Die Verbrechen an den indigenen Kindern werden hauptsächlich der Kirche angelastet, doch in Wahrheit gehen sie auf das Konto des Kolonialismus, der sich der Kirche als Instrument bediente, um Völker zu unterdrücken. Der Kolonialismus ist die Ursache des Übels und er versteckt sich feige hinter der Kirche. Soll doch die Kirche die Hauptschuld auf sich nehmen und vor allem die finanzielle Last einer Wiedergutmachung tragen. So meinte Kanadas Premierminister Justin Trudeau, dass eine Entschuldigung des Papstes für die begangenen Verbrechen keineswegs ausreiche, so, als hätte der kanadische Staat keinen Anteil daran. Die Kirche müsse mehr für eine Wiedergutmachung tun. Papst Franziskus gab den schwarzen Peter aber wieder zurück und erklärte, dass das damalige System der Internatsschulen für indigene Kinder durch die Assimilationspolitik der kanadischen Regierung gestützt wurde. Keiner will es also allein gewesen sein, da niemand für die Wiedergutmachung allein aufkommen möchte. Die Verbrechen an der indigenen Bevölkerung Kanadas, für die sich der Papst nicht aus dem fernen Rom, sondern direkt vor Ort entschuldigen musste, stehen stellvertretend dafür, welches Leid der menschenverachtende Kolonialismus insgesamt über die Welt gebracht hat.
Die Residential Schools, in denen die Verbrechen verübt wurden, wurden von der kanadischen Regierung gegründet, um die Kinder der indigenen Bevölkerung umzuerziehen. Es handelte sich um Internate, in denen ausschließlich indigene Kinder dauerhaft lebten. Mit normalen Internaten hatten die Residential Schools aber nichts zu tun. Diese waren keine Bildungsstätten, sondern stellten eine Kombination aus Arbeits- und Umerziehungslager dar, um den Kindern ihre indigenen Wurzeln auszureißen. Ziel war die Auslöschung ihrer indigenen Identität. Dabei konnte es passieren, dass nicht nur die indigene Identität ausgelöscht wurde, sondern gleich das ganze Kind, das man dann einfach in einem Massengrab verscharrte. Die Ureinwohner gaben ihre Kinder nicht freiwillig weg, sie wurden ihnen einfach weggenommen, um sei dem elterlichen Einfluss zu entziehen. Den Grundstein des Verbrechens legte die kanadische Regierung, die etwa 150.000 Kinder ihren Eltern entriss. Sie betraute die Kirche damit, diese vermeintlichen Schulen für indigene Kinder zu führen, und diese machte Folterstätten daraus.
Publik wurde der an Kindern begangene Völkermord, nachdem im vergangenen Jahr ein Massengrab mit Kinderleichen auf dem ehemaligen Internatsgelände der Indian Residential School in Kamloops entdeckt wurde. Zuvor wurde das Verschwinden der Kinder immer nur als Vermisstenfall behandelt. Die betreffende Internatsschule wurde 1890 gegründet und war mehr als 100 Jahre in Betrieb. Bis 1969 wurde sie von der Kirche betrieben, danach vom kanadischen Staat. Es ist nur eine von vielen Internatsschulen für indigene Kinder, in denen diese systematisch misshandelt und missbraucht wurden und wo sie verwahrlosten und Hunger und Durst litten. An ihnen wurden medizinische Versuche durchgeführt und man nahm Sterilisierungen an ihnen vor. In ihrem verwahrlosten, geschwächten Zustand waren die Kinder anfällig für Krankheiten wie Tuberkulose, woran viele von ihnen starben. Oder aber sie kamen durch „Unfälle“ zu Tode.
Der kanadische Staat setzte die Kirche als Instrument ein, um die sogenannten First Nations Kanadas zu vernichten. Es ging nicht nur um eine Umerziehung der indigenen Völker, die man von ihrem Land vertrieben und in Reservate gesperrt hatte, sondern um ihre physische Vernichtung durch Vernichtung ihrer Nachkommen mittels psychischer und körperlicher Gewalt. Das Übel hatte seinen Ursprung nicht in der Kirche, sondern im Kolonialismus der Europäer, die, ausgestattet mit dem menschenverachtenden Rassismuskonzept der Aufklärung, in die Regionen anderer Völker eindrangen und in ihrem Überlegenheitswahn alle nichteuropäischen Völker zu minderwertigen Menschen degradierten, die man zivilisieren müsse. Mit diesem rassistischen Verständnis nahmen sich die Europäer z. B. heraus, den Ureinwohnern die Kinder wegzunehmen, in Anstalten, Heime oder, wie im Falle Kanadas, in Internatsschulen zu stecken und zu „zivilisieren“. Man kann sich vorstellen, wie der Kolonialeuropäer indigene Kinder behandelte, deren ganzes Volk er für minderwertig und unzivilisiert hielt.
Blickt man nach Australien, findet man fast identische Verbrechen, begangen an den Aborigines, den Ureinwohnern Australiens. Als „Akt der Fürsorge“ nahm der australische Staat den Aborigines bis in die Siebzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts genau wie in Kanada die Kinder gewaltsam weg. Auch die Aborigines wurden ihres Landes beraubt und in Reservate gesteckt, wo die Kinder in eigenen Schlafhäusern untergebracht waren, um sie dem Einfluss ihrer Eltern zu entziehen. Als der Staat realisierte, dass es immer mehr Kinder mit nur einem Aborigine-Elternteil gab, während der andere Elternteil keine Aborigine-Wurzeln hatte, beschloss er, die Aborigines auf Basis der Vererbungslehre zu vernichten. Kinder, die nur zur Hälfte Aborigines waren, wurden ihren Müttern regelrecht aus den Armen gerissen und in Heime oder Missionen gesteckt oder weißen Familien zur Adoption überlassen. Man nennt die betroffenen Kinder, die aufgrund von staatlicher Anordnung entführt wurden, die gestohlene Generation Australiens. Später wurden diese Kinder dann mit Weißen zwangsverheiratet, um die Merkmale der Aborigines „wegzuzüchten“ und die australischen Ureinwohner auf diesem Weg auszurotten. Die Halbaborigines galten weiterhin als minderwertig und erfuhren ebenfalls die schlimmste Behandlung. Sie wurden zu billigen Arbeitskräften erzogen, die keinen Bezug mehr zu ihren Wurzeln haben sollten, indem sie weder ihre Muttersprache sprechen noch die Traditionen ihres Volkes aufrechterhalten durften.
In den USA ging es nicht anders zu. Von dem US-amerikanischen General Richard Henry Pratt stammte der Ausspruch: „Töte den Indianer, rette den Menschen.“ Anschaulicher lässt sich das menschenverachtende Weltbild des weißen Herrenmenschen, der seine Wurzeln in Europa hat, kaum vermitteln. Auf Pratts Initiative hin wurden Internate für indigene Kinder gegründet, in denen man ihnen mit allen Mitteln ihr „Indianertum“ austreiben wollte. Auch in den USA wurden die indigenen Kinder ihren Eltern entrissen und in diese Umerziehungsanstalten gesteckt. Diese Schulen waren das Vorbild für die Internatsschulen in Kanada. Nachdem die Verbrechen in Kanada öffentlich wurden, hat die US-Innenministerin Debra Haaland, die selbst indigene Wurzeln hat, eine Initiative zur Aufarbeitung der Verbrechen an der indigenen Bevölkerung in den USA gestartet. Nun will man auch in den USA die Schulen ausfindig machen, Grabstätten aufspüren und die Namen der Kinder ermitteln. Eine offizielle Entschuldigung für die Verbrechen kam bislang jedoch nicht, denn entschuldigen bedeutet Pflicht zur Wiedergutmachung. Die Ureinwohner der USA müssen sich mit dem Willen zur Aufarbeitung zufriedengeben. Indigene Menschen, ob in Kanada, den USA, Australien oder sonst wo auf der Welt, werden bei aller Aufarbeitung oder Entschuldigung immer Menschen zweiter Klasse bleiben. Die Erkenntnis, dass man ihnen Unrecht angetan hat, ändert nichts am rassistischen Menschenbild der Kolonialmächte. Das Kapitel des Kolonialismus ist längst nicht geschlossen. Die Kolonialmächte setzen ihr Treiben in der Welt lediglich in neuer Verkleidung unbehelligt fort. Wollten sie früher die nichteuropäischen Völker „zivilisieren“, so wollen sie sie heute „demokratisieren“.