Die Existenzfrage der Muslime ist unbestritten auch ein Klagelied aller islamischer Völker, dessen Ursprung im westlichen Kolonialismus liegt. Unlängst bewahrheitete sich die Aussage des Propheten (s), dass fremde Mächte über die Muslime herfallen würden „wie Hungrige über ein Stück Fleisch“. Angetrieben von seiner gewalttätigen und niederträchtigen Ideologie, konstruierte der Westen vermeintlich souveräne und voneinander unabhängige Nationalstaaten in der islamischen Welt, um die Zersplitterung der Ummah sowohl auf weltanschaulicher als auch ordnungspolitischer Ebene zu verankern.
Ausgehend von dieser nationalstaatlichen Ordnung suhlen sich insbesondere kurdische Nationalisten im ewigen Selbstmitleid. Sie transportieren das Narrativ eines seit jeher unterdrückten Volkes, das in seiner Geschichte angeblich durch den Islam kolonialisiert, arabisiert und zwangsassimiliert wurde. Den ketzerischen Worten Öcalans, der Islam sei lediglich eine „kriegerische Ideologie der arabischen Nation“ gewesen, schließen sich weitere kurdische Nationalisten mit ihrer Erzählung an, das Kalifat sei nur ein weiterer imperialer Raubzug gewesen, dem das kurdische Volk in seiner Geschichte zum Opfer gefallen wäre. Die eigene Freiheit, das Ehrgefühl, ja die schiere Existenz des kurdischen Volkes – so die Milchmädchenrechnung jener Nationalisten – seien nur dann geschützt, wenn es sich von allen äußeren, imperialen Zwängen löse. Demnach sei der Islam sowohl historisch als auch gegenwärtig ein zentraler Hinderungsfaktor, der ein geschütztes, friedliches und selbstbestimmtes Leben des kurdischen Volkes verunmögliche. Ein Blick in die Historie der Kurden entlarvt diese Erzählung jedoch als gefährlichen Geschichtsrevisionismus. Besonders eindrücklich lässt sich dies an der kurdischen Einwanderung nach Palästina ablesen – ein geschichtliches Kapitel, das von Nationalisten bewusst ausgeblendet wird und im kollektiven Bewusstsein der Kurden kaum mehr vorhanden ist.
Das Zusammenleben kurdischer, arabischer und türkischer Einwohner Palästinas war nicht nur geprägt von Akzeptanz und guter Nachbarschaft, sondern spiegelt den inkludierenden Charakter des Islamischen Staates wider, der allen Völkern ein Leben in Ehre und Prosperität ermöglichte. So siedelten sich zahlreiche Kurden in mehreren Etappen in Palästina an; zunächst durch Salahuddin Ayyubi und seinen Vater Najm al-Din im 12. Jahrhundert, gefolgt durch weitere Einwanderungen zu Zeiten der Mamluken und Osmanen. Demnach sind etliche Stämme im heutigen Palästina kurdischen Ursprungs, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auch weiterhin kurdisch sprachen. Während dieser Zeit waren die kurdischen Zuwanderer nicht nur integraler Bestandteil der Gesellschaft, sondern ein wichtiger Treiber der islamischen Kultur in dieser Region.
So prägte der Hathat-Palast des kurdischen Händlers Ibrahim Hathat seit dem 12. Jahrhundert maßgeblich das Landschaftsbild Gazas. Ein Angehöriger der Hathat-Familie fasste das Vorhaben der Kurden in Palästina wie folgt zusammen: „Die Kurden kamen nach Palästina und sahen es als einen historischen und islamischen Bestimmungsort, in dem sie leben und sich mit den Arabern zusammenschließen wollten“. Die Tatsache, dass sich große Teile der kurdischen Bevölkerung aus einer rein islamischen Motivation heraus in Palästina niederließen und um das städtische Leben aktiv mitzugestalten, steht im diametralen Widerspruch zu der Behauptung, sie wären eine vom Kalifat und den Muslimen unterjochte Randgruppe gewesen. Ganz im Gegenteil waren sich die Kurden – sowie alle anderen islamischen Völker auch – der islamischen Verantwortung und somit der historischen Bedeutung Palästinas durchaus bewusst und opferten nicht nur Kosten und Mühe für den Aufbau des Heiligen Landes, sondern zu dessen Verteidigung auch ihr eigenes Leben. Die islamische Aqida bildete schließlich auch den Antrieb eines Salahuddin Ayyubis, der sich jegliches Lächeln untersagte, bis al-Quds aus den Fängen christlicher Kreuzritter befreit würde. Aus dieser islamischen Motivation heraus, errichtete auch der kurdische Händler und Gelehrte Shehab al-Din bin Othman Mitte des 15. Jahrhunderts die Ibn Othman Moschee – die zweitälteste und zweitgrößte Moschee in Gaza. Ferner demonstriert der Bau der Sayyida Ruqqaya Moschee die starke Verbundenheit der kurdischen Bevölkerung zur islamischen Kultur und den wichtigen Persönlichkeiten der damaligen Zeit. So sagte der Historiker Nasser al-Yafawi zur Entstehungsgeschichte dieser Moschee: „Ruqayya war eine schöne und rechtschaffene Frau aus der Zeit der Mamluken. Ein osmanischer Fürst verfiel ihrem Charme und heiratete sie. Als sie und ihr Mann starben, bauten die kurdischen Bewohner der Gegend diese Moschee“. Auch sind zahlreiche Traditionen, die im heutigen Palästina Bestand haben, laut Yafawi auf die Ursprünge kurdischen Daseins zurückzuführen.
Vor diesem Hintergrund wirkt die Behauptung, das Kalifat sei nur ein weiterer das Leben und die kulturelle Entfaltung der kurdischen Bevölkerung bekämpfender Unterdrückungsapparat gewesen, geradezu absurd. Während die eurozentrische Perspektive und der durch fremde Ideologien kompromittierte Geisteszustand einiger Nationalisten es einfach nicht zulassen, dass historische Fakten bis zu ihren Frontallappen hindurchdringen, streuen andere Protagonisten bewusst Lügen in die Köpfe kurdischer Muslime, um ihrer separatistischen Agenda Vorschub zu leisten und einen unabhängigen bzw. von der islamischen Ummah losgelösten Nationalstaat zu gründen. All die genannten sowie zahllose weitere Beispiele aus der Geschichte kurdischen Lebens in Palästina stehen im diametralen Widerspruch zu der Erzählung kurdischer Nationalisten, die das Bild eines durch das Kalifat unterdrückten Volkes zeichnen. Viel mehr war es der aufstrebende Nationalismus Mitte des 19. Jahrhunderts und insbesondere der Verlust Palästinas im Jahre 1917, die dazu führten, dass das Heilige Land vom Kalifat isoliert wurde. Historikern zufolge bildete dies auch den Startpunkt, an dem die Kurden nach fast siebenhundert Jahren in Palästina aufhörten, die kurdische Sprache zu sprechen und sich vollständig arabisierten. Zwar berufen sich zahlreiche Stämme wie Mot’ab, al-Hazin, Qeymari und viele weitere auf ihre kurdischen Wurzeln, gleichwohl verfügen nur noch wenige über Kenntnisse der kurdischen Sprache. Auch ohne diese spezifische Entwicklung normativ zu bewerten, widerlegt sie doch eindrucksvoll die wirre Behauptung der Zwangsarabisierung während der Herrschaft des Islam und offenbart zugleich die destruktive Minderheitenpolitik moderner Nationalstaaten, die per definitionem immer auf die ethnokulturelle Homogenität der sie konstituierenden Nation bzw. des Trägervolkes der jeweiligen Staatsgewalt abzielen.
Derweil war das Aufblühen nichtarabischer Völker im Islamischen Staat nicht nur Teil der kurdischen Geschichte. Ein Blick auf den ethnischen Hintergrund der sechs größten Hadith-Gelehrten – Muslim, al-Bukhari, al-Tirmidhi, Abu Dawud, al-Nasa’i und Ibn Madscha – stellt ebenso die integrative Kraft des Islam unter Beweis. So war keiner der besagten Muhaddithun Araber, obschon sie maßgeblich zur Entwicklung islamischer Geisteswissenschaften beitrugen. Auch war Abu Hanifa, der als Imam al-A’dham in die Annalen islamischer Jurisprudenz einging, nichtarabischer bzw. persischer Herkunft. Und auch die Osmanen, mithilfe derer sich das Kalifat bis an die Grenzen Wiens ausbreitete, identifizierten sich nicht im Sinne eines wie auch immer gearteten Türkentums, sondern verstanden sich trotz ihrer divergierenden ethnischen Abstammung als Erben des Propheten (s). Diese und viele weitere Beispiele stehen der Erzählung diametral entgegen, der Islam und das Kalifat seien nichts als imperialistische Machtinstrumente eines arabischen Kolonialismus gewesen. Auch sind der Islam und das Kalifat nicht ursächlich für das gegenwärtige Elend der Muslime; vielmehr sind es gerade die Nationalisten in den Reihen islamischer Völker, die hier maßgeblich in der Verantwortung stehen und sich zu willfährigen Erfüllungsgehilfen westlicher Kolonialmächte gemacht haben – Kolonialmächte, die für die artifiziellen Grenzen und der damit einhergehenden Nationalismen, Rassismen und Unterdrückungsmechanismen in der islamischen Welt verantwortlich sind!
Der Islam hingegen hat sich nie als eine arabische Bewegung oder Gesinnung verstanden. Die Lebensordnung des Islam ist ein System, das der Fitra jedes Menschen entspricht und somit nicht nur spezifischen Individuen, sondern auch ganzen Völkern einen geistigen Aufstieg ermöglicht. Kurdischen sowie allen anderen Nationalisten sollte daher bewusst sein, dass es gerade ihr Gedankengut ist, das zum geistigen, politischen und wirtschaftlichen Zerfall der islamischen Welt geführt hat und das aus Brudervölkern Feinde machte. Sie sollten die Worte Allahs (swt) reflektieren, die dem regressiven Tribalismus ein Ende bereiteten und aus schwachen und bedeutungslosen Stämmen eine starke Ummah mit einer gewaltigen politischen Strahlkraft machten.
So sagt der Erhabene:
﴿وَاعْتَصِمُواْ بِحَبْلِ اللّهِ جَمِيعًا وَلاَ تَفَرَّقُواْ وَاذْكُرُواْ نِعْمَةَ اللّهِ عَلَيْكُمْ إِذْ كُنتُمْ أَعْدَاء فَأَلَّفَ بَيْنَ قُلُوبِكُمْ فَأَصْبَحْتُم بِنِعْمَتِهِ إِخْوَانًا وَكُنتُمْ عَلَىَ شَفَا حُفْرَةٍ مِّنَ النَّارِ فَأَنقَذَكُم مِّنْهَا كَذَلِكَ يُبَيِّنُ اللّهُ لَكُمْ آيَاتِهِ لَعَلَّكُمْ تَهْتَدُونَ﴾
Und haltet alle fest am Seil Allahs und geht nicht auseinander! Und gedenkt Allahs Gunst an euch, als ihr Feinde wart und Er dann eure Herzen zusammenführte, worauf ihr durch Seine Gunst Brüder wurdet. Und (als) ihr am Rand einer Feuergrube wart und Er euch dann davor errettete. So macht Allah euch Seine Zeichen klar, auf dass ihr rechtgeleitet werden möget![3:103]
Die Identifikation mit dem Islam und der Ummah schuf in allen muslimischen Völkern ein weltanschaulich-politisches Zusammengehörigkeitsgefühl, durch das gewaltige Synergien und Potenziale gehoben werden konnten. Wohlstand, Gerechtigkeit und gesellschaftliche Stabilität sind nur durch die Rückbesinnung auf die islamische Lebensordnung und unter der Führung eines Kalifen möglich. Diese Erfolgsgeschichte zeigte sich nahezu durchgängig in der 1400-jährigen Historie des Islamischen Staates, dessen Zerfall die Schaffung jener Nationalstaaten ermöglichte, die geprägt sind von Korruption, Despotie und politischer Bedeutungslosigkeit. Anstatt sich weiter an der Gründung eines weiteren gescheiterten Staates abzuarbeiten, sollten sich die Ethnonationalisten in Kandil und Erbil ein Beispiel an ihren „kurdischen Brüdern“ in Palästina nehmen, die – geleitet von der islamischen Aqida – Widerstand gegen das zionistische Kolonialgebilde leisten und diesem sowie der gesamten kolonialen Ordnung in der islamischen Welt durch die Da’wa zur Wiedererrichtung des Kalifats in naher Zukunft ein jähes Ende bereiten werden.