzen und bleiben daher regional begrenzt. Bezogen auf den Westbalkan ist eine fundamentale Veränderung der Lage nicht möglich, solange die Muslime politisch als Bosniaken oder Albaner auftreten. Geht man von dieser Grundprämisse aus, dann wäre der obige Einwand durchaus zutreffend; als nationale Minderheit können die Bosniaken die Verhältnisse nur soweit ändern, wie es den nationalstaatlichen Rahmen nicht sprengt. Vor allem aber könnten dadurch auch nur die Angelegenheiten der Bosniaken berücksichtigt werden. Sich hingegen der Probleme aller Muslime ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit anzunehmen, scheitert auf politischer Ebene an den nationalen Identitäten. Analog dazu kann der Palästinenser-Konflikt gesehen werden. Dass das Besatzungsproblem in den vergangenen Jahrzehnten nicht gelöst werden konnte, ist schlicht der Tatsache geschuldet, dass der Konflikt stets in einen ethnisch-nationalen Kontext gesetzt wurde. Die Besatzung stellt dieser Deutung zufolge keine islamische Angelegenheit dar, die alle Muslime weltweit betrifft, sondern einen Konflikt, den lediglich die Araber respektive die Palästinenser beilegen müssten. Unter diesem Gesichtspunkt kann es konsequenterweise auch keine islamische Lösung für die Akteure geben, die diesen Konflikt unter ethnisch-nationalen Vorzeichen betrachten.
Trotz aller Beteuerungen, dass die Muslime im Allgemeinen und ganz besonders auf dem Westbalkan ohne eine nationale Identität politisch nicht überlebensfähig seien, beweist die Realität doch genau das Gegenteil; gerade die ethnisch-nationalen Zugehörigkeiten haben einen Keil zwischen die muslimischen Völker getrieben und sie in eine politische Selbstblockade versetzt, die jeglichen Versuch – aus diesen Strukturen herauszubrechen – bislang scheitern ließ. Diese Blockade aufzulösen, kann nur funktionieren, wenn die Muslime einen grundlegenden Perspektivwechsel vollziehen und sich nicht nur auf spiritueller, sondern auch auf politischer Ebene als Teil der Umma verstehen. Ist dieses Bewusstsein einmal geschaffen, sind die Weichen gestellt, um einerseits eine politische Zukunftsvision zu entwickeln, die auf Basis der islamischen Quelltexte gründet. Andererseits würden sich daraus neue Handlungsoptionen ergeben, um auch den aktuellen Herausforderungen Herr zu werden. Denn die politische Verbundenheit mit der Umma, welche sich im Kalifat manifestierte, war in der gesamten Geschichte des Islam ein Garant dafür, dass vor allem auch jene Muslime, die an der Peripherie der islamischen Welt leben, vor Übergriffen geschützt waren. Schließlich waren die Massaker an den Muslimen in Bosnien-Herzegowina oder im Kosovo in diesem Ausmaß nur möglich, weil die politische Verbindung zur Umma gekappt war und sich demzufolge kein Staat in der islamischen Welt verantwortlich fühlte, den Muslimen militärisch, politisch und wirtschaftlich zur Hilfe zu eilen. Vor diesem Hintergrund hängt die politische Überlebensfähigkeit der Muslime keineswegs von der Herausbildung ethnisch-nationaler Identitäten ab. Vielmehr kommt es darauf an, ob und inwieweit sich die Muslime auf den Islam als ihren originären weltanschaulichen Bezugspunkt besinnen und ihr gesamtes Denken und Handeln – vor allem in politischen Fragen – danach ausrichten. Nur unter diesen Voraussetzungen wird es möglich sein, das nationalstaatliche Denken zu überwinden und den Status quo von Grund auf zu verändern. Sowohl in den westlichen Balkanstaaten als auch im Rest der islamischen Welt.