Kommentar Das säkulare Dilemma mit dem Anbetungsinstinkt

Hat der Mensch einen angeborenen Anbetungsinstinkt? Die Aufklärung, die sich den Kampf gegen die Religion auf die Fahne geschrieben hatte, beantwortete diese Frage unfreiwillig mit ja und erbrachte selbst den Beweis, dass der Mensch einen Anbetungsinstinkt hat. Zwar erklärte sie die Religion zum größten Übel des Menschen, musste aber gleichzeitig einen Ersatz schaffen, um den […]

Hat der Mensch einen angeborenen Anbetungsinstinkt? Die Aufklärung, die sich den Kampf gegen die Religion auf die Fahne geschrieben hatte, beantwortete diese Frage unfreiwillig mit ja und erbrachte selbst den Beweis, dass der Mensch einen Anbetungsinstinkt hat. Zwar erklärte sie die Religion zum größten Übel des Menschen, musste aber gleichzeitig einen Ersatz schaffen, um den Anbetungsinstinkt zu befriedigen, den sie nicht ausschalten, sondern nur umleiten konnte. Deshalb setzte sich die Aufklärung immer nur mit Gewalt durch und zwang sich den Menschen auf, bis sie sich schließlich fügten. Sie interessiert sich nicht dafür, ob die Menschen sie wollen oder nicht. Auch die Muslime sollen dazu gezwungen werden, die Ideen der Aufklärung zu übernehmen, selbst wenn diese unvereinbar mit dem Islam sind. Mit Zwang hatten die Verfechter der Aufklärung nämlich noch nie ein Problem.

Es ist eine historische Tatsache, dass die Aufklärung den Menschen aufgezwungen wurde. Sie ist untrennbar an die Französische Revolution geknüpft und an den Terror, der mit ihrer Durchsetzung einherging. Denn die Entstehung der Ideen der Aufklärung in den Köpfen von Philosophen ist eine Seite, ihre Umsetzung in der Realität eine andere. Die Terrorherrschaft der Jakobiner in den Jahren 1793 und 1794 während der Französischen Revolution ließ Theorie und Praxis weit auseinanderklaffen. Die Jakobiner unter der Führung von Maximilien de Robespierre nahmen in Frankreich die politischen Zügel in die Hand, richteten den König hin und verübten die schlimmsten Massaker an der Bevölkerung, um die Ideen der Aufklärung gewaltsam durchzusetzen. Die Guillotine war pausenlos im Einsatz. Selbst der Begriff Terror geht auf diese Zeit zurück und wurde von den Jakobinern in einem positiven Sinne gebraucht. Robespierre definierte Terror als „unmittelbare, strenge, unbeugsame Gerechtigkeit“ und bezeichnete ihn als „Konsequenz des allgemeinen Prinzips der Demokratie“. Die Ablehnung der Ideen der Aufklärung war praktisch ein Todesurteil für einen Menschen.

So schlimm wie die Zwangschristianisierung, die man aus der Geschichte kennt, war die Entchristianisierung während der Terrorherrschaft der Jakobiner. Die Religion wurde aus dem Leben der Menschen mit Brachialgewalt herausgerissen. Christliche Symbole wurden radikal entfernt, Kirchen entweiht, Priester getötet und das Läuten der Glocken sowie kirchliche Prozessionen verboten. Alles geschah im Namen der Vernunft, doch wie wenig das Vorgehen mit Vernunft zu tun hatte, zeigen die Maßnahmen im Einzelnen, die von purem Hass gegen das Christentum geleitet waren. Die Fanatiker der Aufklärung versuchten alle Spuren des Christentums vollständig auszuradieren. Straßen, die Namen von Heiligen trugen, wurden umbenannt. Selbst christliche Bestattungen waren untersagt und Friedhöfe wurden säkularisiert, indem man an den Toren der Friedhöfe die Inschrift „Der Tod ist ein ewiger Schlaf“ anbrachte.

Die Anbetung Gottes wurde zur Anbetung dessen, was als Vernunft verstanden wurde. Kirchen wurden in „Tempel der Wahrheit“ oder „Tempel der Vernunft“ umgewandelt. In der Kathedrale Notre Dame wurde am 10. November 1793 das erste „Fest der Vernunft“ abgehalten. Hierzu weihte man der Philosophie einen Tempel, den man mit Büsten von Personen aus der Antike schmückte. Am Altar loderte eine Flamme der Vernunft. Der Konvent verkündete feierlich, dass die Hauptkirche von Paris „der Vernunft und der Freiheit“ geweiht werde. Dem Anbetungsinstinkt wurde ein Kult der Vernunft vorgesetzt, um ihn zu bedienen. Da die Aufklärungsfanatiker den Anbetungsinstinkt nicht ausschalten konnten, kam Robespierre auf die Idee, einen Kult des „Höchsten Wesens“ einzuführen. Deshalb beschloss die Nationalversammlung Folgendes: „Wenn man die Menschen zur reinen Verehrung des Höchsten Wesens aufruft, versetzt man damit dem Fanatismus einen tödlichen Schlag.“ Den Priestern aller Religionen wurde vorgeworfen, aus Macht- und Habgier das „Höchste Wesen“ geleugnet zu haben. Dieser Kult wurde am 8. Juni 1794 mit einem „Fest des Höchsten Wesens“ eingeweiht. Diese Prozession wurde von Robespierre angeführt. Der Kult konnte sich zwar nicht durchsetzen, aber er zeigt, dass wegen des Anbetungsinstinkts eine Ersatzreligion notwendig war.

Aber die Menschen auf Dauer zu verfolgen und zu töten, weil sie ihre Religion ausüben und die Ersatzreligion nicht annehmen wollten, wäre zu anstrengend gewesen. Und so kam es zur Trennung zwischen Staat und Religion. Diese Lösung hat nichts mit der Frage nach der Wahrheit zu tun, sondern war ein fauler Kompromiss. Damit war das Problem mit dem Anbetungsinstinkt aber nicht gelöst.

Religion lässt sich im Grunde nur durch Manipulation der öffentlichen Meinung, durch staatlichen Druck und im Extremfall durch Gewalt aus dem Leben der Menschen verbannen, weil der Anbetungsinstinkt zur Natur des Menschen gehört. Der Soziologe Jürgen Habermas beispielsweise meinte zur Trennung von Staat und Religion, dass der säkulare Staat seine Bürger dazu nötige, ihre Identität in einen privaten und einen öffentlichen Anteil aufzuspalten. Habermas schlug vor, die Kirche solle ihre religiösen Ansichten einfach in einer säkularen Sprache verfassen, um sich Gehör in der Öffentlichkeit zu verschaffen.

Selbst eingefleischte Atheisten müssen sich ihrem Anbetungsinstinkt fügen, auch wenn sie ihn verleugnen. Er äußert sich in ihren Handlungen, auch wenn es nicht um die Anbetung eines Gottes geht. Inzwischen gibt es sogenannte Atheistenkirchen, wo sich Menschen nur deshalb regelmäßig treffen, weil sie an etwas glauben, das sie mit anderen verbindet, nämlich dass Gott nicht existiere. Was treibt denn Menschen dazu, die nicht an Gott glauben, sich nach dem Vorbild der Kirche regelmäßig an einem „heiligen“ Ort zu treffen, wenn nicht der Anbetungsinstinkt? Für Atheisten ist die Idee, dass kein Gott existiere, anbetungswürdig.

Zivilreligion ist ein weiterer Begriff, der zeigt, dass sich der Mensch, ob er will oder nicht, dem Anbetungsinstinkt in irgendeiner Form fügen muss. Das Konzept geht auf Jean-Jaques Rousseau zurück. Dahinter steckt die Auffassung, dass es ohne Religion nicht geht, man aber eine kirchliche Religion ablehnt. Die Zivilreligion soll den Bürger hauptsächlich gefügig machen, die Gesetze der Vernunft zu akzeptieren. Dem Staat ist es hierbei völlig egal, ob die Religion wahr ist. Sie dient nur als Instrument. Die Zivilreligion soll den Menschen dauerhaft an den Staat und seine Gesetze binden. Der Anbetungsinstinkt wird sozusagen auf den Staat gerichtet. Der US-amerikanische Soziologe Robert N. Bellah griff das Konzept der Zivilreligion wieder auf und veröffentlichte 1967 den Aufsatz „Zivilreligion in Amerika“. Bellah zufolge sei trotz der Trennung von Religion und Staat ein religiöser identitätsstiftender Anteil notwendig, damit eine demokratische Gesellschaft funktioniere. Dieser religiöse Anteil gebe dem US-amerikanischen Volk das Selbstverständnis, dass es göttlichen Ursprungs sei und die USA den göttlichen Schutz genießen würden. Das Konzept der Zivilreligion ist ebenfalls Ausdruck des Anbetungsinstinkts.

Es gibt keine Möglichkeit, den Anbetungsinstinkt zu umgehen, zu ignorieren oder auszuschalten. Er sucht sich immer einen Weg. Man darf sich jedoch nicht auf ihn allein verlassen. Denn der Instinkt möchte nur befriedigt werden und unterscheidet nicht zwischen richtig und falsch. Deshalb muss der Verstand die Glaubensüberzeugung auf ihre Richtigkeit hin prüfen. Dies hat man in Europa nicht getan, sondern die auf Europa beschränkte Unterdrückung durch die christliche Religion verallgemeinert und auf alle Religionen übertragen, ohne zu berücksichtigen, dass andere diese Erfahrung der Unterdrückung durch die Religion nicht gemacht haben. Dennoch sollen beispielsweise die Muslime auf der Grundlage der historischen Erfahrung Europas die Idee der Trennung von Staat und Religion übernehmen und ihre islamische Identität auf das Private beschränken. Die Lösung darf jedoch nicht darin bestehen, dass man den Anbetungsinstinkt im öffentlichen Leben auf stumm schaltet, sondern wie man ihn richtig befriedigt.