Mahsa Amini, die starb, nachdem sie im Iran aufgrund ihrer nichtislamischen Kleidung verhaftet wurde, kann sich nicht mehr dazu äußern, ob sie es gutheißt, dass sie als Symbolfigur für westliche Angriffe auf das Kopftuch und damit auf den Islam dient. Für den Westen steht durch ihren Tod jedenfalls fest, dass die muslimische Frau im Iran das Kopftuch gegen ihren Willen trägt. Die allgemeine Unzufriedenheit der Iraner mit ihrer Regierung findet ihr Ventil in den Protesten einiger gegen das Kopftuch, ohne zu reflektieren, dass das Problem des Iran darin besteht, dass die iranische Regierung das islamische System eben nicht anwendet, und nicht umgekehrt. Der Westen scheint auf einen Fall wie den Mahsa Aminis nur gewartet zu haben. Zum einen kann er den Iran dadurch angreifen und zum anderen ein islamisches Gebot, nämlich die Kopftuchpflicht, diskreditieren. Westliche Frauen sind sogar bereit, sich ihr „Heiligstes“, ihre Haare, abzuschneiden und ein Video dazu online zu stellen, um ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen. Wie viel Solidarität hätten dieselben Frauen gezeigt, wenn Mahsa Amini gestorben wäre, weil sie gegen den Willen des Staates ein Kopftuch hätte tragen wollen? Hätten sie das auch als Ausdruck weiblicher Selbstbestimmung interpretiert? Oder hätten sie sich nicht vielmehr auf die Seite des Staates geschlagen, der das Kopftuch verbietet?
Was hier vielleicht hypothetisch klingt, nämlich die Unterdrückung von Musliminnen, die ihr Kopftuch tragen wollen, ist für viele muslimische Frauen und Mädchen schlimme Realität. Auch das Kopftuchverbot muslimischer Lehrerinnen an deutschen Schulen, das durch das Pseudoargument der Neutralität nicht weniger diskriminierend wird, ist eine Form der Unterdrückung, aber sie ist vergleichsweise harmlos gegenüber dem, was in Indien geschieht. Denn das Verbot im indischen Bundesstaat Karnataka, eine Bildungsstätte mit Kopftuch zu betreten, trifft unmittelbar Schülerinnen und Studentinnen, die damit vor die Wahl zwischen Kopftuch oder Bildung gestellt werden. Anfang des Jahres hatte man damit begonnen, muslimischen Schülerinnen und Studentinnen den Zutritt zu Schulen und Universitäten mit Hijab zu verbieten. Junge Musliminnen protestierten heftig, weil man ihnen die Erfüllung einer islamischen Pflicht verbieten wollte und der Zugang zu Bildung nur noch mit dem Ungehorsam gegenüber Allah (t.) möglich sein sollte. Der Widerstand muslimischer Frauen und Mädchen war so extrem, dass Schulen für mehrere Tage geschlossen werden mussten. Am Ende entschied sogar das Oberste Gericht von Karnataka, dass das Tragen des Hijab „keine wesentliche religiöse Praxis des Islam“ sei, nachdem muslimische Schülerinnen eine Petition gegen das Hijab-Verbot eingereicht hatten. Wo waren da die Solidaritätsbekundungen westlicher Frauen mit den Schülerinnen und Studentinnen in Indien, die aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit und der Praktizierung des Islam diskriminiert werden? Ihre Diskriminierung steht vor dem Hintergrund einer allgemeinen und zunehmenden Diskriminierung der Muslime durch Indiens Premierminister und Islamhasser Narendra Modi.
Wäre es nicht ein klassischer Fall für westliche Feministinnen gewesen, sich auf die Seite der muslimischen Schülerinnen und Studentinnen zu schlagen, die für ihr Recht demonstrierten, Schulen und Universitäten mit Hijab betreten zu dürfen, während aggressive rechte hinduistische Männer ihnen gegenüber für ein Kopftuchverbot demonstrierten? Die Antwortet lautet nein. Denn sobald die muslimische Frau sich gegen das westliche Freiheitskonzept entscheidet und für ein Leben nach den islamischen Glaubensvorschriften, interessiert sich der Westen nicht mehr für sie und nimmt ihre politische Unterdrückung durch die Willkür des Staates gerne in Kauf. Dann ist es in Ordnung, wenn die Frau dazu gezwungen wird, das Kopftuch abzulegen. Aus westlicher Sicht ist es zwar inakzeptabel, wenn die Frau zum Tragen eines Kopftuchs gezwungen wird, aber scheinbar vollkommen in Ordnung, wenn man ihr das Kopftuch verbietet. Das ist, wie man sehen kann, keine Unterstellung, sondern Realität. Denn niemanden interessiert die massive Unterdrückung der muslimischen Frauen und Mädchen in Indien. Anders verhält es sich wiederum mit Afghanistan. Die Angriffe gegen die Taliban, denen man die Anwendung der Scharia vorwirft, konzentrieren sich, seit sie wieder an der Macht sind, immer darauf, dass Mädchen nicht in die Schule dürfen. Das wird aufs Schärfste kritisiert und regelmäßig in Politik und Medien aufgegriffen. So gaben die Außenministerinnen verschiedener Staaten am 25. März 2022 eine Erklärung mit dem Titel ab „Gemeinsame Erklärung von Außenministerinnen zur Wiedereröffnung der Schulen in Afghanistan“. Darin heißt es: „Als Frauen und Außenministerinnen sind wir zutiefst enttäuscht und besorgt, dass Mädchen in Afghanistan in diesem Frühjahr der Zugang zu Sekundarschulen verwehrt bleibt.“ Weiter heißt es: „Zugang zu Bildung ist ein Menschenrecht, das jeder Frau und jedem Mädchen zusteht.“ Dass etwa zwei Monate zuvor muslimische Mädchen in Indien nicht in die Schule durften, weil sie ein Kopftuch trugen, schien die Außenministerinnen hingegen überhaupt nicht zu besorgen. Sie äußerten sich nicht einmal dazu. Der Unterschied liegt offenbar darin, dass man den Ausschluss der Mädchen an afghanischen Schulen mit Angriffen gegen die Muslime und den Islam kombinieren kann, während man die Unterdrückung der muslimischen Schülerinnen und Studentinnen in Indien auf die Islamfeindlichkeit der hinduistischen Regierung zurückführen müsste. Man müsste sich also mit Musliminnen solidarisieren, die an einem islamischen Gebot festhalten, von dem man sie eigentlich wegführen möchte. Das Prinzip westlicher Solidarität mit der muslimischen Frau lautet nämlich, dass man sich nur dann mit ihr solidarisiert, wenn es darum geht, sie von den Geboten Allahs abzubringen. Wird sie hingegen deshalb unterdrückt, weil sie an der Praktizierung des Islam festhält, dann wird ihr jegliche Solidarität verweigert.