Konzeptionen Die Einheit der Umma: Frommer Wunsch oder politischer Imperativ?

Bei allen Differenzen, die unter Muslimen derzeit zu beobachten sind, herrscht in einem Punkt doch Konsens: die Umma muss ihre Uneinigkeit überwinden. Allerdings sehen sich die Muslime einer bedrückenden Realität entgegen. Trotz der gemeinsamen weltanschaulichen Fundamente existieren eine Vielzahl an gegensätzlichen Ansichten. Immer wieder fällt auf, wie sich die Umma an theoretischen Themenfeldern regelrecht aufreibt. Ist das Konzept der Einheit deswegen zu einer Utopie geworden?

Obwohl die Einheit der Umma ein göttliches Gebot darstellt, fällt es den meisten Muslimen heute sichtlich schwer, sich eine solche Einheit in praxi vorzustellen. Zahlreiche Kontroversen bestimmen in der heutigen Zeit den innerislamischen Diskurs. Ganz gleich ob es sich um Meinungsunterschiede auf Ebene der Aqida handelt oder in rechtlichen Fragestellungen; es scheint eine unüberbrückbare Hürde zu geben, die selbst einen Minimalkonsens unmöglich erscheinen lässt. In diesem Kontext gar vom Aufbau einer islamischen Gesellschaft zu sprechen, klingt in den Ohren vieler Muslime nach einer naiven Wunschvorstellung.

Diese Wahrnehmung wirkt jedoch befremdlich, ist die Umma doch durch einen gemeinsamen weltanschaulichen Bezugsrahmen – bestehend aus den Primärquellen Koran und der prophetischen Sunna – verbunden. Die Basis für die Einheit der Umma ist somit theoretisch zwar gegeben. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die Muslime in vielen Aspekten ihres Din sehr wohl unterschiedliche Auffassungen vertreten. Genauso wenig lässt sich leugnen, dass sich dieser Umstand auf fatale Weise für die muslimische Gemeinschaft auswirkt – sowohl in globaler Hinsicht als auch in ihrem Dasein in westlichen Staaten. Denn er hindert die Muslime daran, als politische Akteure geschlossen aufzutreten, um ihre vitalen Interessen durchzusetzen. Vor allem im Hinblick auf die islamische Welt ist zu beobachten, dass eine fundmentale Veränderung der soziopolitischen Verhältnisse in Form der Gründung eines islamischen Staates aus Sicht vieler einer Illusion gleicht. Doch sind unterschiedliche Auffassungen per se ein Hindernis, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen und sich als eine Umma zu begreifen? Kann von einer Einheit erst dann gesprochen werden, wenn sämtliche Muslime dieser Welt den Islam in all seinen Details auf dieselbe Weise verstehen und praktizieren? Hat es einen solchen Zustand in der islamischen Geschichte in dieser Form jemals gegeben? Ist die Einheit der Muslime, die sich in einem islamischen Staat manifestieren würde, womöglich deshalb eine naive Wunschvorstellung, weil die ihr zugrunde gelegten Voraussetzungen bereits eine Utopie darstellen?

An genau dieser Fragestellung lässt sich die Grundproblematik deutlich erkennen. Nicht das Konzept der Einheit ist für sich genommen eine unrealistische Vorstellung, sondern das verzerrte Verständnis darüber, welches in der muslimischen Gemeinschaft derzeit vorherrscht. So ist beispielsweise im Bereich der Aqida der innerislamische Diskurs schon seit Jahrzehnten geprägt von Diskussionen, die sich in aller Regel um Zweigfragen drehen, bei denen schon zu Zeiten der frühen Gelehrten verschiedene Auffassungen existierten. Andererseits tangieren diese Meinungsdifferenzen die zentralen Aspekte der Aqida keineswegs. Beispielhaft kann hier die Frage nach dem Wesen und den Attributen Allahs herangezogen werden. Unabhängig davon, welche in der sunnitischen Tradition verankerte Auslegung der Muslim für schlüssig hält, um die diesbezüglichen Offenbarungstexte zu verstehen; sie ändert nichts an dem Kerngedanken der Existenz eines Schöpfers und dass der Mensch dazu verpflichtet ist, sich in sämtlichen Belangen seines Lebens den Geboten Allahs zu fügen. Mit der Diskussion über derartige Zweigfragen, welche eigentlich Teil des akademischen Diskurses sein sollten, werden Themenfelder aufgeschlagen, die für die breite Masse der Muslime keine praktische Relevanz besitzen. Zumal den wenigsten bewusst ist, welcher Denkschule sie in Fragen der Aqida eigentlich angehören. Gleichzeitig führt der Versuch, alle Muslime zu einem Teil der eigenen Denkschule zu machen, unweigerlich zu etlichen Widerlegungsdebatten, welche die bereits vorhandenen Gräben noch weiter vertiefen und die Einheit der Muslime tatsächlich erschweren.

Demzufolge bleibt das Konzept der Einheit in der Tat eine Wunschvorstellung, solange die verschiedenen muslimischen Akteure in ihrer Dawa den Schwerpunkt daraufsetzen, divergierende Positionen in den Zweigfragen des Din stetig hervorzuheben, um sich anschließend von eben diesen abweichenden Gruppen abzugrenzen. Denn es geht bei der Einheit nicht darum, die Muslime in ihrem Denken und Handeln gleichzuschalten. Vielmehr muss das anzustrebende Ziel die politische Einheit sein! Diese lässt sich jedoch nur dann erreichen, wenn der Fokus auf die verbindenden Elemente gelegt wird. Auf dieser Grundlage können die Muslime schließlich eine übergeordnete politische Agenda formulieren, mit der sie insbesondere in dem hiesigen Kontext ihren tatsächlichen Feind erkennen. Dieser Feind ist nicht jener Muslim, der andere Standpunkte vertritt oder grundsätzlich einer anderen Denk- bzw. Rechtsschule zuzuordnen ist. Vielmehr ist es – im Falle Deutschlands – die aggressive Assimilationspolitik der Bundesregierung, die versucht, die islamische Identität und Lebensweise anzugreifen. Genau hier liegen die verbindenden Elemente, welche die muslimische Gemeinschaft einigen sollten. Denn der Schutz der islamischen Identität und Lebensweise gehört zu den vitalen Interessen, die jeden Muslim betreffen – ungeachtet dessen, welcher Strömung er angehört. So herrscht ein übergreifender Konsens darin, dass beispielsweise das gesamte Denken und Handeln im Leben der Muslime durch die Offenbarungstexte bestimmt werden. Dazu gehört unter anderem der obligatorische Charakter des Kopftuchs oder des Gebets in der Schule sowie am Arbeitsplatz. Des Weiteren dürfen die Muslime es nicht zulassen, dass die Deutungshoheit über den Islam bei der Mehrheitsgesellschaft liegt, sondern ausschließlich in der eigenen Community selbst. Zudem gilt es, ihre Integrität unter allen Umständen aufrechtzuerhalten; die Muslime stellen ihre Vertreter und ihre Imame. Sie formulieren ihre Standpunkte zu gesellschaftspolitischen sowie globalen Fragestellungen und kommunizieren diese. All die genannten Aspekte gehören zu den vitalen Interessen und zwar nicht nur für eine bestimme Gruppierung, sondern für die muslimische Gemeinschaft als Ganzes. Folglich wäre sie in ihrer Gesamtheit auch von einem flächendeckenden Kopftuchverbot an Schulen betroffen, ganz gleich welchen Interpretationsansatz der einzelne Muslim wählen sollte, um die Texte bezüglich der Attribute Allahs korrekt zu verstehen.

In gleicher Weise müssen die Muslime die Herausforderungen betrachten, mit denen sie sich in der islamischen Welt konfrontiert sehen. Auch in diesem Fall müssen die eigenen Potenziale gebündelt werden, was allerdings nur funktioniert, wenn sie auf ihre Gemeinsamkeiten fokussieren und den tatsächlichen Feind erkennen – die kulturelle, politische und ökonomische Hegemonie des Westens. Denn wie soll diese überwunden werden, wenn sich die Muslime in Wortgefechten verlieren, die ihrer politischen Einheit jeglichen Boden entziehen? Vor diesem Hintergrund dürfen sich die Muslime nicht einreden lassen, dass die Einheit der Umma ein frommer Wunsch sei, eine Utopie, die in den Köpfen einiger Idealisten herumgeistert. Im Gegenteil! Sie muss als politischer Imperativ begriffen werden. Nur unter dieser Voraussetzung wird dann auch der innerislamische Diskurs geprägt sein von den verbindenden Elementen des Din. Die Meinungsunterschiede werden trotz ihrer Vielzahl keine Hürde mehr für einen politischen Konsens darstellen. Denn es steht nichts Geringeres auf dem Spiel als der Verlust der islamischen Identität und damit auch den Verlust der islamischen Lebensweise – im Westen genauso wie in der islamischen Welt.