Die islamische Welt zeichnet sich von jeher an ihren Peripherien durch eine Besonderheit aus. Obwohl es Gebiete sind, die historisch zum Kalifat gehörten, stellten die dort lebenden Muslime in der Regel eine Minderheit dar. Damit waren sie auch immer der Gefahr ausgesetzt, bei kriegerischen Auseinandersetzungen mit angrenzenden Staaten das erste Angriffsziel zu sein. Aber auch innerhalb des Herrschaftsgebiets bestand zu jeder Zeit das Risiko, seitens der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung Opfer von Vertreibungen oder sogar Tötungen zu werden.
Dass es geschichtlich betrachtet dazu eher selten kam, lag schlicht darin begründet, dass die Muslime bis Anfang des 20. Jahrhunderts über eine politische Struktur verfügten, welche die Scharia vollumfänglich umsetzte. Damit besaßen die Muslime einen Staat, der sich seiner islamrechtlichen Verantwortung bewusst war, die Interessen der Muslime zu vertreten und sie vor Angriffen ihrer Feinde zu schützen. Mit dem Verlust dieser politischen Struktur jedoch, verschärfte sich insbesondere die Situation der muslimischen Minderheiten auf dramatische Weise. Denn der Untergang des Kalifats und die darauffolgende Entstehung säkularer Nationalstaaten führten endgültig dazu, dass die Interessen der Muslime allen voran an den Außengrenzen der islamischen Welt nicht weiter durch einen Staat geschützt wurden. Infolgedessen fanden gerade auf dem Balkan im Laufe des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Massakern und Vertreibungen gegen die dortige muslimische Bevölkerung statt. Was also zu dieser Zeit geschah, war nicht einfach nur der Niedergang einer normativen Ordnung, die durch eine neue ersetzt wurde, ohne die globale Einheit der Muslime zu erschüttern. Vielmehr sorgte die Etablierung des säkularen Systems dafür, dass die politische Verbundenheit zur Umma gekappt wurde. Mit der künstlichen Schaffung nationaler Identitäten begannen Muslime sich entlang ethnischer Linien voneinander abzugrenzen. Damit einhergehend verstellte sich der Blick auf Staat und Gesellschaft, was schließlich zu Folge hatte, dass man seitdem auch militärische Konflikte unter nationalstaatlichen Gesichtspunkten betrachtet. So erfahren die zahlreichen Konfliktherde in der islamischen Welt seitens der bestehenden Regierungen keine islamrechtliche Bewertung. Es braucht daher keinen Muslim zu wundern, weshalb während des Krieges in Syrien oder der seit Jahrzehnten andauernden Besatzung Palästinas sich keiner der Nachbarstaaten in die Pflicht genommen fühlt, sein Militär in Gang zu setzen, um den Muslimen zur Hilfe zu eilen.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Schutz muslimischen Lebens auch zukünftig davon abhängen wird, ob sie einen genuin islamischen Staat hinter sich wissen, der sich ihrer vitalen Interessen annimmt. Dies betrifft vor allem jene Regionen, in denen die Muslime eine Minorität bzw. keine klare Mehrheit darstellen. Exemplarisch hierfür ist der Westbalkan und an dieser Stelle vor allem Bosnien-Herzegowina, das zudem eine weitere Besonderheit aufweist: aufgrund seiner heterogenen Struktur sowohl auf ethnischer als auch religiöser Ebene, suchten die verschiedenen Volksgruppen stets nach Verbündeten, um in dieser Region politisch Handlungsfähig zu sein und demzufolge ihre Interessen realisieren zu können. Die Basis derartiger Bündnisse sind in erster Linie ethnisch-kulturelle sowie religiöse Gemeinsamkeiten, wie am Verhältnis zwischen Russland und Serbien deutlich zu beobachten ist. Dieses Verhältnis ist geprägt durch ein Geflecht an ökonomischer, kultureller, politischer sowie militärischer Kooperation, wobei die politisch-militärische Dimension den größten Einfluss auf die regionalen Ereignisse ausübt. Die Beziehung Moskaus zur sogenannten Republika Srpska sticht hierbei besonders hervor, nicht zuletzt mit Blick auf ihre Sezessionsbestrebungen, die seit dem vergangenen Jahr in den ehemals jugoslawischen Teilrepubliken für Unruhe sorgt. Obgleich Moskau diese Pläne öffentlich nicht befürwortet, kann sich der Vertreter der bosnischen Serben Milorad Dodik dennoch der Unterstützung des Kremls sicher sein. In der Vergangenheit stellte die russische Regierung dies wiederholt unter Beweis. So blockierte sie im Juli 2015 mit ihrem Veto eine Resolution im UN-Sicherheitsrat, die das Massaker von Srebrenica als Genozid eingestuft hätte. Ein Jahr zuvor enthielt sich Russland erstmals bei der Verlängerung des EUFOR-Einsatzes in Bosnien und machte damit deutlich, dass eine Unterstützung der Mission nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Zudem fordert Moskau die Abberufung des Hohen Repräsentanten für Bosnien-Herzegowina, der nach wie vor mit weitreichenden Machtbefugnissen ausgestattet ist. Es ist diese Form der Rückendeckung Moskaus, die Dodik darin bestärkt, seine separatistische Politik weiter voranzutreiben.
An diesem Punkt stellt sich nun die Frage, wie sich die Muslime auf dem Westbalkan in dieser Gemengelage strategisch positionieren sollten, um einen militärischen Konflikt zu verhindern, der erneut in einen Genozid an den bosniakischen Muslimen münden würde. Auf welche politischen Instrumente können sie zurückgreifen und welche Verbündete stehen ihnen zur Seite? Wie bereits dargelegt, ist es notwendig, dass die Muslime zunächst einen Paradigmenwechsel vollziehen und sich nicht nur spirituell, sondern auch politisch als Teil der Umma begreifen müssen, die erst durch die erneute Gründung des Kalifats ihre politische Handlungsfähigkeit vollständig wiedererlangen kann. Denn nur die Existenz einer derartigen ordnungspolitischen Struktur wird das globale Potenzial der Umma bündeln und die Sicherheit der Muslime letztlich gewährleisten können. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Muslime sich politisch nicht länger über ihre ethnische, sondern über ihre weltanschauliche Zugehörigkeit definieren müssen.
Zwar wird in diesem Kontext oft der Einwand erhoben, dass es sich bei diesem Prozess um ein längerfristiges Ziel handle, das auf die gegenwärtigen Probleme vor Ort keine Antworten bieten könne. Doch dieser Einwand übersieht einen wesentlichen Aspekt. Denn die Idee der Wiedererrichtung einer politischen Struktur in Form des Kalifats bildet gleichzeitig das Fundament, um auch für die akuten Herausforderungen konkrete Handlungsoptionen zu entwickeln. Bezogen auf die Situation in Bosnien müssen die politischen Akteure die Gefahr eines Konflikts als ein islamisches Problem kommunizieren – sowohl im eigenen Land als auch in der islamischen Welt. Es darf also nicht darauf fokussiert werden, dass bei einem möglichen Kriegsausbruch die Daseinsberechtigung der Bosniaken wiederholt in Frage gestellt wird, sondern die der Muslime. Solange man aber die Gefahr eines Konflikts in ethnischen Kategorien ausdrückt, kann es folgerichtig keine islamische Lösung geben. Genauso wenig lässt sich in der islamischen Welt auf diese Weise ein verlässlicher Verbündeter finden, der sich bereit erklärt, die Bosniaken militärisch zu unterstützen.
Erforderlich wäre somit eine zielgerichtete politisch-mediale Kampagne, welche die Gefühle der Muslime weltweit aktiviert, was allerdings nur gelingen wird, wenn der Konflikt unter islamischen Vorzeichen dargelegt und kommuniziert wird. Angesprochen werden können hier verschiedene gesellschaftliche Gruppen. Gerade die muslimischen Politiker in und außerhalb Bosniens unterhalten nachweislich hervorragende Beziehungen zu diversen Organisationen, Geschäftsleuten sowie politischen Aktivisten insbesondere in der Türkei sowie auch in den Golfstaaten. Vor allem in der Türkei herrschen aufgrund der osmanischen Geschichte nach wie vor große Sympathien zu den muslimischen Völkern auf dem Balkan. Zudem besteht ein Netzwerk an engen Kontakten zu zahlreichen islamischen Universitäten und damit auch zu einflussreichen Persönlichkeiten unter den Gelehrten, die aufgrund ihrer Popularität eine enorme Reichweite besitzen und demzufolge als zusätzliches Sprachrohr fungieren können. All die genannten Instrumente lassen sich auch unter den gegebenen Voraussetzungen nutzen, um die islamische Welt auf die Gefahr eines Konflikts aufmerksam zu machen und zwar nicht nur in Bosnien-Herzegowina. Auf diese Weise kann die Umma den Druck auf die bestehenden Regierungen in der islamischen Welt erhöhen und sie so zum Handeln zwingen. Und selbst wenn sich diese weigern zu handeln, würde durch das Umma-Verständnis jene Solidarität erzeugt, die in bislang jedem Konflikt in der islamischen Welt zu beobachten war. Von politischen Kampagnen, über humanitäre Hilfeleistungen bis hin zur aktiven Unterstützung eines Verteidigungs-Dschihads – all dies resultiert nicht aus einer ethnischen, sondern aus einer islamischen Verortung des Konflikts.
Insofern ist es ein grober Denkfehler, wenn die Muslime für die Lösung ihrer aktuellen Herausforderungen Strategien entwickeln, die getrennt sind von den langfristigen Zielen und zudem auf einer völlig entgegengesetzten Grundlage aufbauen. Denn der Einwand, das Kalifat sei zwar anzustreben, doch die derzeitigen Probleme würden ein pragmatisches Vorgehen erfordern, führt zwangsläufig dazu, dass sich die Akteure der nationalstaatlichen Logik weiterhin unterordnen und demzufolge keinen Ausweg aus diesen konfliktträchtigen Strukturen finden können.
Gerade für die muslimischen Minderheiten in den Peripherien der islamischen Welt gilt: Handlungsfähig werden sie nicht nur dann, wenn sie eine externe Großmacht an ihrer Seite wissen. Vielmehr müssen sie sich politisch als Teil der Umma begreifen und sämtliche politische Handlungen in dieses strategische Gesamtkonzept einbetten. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die politische Verbundenheit zur Umma nur dann zur vollen Entfaltung kommen wird, wenn sich dieses Konzept letztlich in staatlichen Strukturen manifestiert.