Der Tod einer 22-jährigen Kurdin, die von der iranischen Sittenpolizei (Ghast-e-Irshad) in Gewahrsam genommen wurde, hat massive Unruhen und Proteste ausgelöst. Die Ausschreitungen hatten zu Beginn innerhalb nur einer Woche mindestens 76 Menschenleben gefordert. Mahsa Amini war einigen nicht verifizierten Berichten zufolge im Zuge ihrer Vernehmung gefoltert worden. Dabei hätte sie eine Kopfverletzung erlitten, an der sie wenige Tage nach ihrer Festnahme starb. Während die Proteste ursprünglich im Nordwesten des Iran ihren Anfang nahmen, haben sie sich inzwischen wie ein Lauffeuer über das ganze Land ausgebreitet. Auch die iranische Hauptstadt Teheran und der schiitische Wallfahrtsort Ghom blieben von den Unruhen nicht verschont.
Die iranische Regierung versuchte die Proteste durch den Einsatz von Wasserwerfern und Schusswaffen gewaltsam niederzuschlagen. Auch wurde eine Abschaltung des Internets angeordnet, um weitere Mobilisierungen zu verhindern. International wurde die Reaktion des iranischen Regimes scharf verurteilt. Der Regierung in Teheran wurde vorgeworfen, die Proteste gewaltsam unterdrückt, ihrer Bevölkerung den Hidschab aufgezwungen und das Internet abgeschaltet zu haben. Selbst die UNO hat eine Erklärung abgegeben, in der sie das Regime in Teheran kritisiert. Nach dem Tod von Mahsa Amini konzentrierte sich die westliche Berichterstattung darauf, selektive Bilder von den Demonstrationen in den Vordergrund zu rücken. Aufnahmen, die einige Demonstranten bei der Verbrennung des Hidschabs zeigen, wurden immer wieder ausgestrahlt und prägten somit das Narrativ im Westen.
Seit über vier Jahrzehnten wird der Iran von einem schiitischen Klerus regiert. Als das Pahlavi-Regime 1979 gestürzt wurde, übernahmen die Kleriker die Macht. Fortan schufen sie zahlreiche Mechanismen und staatliche Institutionen, um ihre Macht zu erhalten. So beriefen sie sich auf den Schiismus, um ihre Herrschaft zu rechtfertigen, und propagierten den iranischen Nationalismus. Indem sie die Idee des Persischen Reiches wiederbelebten, gelang es ihnen, die Unterstützung der breiten Masse im Iran zu gewinnen. Ihr großer Einfluss auf die Wirtschaft des Landes und die weit verbreitete Korruption im Iran, gepaart mit Verschwendung von Ressourcen, Misswirtschaft und Unterdrückung haben dazu beigetragen, dass die iranische Bevölkerung das Vertrauen in die Kleriker verloren hat. Mittlerweile lehnt ein Großteil der Iraner das religiös begründete politische System ab. In den vier Jahrzehnten seit der „Islamischen Revolution“ hat der Iran diverse Veränderungen erfahren. Betrug seine Einwohnerzahl im Jahr 1979 noch moderate 39 Millionen, hat sie sich inzwischen mehr als verdoppelt. Heute sind rund 80 % der 83 Millionen Iraner nach der Revolution von 1979 geboren, was bedeutet, dass sie das Regime von Schah Pahlavi nicht erlebt haben. Somit sieht der überwiegende Teil der iranischen Bevölkerung in den Klerikern nicht ihre großen Befreier. Diese Tatsache ist für die Kleriker zunehmend beängstigend. Doch seitdem die Hardliner im Parlament dominieren und Ebrahim Raisi im vergangenen Jahr zum iranischen Präsidenten gewählt wurde, arbeiten die Kleriker verstärkt daran, die revolutionären Ideale und Grundsätze in der iranischen Bevölkerung zu stärken. So wird unter anderem die Lehre der revolutionären Ideologie in Schulen, Hochschulen und Universitäten gelehrt, aber es erfolgt auch eine verstärkte Rekrutierung von Personen für die paramilitärischen Kräfte.
Darüber hinaus hatte die iranische Sittenpolizei neuen Auftrieb erfahren und die Anweisung erhalten, hart gegen diejenigen vorzugehen, die gegen die revolutionären Ideen verstoßen. Dabei sind es vor allem die iranischen Frauen, gegen die sich die Hauptlast der Aggression richtet, weil sie den Hidschab nicht ordnungsgemäß tragen. Während das iranische Volk mit zahlreichen Problemen konfrontiert ist, versucht ihm die Regierung die revolutionäre Ideologie gewaltsam aufzustülpen. Daher war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Funke (Mahsas Tod) eine weitere Protestwelle auslöste, die sich gegen das iranische Regime und sein Oberhaupt Ayatollah Ali Khamenei richtet.
Der prominente iranische Soziologe Mohammad Fazeli von der Universität Teheran sagte, die Proteste seien nicht einfach eine Reaktion auf die jüngsten Ereignisse, sondern das Ergebnis von mehr als 40 Jahren schlechter Regierungsführung im Iran. Fazeli erklärte, dass es viele ungelöste Probleme gebe, die sich in den letzten vier Jahrzehnten angesammelt hätten, ohne dass die Regierung versucht habe, sie zu lösen. Auch sagte er: „Wenn Präsident Raisi sagt, er werde den Tod von Mahsa Amini untersuchen, können die Menschen ihm nicht vertrauen, weil ähnliche Fälle in der Vergangenheit ungelöst blieben.“ Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft schwindet allmählich, da der Iran seit mehreren Jahrzehnten unter hoher Inflation, einem Wirtschaftswachstum nahe Null und einem Verfall des Verwaltungssystems leidet. Diese und viele andere Faktoren haben zu einer Wut auf das iranische Regime geführt. Inzwischen haben viele Iraner keine Angst mehr zu protestieren und sich offen gegen die gescheiterte Herrschaft der Kleriker zu wenden.
Bei den Protesten kam es immer wieder vor, dass Hidschabs demonstrativ verbrannt wurden. Diese Szenen wurden von den westlichen Medien aufgegriffen, um die islamischen Verordnungen des iranischen Regimes anzugreifen. Während eines Interviews mit der New York Times unterzeichnete die iranische Aktivistin Minoo, deren Tochter an den Protesten teilnimmt, eine Online-Petition, in der die Abschaffung der Sittenpolizei gefordert wird. Minoo erklärte, dass sie das Kopftuch aus freien Stücken tragen würde. In dem Interview sagte sie: „Ich bin religiös, aber ich habe die Heuchelei und die Lügen dieses Regimes satt, das uns einfache Menschen wie Dreck behandelt.“ Wie viele andere Iraner hat auch Minoo erkannt, dass das iranische Regime den Islam als Legitimation benutzt. Währenddessen verfolgt es sowohl im Inland als auch im Ausland eine Politik, die nur darauf abzielt, das eigene Fortbestehen zu sichern. Dass Vertreter der iranischen Regierung mit ihren Familien regelmäßig westliche Hauptstädte bereisen und dabei Kleidung tragen, die keineswegs islamisch ist, empfinden viele Menschen im Iran als Heuchelei, von der sie die Nase voll haben. Ihre Wut richtet sich gegen ein Regime, durch das sie sich nicht repräsentiert fühlen. Somit sollen die Vorfälle mit dem Hidschab eher dazu dienen, ihre Missbilligung des Regimes zu demonstrieren, als die islamische Kleidung in Frage zu stellen.
Obwohl es aus islamischer Sicht falsch und unangemessen ist, den Hidschab abzulegen und zu verbrennen, machen iranische Frauen dadurch ihrem Ärger über das iranische Regime Luft. Durch diesen symbolischen Akt greifen sie einen Grundpfeiler der iranischen Revolution an – das erzwungene Tragen des Hidschabs.
Doch anstatt die islamische Atmosphäre in der iranischen Gesellschaft zu stärken und ein Bewusstsein für die Kultur des Islam bei den Demonstranten zu wecken, hat das iranische Regime eine andere Taktik gewählt, um das Problem zu lösen. Unter dem Deckmantel der Sittenpolizei ziehen nun Schlägertruppen durch Irans Straßen, um mit staatlicher Genehmigung auf iranische Frauen einzuschlagen. Es ist nicht verwunderlich, dass Frauen wütend werden und provokant reagieren, wenn ihnen Gewalt angetan wird. Das Verbrennen des Hidschabs ist bestimmt keine angemessene Reaktion und stellt nicht den richtigen Weg zur Erreichung der Ziele dar. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die Proteste eine Anti-Regime-Haltung eingenommen haben. Die Demonstranten wollen sich im Grunde von der Kleptokratie der Kleriker befreien und sie für ihre Verbrechen und Ungerechtigkeiten zur Rechenschaft ziehen. Die iranische Bevölkerung hat den Tod von Mahsa genutzt, um ihre Wut, die sich direkt gegen das iranische Regime richtet, zum Ausdruck zu bringen. Die Protestwelle hat Araber aus der Ahwaz-Region auf die Straße gezogen, ebenso wie Belutschen in Sistan-Belutschistan und Kurden im Norden des Iran. Denn aufgrund der Unterdrückung und Misshandlungen, die sie in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, und der massiven Militäreinsätze in ihren Gebieten hegen diese Volksgruppen einen tiefen Groll gegen das Regime in Teheran. Im Zuge dieser Proteste wird es entweder zu noch mehr roher Gewalt oder zu Zugeständnissen seitens des Regimes kommen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die Proteste das Regime zu Fall bringen können, da es keine zentrale Figur gibt, die als Protestführer fungiert. Obendrein haben sich die ländlichen Gebiete, die die Unterstützungsbasis der Kleriker bilden, von der Protestbereitschaft nicht anstecken lassen. Darüber hinaus blieben die Armee und die iranischen Revolutionsgarden (IRGC), die ja die Machtbasis des Regimes bilden, in ihrer Struktur intakt. Bislang gab es auch keine Nachrichten über Abspaltungsbestrebungen, doch sollte es zu diesen kommen, würde sich wahrscheinlich eine Situation ähnlich wie in Syrien ergeben, mit der Gefahr eines Bürgerkriegs. Im Moment ist ein derartiges Szenario aber sehr unwahrscheinlich. Das selbsternannte „Bollwerk der Menschenrechte“, die Vereinigten Staaten von Amerika, äußern sich relativ zurückhaltend zu den Geschehnissen im Iran. Die USA sind im Moment mehr daran interessiert, das iranische Atomabkommen wiederzubeleben, um ihren Fokus auf China lenken zu können. Den Frauen im Iran bzw. dem iranischen Volk im Allgemeinen muss bewusstwerden, dass die Ursache ihrer Probleme nicht der Islam ist, sondern das korrupte iranische Regime, das den Mantel des Islam benutzt hat, um seine wahren Motive und Absichten zu verbergen. Die Menschen im Iran brauchen mehr Islam – nicht weniger. Es wäre wünschenswert, wenn diese Einsicht in ihren Slogans und ihrer Rhetorik ebenso zum Ausdruck käme, wie ihre berechtigte Unzufriedenheit mit dem Regime in Teheran und seiner klerikalen Klasse.