Der Staat, der Bürger nach der Autoanzahl einteilt, ist natürlich die fiktive Idee eines Autors. Es gibt dennoch Staaten, die Bürger nach der Anzahl ihrer Kühe klassifizieren, was in der Realität die Idee von erfinderischen Kolonialisten war. Der Völkermord an den Tutsi 1994 in Ruanda, das Massaker Hunderttausender Hutu in den 1970ern in Burundi und jahrelanger Bürgerkrieg in diesen Staaten sind die Konsequenzen dieses erfinderischen kolonialen Geistes, der noch in der heutigen Zeit sein Unwesen treibt.
Von 1884 bis 1885 kamen die europäischen Mächte zusammen, um auf der Kongo-Konferenz in Berlin Afrika untereinander aufzuteilen. Ruanda und Burundi gingen 1885 an das Deutsche Kaiserreich. Als die deutschen Kolonialisten in den 1890ern in das sogenannte Deutsch-Ostafrika anrückten, trafen sie auf drei soziale Gruppen mit komplexem Gefüge. Tutsi, Hutu und Twa waren die Bezeichnungen dieser sozialen Schichten, die eine gemeinsame Kultur und Sprache verband. Aus den Tutsi gingen Könige und Adel hervor, bei denen sich der Reichtum in der Regel in Form von Rindern mehrte. Hutu nannte man die Ackerbauern, die das Land bebauten. Die Twa gehörten zu einer kleinen Minderheit, die dem König Jäger, Musiker und Tänzer zur Verfügung stellte. Diese soziale Aufteilung war vor der deutschen Kolonialisierung durchlässig. Ein Mensch konnte als Hutu geboren werden und als Tutsi sterben, wenn es ihm im Laufe seines Lebens gelang, seinen Reichtum durch Vieh zu vermehren. Diese Durchlässigkeit zwischen den Gruppen verschwand, als die neuen Kolonialherren Tutsi und Hutu zu zwei verschiedenen Rassen erklärten. Die Kolonialisten interpretierten die Unterschiede innerhalb der Gruppen nicht sozial, sondern entsprechend ihrer unwissenschaftlichen Rassentheorien. Die deutschen Kolonialoffiziere griffen die pseudowissenschaftliche „Hamiten“-Theorie aus den 1860er Jahren des englischen Forschungsreisenden John Speke auf. Hirtenvölker wie die Tutsi seien demnach den „hamitischen“ Völkern zuzurechnen, die aus dem christlich geprägten Äthiopien stammten. Deshalb seien sie den Europäern als „Rasse“ näher und den „echten“ Afrikanern, wie den Hutu, in Aussehen, Charakter und Intelligenz überlegen. Diese Theorie ließ sich durch nichts belegen, aber sie hatte eine gewaltige Spaltkraft.
Der deutsche Kolonialismus hatte nur wenig Kräfte, die er nach Afrika entsenden konnte, sodass das Kaiserreich auf ein System indirekter Herrschaft angewiesen war. Also stützten sie eine kleine Schicht von Tutsi, die die Idee von der eigenen Überlegenheit nur allzu gern übernahmen, denn sie war mit sozialen Vorteilen verknüpft. Der Tutsi-König wurde gestärkt und bei der Niederwerfung von rebellischen Fürsten oder Hutu unterstützt. Die Begriffe Tutsi und Hutu wurden zu festen rassischen Zuschreibungen, die über die sozialen Chancen, wie zum Beispiel über den Zugang zu schulischer Bildung, mitentschieden. Kaum ein Tutsi erlangte eine gehobene Stellung der kolonialen Verwaltung oder der Streitkräfte. Statistisch lag das Einkommen der Tutsi nur geringfügig über dem Hutu-Durchschnitt, aber die Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi prägte die gesamte Gesellschaft. Die Tutsi glaubten immer mehr, dass sie einer höheren Rasse angehörten. „Die Hutu, von allen Stellen der Macht ausgeschlossen und von Weißen wie Tutsi ausgebeutet, begannen alle Tutsi zu hassen. Selbst jene, die so arm wie sie selbst waren“, beschreibt der Historiker und Ostafrikaspezialist Gérard Prunier den Zustand. Es ist offensichtlich, dass diese gesellschaftliche Spaltung aus europäischer Sicht ein nützliches Instrument darstellte, um ihre Herrschaft in den Kolonien zu sichern.
Nach dem Ersten Weltkrieg und der Kapitulation Deutschlands wurden Ruanda und Burundi an Belgien weitergereicht. Die neuen Kolonialherren übernahmen das koloniale Prinzip des Teilens und Herrschens. So führten sie in den 1930er Jahren in den Kolonien Pässe ein, in denen von nun an die Ethnie festgeschrieben wurde. Als Tutsi wurden jene registriert, die zum jeweiligen Stichtag zehn oder mehr Kühe besaßen. Alle anderen waren von nun an Hutu, was ein Erbe war, welches über den Vater an die Kinder weitervererbt wurde. Die Kolonialmächte spielten Hutu und Tutsi gegeneinander aus, schrieben sie ethnisch fest und verursachten damit Konflikte in Ruanda und Burundi, die bis heute anhalten. Die ethnische Unterscheidung beruht auf reiner Fiktion, aber der Völkermord mit all seinen Opfern ist real. All die mit Macheten zerstückelten Kinder, Frauen und Männer, die Massenvergewaltigungen und Hinrichtungen sind nämlich Wahrheit – auch wenn sie die Folge einer Lüge sind. Denn in der Realität sind Tutsi und Hutu gar nicht zu unterscheiden. Sie lassen sich weder durch Aussehen, Kultur noch Sprache charakterisieren. Für viele Tutsi war lediglich der Vermerk in ihrem Pass von 1930 ihr Todesurteil. Ihre Vorväter besaßen am Stichtag einer willkürlich festgesetzten Volkszählung 10 oder mehr Kühe. Deshalb mussten sich die Mörder 64 Jahre später bei der Auswahl ihrer Opfer auf Denunzianten oder die von den Kolonialherren eingeführten Vermerke in den Ausweisen verlassen. Viele Tutsi besorgten sich gefälschte Ausweise und entkamen nur so dem Gemetzel.
Nur allzu gerne ist man gewillt, den kolonialen Rassismus zu reproduzieren und den blutigen Konflikt von 1994 als Bürgerkrieg abzuwerten, in dem afrikanische Völker im Blutrausch mit Macheten wild aufeinander losgingen. Gerne unterstellt man den Bürgern Afrikas in Konflikten eine wilde Mordlust, die sich in Konflikten plötzlich entlädt. Aber die Konflikte sind nicht das Produkt einer unstillbaren Mordlust von wilden Völkern, sondern das Ergebnis eines organisierten Machtkampfes, den die europäischen Mächte nicht nur verursacht, sondern maßgeblich befeuert haben. Dieser erfinderische koloniale Geist trieb sein Unwesen nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent, sein Machthunger ließ ihn umtriebig werden.
Der Brite Mark Sykes und der Franzose Francois Georges-Picot teilten 1916 im Auftrag ihrer Regierungen das immer mehr zusammenbrechende Osmanische Reich in einem geheimen Besatzungsplan unter sich auf. Das Geheimabkommen von 1916 begann 1915 mit einer Halbierung, bei der die palästinensischen Gebiete ausgeklammert und Ägypten nur angedeutet wurde. Die Teilung endete im Kurdengebiet in Kirkuk. Der Norden ging an die Franzosen und der Süden an die Briten. Erst danach entwarfen sie die arabischen Staaten, wie wir sie heute kennen, mithilfe von Lineal und Bleistift. Mit kolonialer Willkür wurden auf der Weltkarte gerade Linien gezogen. Dadurch entstanden nicht nur neue Grenzen und Länder, den Menschen wurde vielmehr ein neues Gedächtnis implantiert. Nur ein willkürlich gesetzter Linienstrich verwandelte Muslime, die an einem Stichtag zufällig an einem bestimmten Ort lebten, beispielweise in Iraker. Daraufhin fühlten sich diese Menschen auch, befeuert von Historikern und Anthropologen mit unlauteren Absichten, als Iraker und somit als direkte Nachfahren der alten Babylonier. Dieses Schauspiel setze sich in der gesamten islamischen Welt fort. Die Bürger der neuen Türkei glaubten plötzlich, dass sie im Grunde weiß und arisch seien und sahen Sumerer und Hethiter als ihre Vorfahren. Je mehr die Menschen an die neuen Grenzen glaubten und je mehr Mythen sich um diese Grenzen woben, desto abhängiger wurden sie – die ehemaligen Bürger des Islamischen Staates – von ihren neuen Herren. Und mithilfe von erfundenen Nationalstaaten, erfundenen Ethnien und rassistischen Märchen werden Muslime auch noch dazu gebracht, andere Muslime zu hassen, weil sie vermeintlich einer anderen Volksgruppe angehören. Erst wenn man dies verstanden hat, sollte man sich selbst die Frage stellen, ob die eigenen Vorväter nicht auch an einem Stichtag zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Denn mit Sicherheit ist der Unmut, den man gegen einen anderen Muslim hegen mag, nicht mehr als die Erfindung eines kolonialen Geistes.