Geschichte Getürkte Osmanen – Wie sich Nationalisten mit fremden Federn schmücken

Einer römischen Fabel zufolge bediente sich eine Krähe an herumliegenden Pfauenfedern, um ihr eigenes, hässliches Gefieder zu beschönigen. So tat sie ihr Übriges, um sich als etwas darzustellen, was sie nicht ist. Unterdessen schmückt sich auch der türkische Nationalismus zuweilen mit fremden Federn, indem er sich als Nachfolger des Osmanischen Reiches geriert. Ein Blick in die Historie zeigt jedoch, dass die Entstehung des Türkentums einen radikalen Bruch mit den Osmanen darstellt. Dass sich die osmanischen Herrscher mit einem nationalistisch geprägten Türkentum identifizierten, erweist sich als Mär der türkischen Geschichtsschreibung.

Ausgerechnet die Deutschen. Als 1895 der Nord-Ostsee-Kanal unter Kaiser Wilhelm II. eröffnet wurde, scheute das Kaiserreich weder Kosten noch Mühen, um dieses Ereignis zu zelebrieren. Dabei spielte die deutsche Kapelle die Nationalhymnen aller befreundeter Staaten – auch das Osmanische Reich zählte zu ihnen. Die Kapellenmusiker standen plötzlich vor einer großen Herausforderung, als ihnen bewusstwurde, dass ihnen keine Nationalhymne des osmanischen Staates bekannt war. So improvisierten sie und musizierten das Lied „Der Mond ist aufgegangen“. Freudig brachten sie das Stück zu Ende und klopften sich selbst auf die Schultern. Schließlich hätten sie die Situation gut „getürkt“.

Dieses Ereignis zeigt unterdessen eindrücklich, vor welcher Herausforderung die frisch gebackenen Deutschen standen: Welche nationale Identität besitzt das Vielvölker-Sultanat der Osmanen? Auf welche Nation berufen sich die türkischen Kalifen, unter denen Araber, Kurden und andere Völker Schutz fanden? Waren sie eher Araber, weil der Islam „arabisch“ ist? Oder eher Türken, da sie anders sprachen als die Araber? Über Jahrhunderte identifizierte sich das Osmanische Reich losgelöst von einer völkerabgrenzenden und nationalistischen Gesinnung mit dem Islam, der auch die ordnungspolitische Basis für das multi-ethnische Gemeinwesen bildete. Die identitätsstiftende Definition der Umma und die darauf aufbauende Gesellschaftsstruktur waren den europäischen Nationalisten fremd.

Es war ein langjähriger und blutiger Prozess nationalistischer Umerziehung und islamfeindlicher Repressionspolitik, der dazu führte, dass selbst vielen Türken ihre eigentliche Identität fremd wurde. Dabei ist aus der knapp sechshundertjährigen Historie des osmanischen Staates bis zur Endzeit nicht ersichtlich, dass sich die osmanischen Kalifen mit einem wie auch immer gearteten Türkentum identifizierten. Viel eher verstanden sich alle Sultane als Nachfolger des Propheten (s), die sich der islamischen Rechtsprechung gemäß Qur’an und Sunna verpflichteten und bereit waren, Leib und Seele für die Verteidigung des Islam zu geben. Weder die militärische und ideologische Schwäche des osmanischen Kalifats zu seiner Endzeit, noch die konstruierten Narrative türkischer Geschichtsrevisionisten sind ein Beleg dafür, dass sich die geistige Verbundenheit der Sultane von einer islamischen zu einer türkischen wandelte. Selbst der schwächste osmanische Kalif sah sich als Schutzherr der Muslime und seiner Bürger – und nicht als Vater oder Beschützer der Türken.

Es war die Entstehung der jungtürkischen Bewegung, die im europäischen Nationalismus wurzelte und einen radikalen Bruch mit dem Osmanischen Reich vollzog. Führt man sich vor Augen, dass laut dem britischen Soziologen Anthony Giddens Radikalismus nichts weiter bedeute als „das Brechen mit der Vergangenheit“, so könnte diese Definition im Kontext der nationaltürkischen Entstehungsgeschichte nicht treffender sein. Schließlich ist die europäisch beseelte Entstehung des Türkentums keine Weiterführung des osmanischen Staates, oder gar ein Kompromiss, um zumindest Restteile des osmanischen Kalifats zu retten. Sie ist ein glatter und scharfer Bruch mit der Geschichte des Islamischen Staates, deren Ursprung auf die Offenbarungsepoche des Propheten Muhammad (s) zurückzuführen ist. Sie ist ein glatter Bruch mit dem Islam selbst, da die Ideen und Konzeptionen des türkischen Nationalismus – angeführt durch den Taghut Mustafa Kemal – im diametralen Widerspruch zu der islamischen Aqida und Schari‘a stehen. Und sie ist ein Bruch mit allen islamischen Brüdervölkern, der durch die künstliche und fremdbestimmte Schaffung einer nationalen Identität dazu führte, dass sie sich gegenseitig zu Waisen und Witwern machten, wo sie noch einige Jahre zuvor Seite an Seite kämpften, um das Erbe des Islam gemeinsam aufrechtzuerhalten.

Daher müssen den türkischen Nationalisten die historischen Tatsachen schonungslos vor Augen geführt werden. Ihre märchenhaften Erzählungen, dass sie die Türkei heldenhaft vor den europäischen Siegermächten gerettet hätten, fanden nur im Wunschdenken Mustafa Kemals statt. Der weltanschauliche Ursprung und die ordnungspolitische Struktur des modernen türkischen Staates – der laizistischen Republik Türkei –zeigen hingegen, dass die türkischen Nationalisten den Sieg der europäischen Kolonialmächte tatsächlich erst vollendeten, indem sie das eigene Land im Ebenbild ihrer vorgeblichen Feinde erschufen! Zudem entfachten sie durch ihren brachialen Versuch, die islamische Identität auszulöschen und durch eine europäische zu ersetzen, einen wahren Brandherd, unter dem die Türkei immer noch leidet. Schließlich hatten die Grundpfeiler des türkischen Staates (die sogenannten sechs Pfeile Mustafa Kemals „altı ok“) zur Folge, dass der türkische Staat zum Konfliktgarant mit schier unüberwindbaren Bruchlinien wurde. Während das Prinzip des Laizismus (laiklik) den Islam und die dem Kalifat treugebliebenen Muslime systematisch verfolgte und auszulöschen versuchte, wurden alle in der Türkei lebenden Minderheiten, die zuvor hunderte Jahre unter dem Schutz des osmanischen Kalifats lebten, durch das Prinzip des türkischen Nationalismus (milliyetçilik) zwangsassimiliert oder ebenfalls verfolgt und ermordet. Besonders die milliyetçilik führte zur Erstarkung des kurdischen Nationalismus, der die Gründung der PKK zur Folge hatte und einen bis heute währenden Dauerkonflikt seit den späten 1970er Jahre auslöste. Der mörderische Plan Mustafa Kemals, mit brachialer Gewalt ein ethnokulturell und ideell gleichgeschaltetes türkisches Volk hervorzubringen, kostete derweil nicht nur Muslimen und Kurden das Leben.  Linksgerichtete Türken litten unter dem sogenannten „Populismus“ (halkçılık), da sie das von Mustafa Kemal geschaffene klassenlose Prinzip nicht anerkannten. Demokraten lehnten sich unterdessen gegen den Republikanismus (cumhuriyetçilik) auf, der das Ein-Parteien-System und damit das Fehlen der Demokratie zur Folge hatte. Wirtschaftsliberale Kräfte in der neu entstandenen Türkei widersprachen wiederum dem Prinzip der staatlichen Steuerung der Wirtschaft (devletçilik). All diese Bruchlinien und Konflikte wurden durch die türkische Staatsgründung verursacht und sind bis heute nicht überwunden. Insbesondere das sogenannte Kurdenproblem und die Spannungen zwischen islamischen und laizistischen Kräften entladen sich immer wieder und veranschaulichen das Scheitern der knapp hundertjährigen Republik.

Grundsätzlich zeigt die Entstehungsgeschichte der Türkei und die damit einhergehende Konstruktion einer türkischen Identität, dass sie keineswegs eine Weiterführung des osmanischen Staates ist. Den Kalifen kam nie in den Sinn, sich als Türken zu identifizieren und sich für ein wie auch immer geartetes Türkentum einzusetzen. Die Osmanen fassten den Begriff Türke aufgrund der ethnischen Emphase und soziopolitischen Implikationen gar als abwertenden Begriff auf: Ein osmanischer Herr hätte sich bis weit in das 19. Jahrhundert immer als Muslim oder Osmane identifiziert, niemals als Türke – ein Begriff, der entweder zur Unterscheidung zwischen Türken und Nicht-Türken oder als abwertende Bezeichnung für den unwissenden Bauern oder Nomaden Anatoliens verwendet wurde, so der renommierte Historiker David Kushner. Weiterhin sei die türkische Geschichte im Wesentlichen zu einer islamischen oder osmanischen Geschichte geworden und das vielleicht beste Beispiel für die türkische Assimilation in die islamische Zivilisation ist die türkische Sprache, in der so viele persische und arabische Wörter integriert wurden, dass sie ihren ursprünglichen Charakter fast vollständig verloren hat. Insgesamt führt der Versuch, das Osmanische Reich auf Basis moderner Nationalismen begreifen zu wollen, zwangsläufig in eine Geschichtsverzerrung. Ein Phänomen, das von der Politikwissenschaftlerin Feride Asli Ergül folgendermaßen beschrieben wird: Die Bewertung der osmanischen Identität aus der Perspektive gegenwärtiger nationalstaatlicher Identitäten kann die historische Analyse in Richtung eines Chronofetischismus führen, einer Form des Ahistorizismus, der die Vergangenheit mit gegenwärtigen Ideen bewertet. Zeitgenössische Glaubenssysteme, die mit modernen nationalstaatlichen Konstrukten aufgeladen sind, bieten nicht die geeignete Grundlage für das Verständnis vergangener Praktiken alter Gesellschaften. Mit anderen Worten: Die historische Analyse des Osmanischen Reiches sollte von der zeitgenössischen nationalistischen Rhetorik losgelöst werden, um die Vergangenheit zu verstehen, anstatt die Gegenwart zu legitimieren. Eine umfassende Analyse des Osmanischen Reiches muss sich daher unvoreingenommen gegen jeden modernen nationalistischen Diskurs, ob türkisch, griechisch oder arabisch, stellen.

Dessen ungeachtet, gerieren sich türkische Nationalisten immer öfter als Nachfolger des osmanischen Staates und verweisen voller Stolz auf dessen Erfolge wie die Eroberung Istanbuls oder des Balkans. Die Geschichte der sechshundertjährigen Weltmacht ist schließlich tiefgreifend in dem Bewusstsein der Muslime verankert, sodass Bezüge dieser Art eine entsprechende Anschlussfähigkeit erzeugen. Die Wiedererstarkung der islamischen Ideen und Gefühle innerhalb der türkischen Bevölkerung zwang die anatolischen Geschichtsrevisionisten zur Schaffung einer Schimäre, die besagt, dass sich die osmanischen Sultane selbst dem Türkentum zuschrieben. Ihnen ist in aller Klarheit zu entgegnen, dass dies nicht nur der historischen Wahrheit widerspricht, sondern ihrer kompletten Verdrehung gleichkommt, da die Konstruktion einer nationalistischen türkischen Identität einen radikalen Bruch mit dem islamischen Selbstbild der Osmanen zur Folge hatte. Für Muslime folgt hieraus der politische Imperativ, zu verhindern, dass nationalistische Opportunisten auf die heldenhaften Erfolge des Islamischen Staates referenzieren, um sich mit fremden Federn zu schmücken. Ferner müssen sie ihre geballte Kraft dafür aufwenden, sämtliche Nationalismen zu überwinden und für die Wiederrichtung des Kalifats zu arbeiten. Auf diese Weise tragen sie auch dazu bei, die eingangs erwähnte römische Fabel wahr werden zu lassen: Das Ende der hässlichen Krähe, die sich mit fremden Pfauenfedern schmückte, bestand schließlich darin, dass sich die Pfauen auf die Krähe stürzten und sich ihr Gefieder wiederholten – letztlich stand die Krähe hässlicher da als zuvor.