Gerne blicken die Muslime auf die islamische Geschichte zurück. Auf eine Epoche, die sich im Vergleich zur heutigen Realität besonders dadurch auszeichnete, dass der Großteil der Muslime stets gemeinsam in einem Staat und unter einer Flagge lebte. Obgleich zu jener Zeit bereits eine Vielzahl an unterschiedlichen Auffassungen unter den Gelehrten existierten – sowohl in Fragen des Fiqh als auch in Zweigfragen der Aqida – mutierten diese Meinungsverschiedenheiten nicht zu einem gesellschaftlichen Spaltpilz, der die politische Einheit der Umma ernsthaft zu gefährden drohte.
Als das Kalifat Anfang des 20. Jahrhunderts im Begriff war unterzugehen, änderte sich dies jedoch schlagartig. Die Umma war sich zunächst nicht bewusst, welche Konsequenzen dieses hochpolitische Ereignis für ihren Zusammenhalt nach sich ziehen sollte. Im Zuge einer fundamentalen Neugestaltung der islamischen Welt, durch die Etablierung und Festigung nationalstaatlicher Strukturen, verstand die Umma dann, dass mit dem Untergang des Kalifats gleichzeitig der politische Rahmen abgeschafft wurde, welcher ihre Einheit bis dato gewährleistete. Der Wunsch, diesen islamrechtlich vorgeschriebenen Zustand wiederherzustellen, entstand unter den Muslimen zwar unmittelbar nach dieser historischen Zäsur und reißt seither nicht ab. Doch unter dem Einfluss westlicher Narrative schlich sich mit der Zeit unter vielen der Gedanke ein, dass ein derartiger Zustand aufgrund der neuen Rahmenbedingungen eine Utopie und somit als politisches Versprechen nicht einlösbar sei. Ein wesentlicher Grund dafür sind dieser Deutung zufolge etwa die zahlreichen Streifragen unter den Muslimen bis hin zu konfessionellen Differenzen, die gerade in den vergangenen Jahren zunehmend in blutige Konflikte ausarteten. Oft wird in diesem Kontext sogar die Frage in den Raum geworfen, ob in der langen islamischen Geschichte von einer einheitlichen Umma überhaupt gesprochen werden könne und inwieweit das Konzept der Einheit nicht vielmehr ein Konfliktverstärker sei, der immer wieder zu Blutvergießen führe. Für den Islamwissenschaftler und Buchautor Rainer Hermann stellt die Einheit der Umma nicht nur eine Fiktion dar, sondern gar eines der Elemente im Islam, das einen maßgeblichen Anteil an der gegenwärtigen Gewalt hätte. Aus seiner Sicht biete die Spaltung des Islam in diverse Denkrichtungen und Auslegungen genügend Potenzial für innere Konflikte. Beispielhaft führt Hermann das islamische Schisma an, das die Muslime schon in der Frühzeit in Sunniten und Schiiten trennte und im weiteren Verlauf der Geschichte wiederholt Ursache von gewalttätigen Auseinandersetzungen war, welche bis heute anhielten.
Der innerislamische Diskurs wird heute unter anderem von dieser Prämisse dominiert. Auf die politische Einheit in der islamischen Welt hinzuarbeiten wird von einigen belächelt und nach eben diesem Argumentationsmuster als politisch naiv abgetan. Denn wie soll die Einheit der Umma wiederhergestellt werden, wenn die Muslime sich in zahlreichen Fragen uneinig sind und ein Minimalkonsens unter diesen Voraussetzungen kaum möglich erschein? Gelänge es trotzdem die Einheit in staatliche Strukturen zu überführen, wären interne Machtkämpfe verschiedener politischer und theologischer Fraktionen vorprogrammiert. Entgegen dieser Einwände stellt sich bei genauerer Betrachtung aber die Frage, inwieweit die vorhandenen Meinungsunterschiede die Muslime tatsächlich an ihrer politischen Einheit hindern würden und ob der Grund dafür nicht eher an einer anderen Stelle zu suchen ist. Zunächst ist festzuhalten, dass ein Großteil der innerislamischen Differenzen keineswegs erst nach dem Zerfall des Kalifats entstanden ist. Bekanntlich führten bereits die Prophetengefährten etliche Kontroversen zu verschiedenen Themen. Selbst die Aqida-Denkschulen entwickelten sich im Islamischen Staat bereits im 2. und 3. Jahrhundert nach der Hidschra und stellen somit kein neuartiges Phänomen dar, mit dem die Muslime nicht umzugehen wüssten. Mehr noch haben diese Differenzen die politische Einheit der Umma nie ernsthaft in Frage gestellt – trotz interner Spannungen, die es in den verschiedenen Epochen der islamischen Geschichte gegeben hat.
Demzufolge geht es bei dem Konzept der politischen Einheit nicht darum, all die im Kalifat lebenden Muslime in ihrem Denken und Handeln gleichzuschalten. Genauso wenig soll das Ziel darin bestehen, die Muslime allesamt zu Anhängern einer bestimmten Denkrichtung werden zu lassen, die sämtliche Zweigfragen des Din auf dieselbe Weise begreift und praktiziert. Um jedoch zu verhindern, dass die Muslime sich in zahllosen Widerlegungsdebatten gegenseitig aufreiben, während der Westen die islamische Welt weiterhin nach seinem Gusto gestaltet, muss die Umma vielmehr auf ihre Gemeinsamkeiten fokussieren und in der politischen Arbeit die sie verbindenden Elemente ins Zentrum setzen. Denn nur auf diese Weise wird es einerseits möglich sein, den notwendigen politischen Konsens für eine fundamentale Veränderung herzustellen. Andererseits wird die Umma dadurch auch ihren tatsächlichen Feind erkennen – die kulturelle und politische Hegemonie des Westens. Denn sie ist der eigentliche Grund dafür, dass der erneute Aufstieg der Umma verhindert und ihre politische Spaltung aufrechterhalten wird. Auf weltanschaulicher Ebene lässt sich dies daran erkennen, dass der Westen mit der Abschaffung des Kalifats nicht einfach nur ein neues ordnungspolitisches System etablierte, sondern gleichzeitig einen kulturhistorischen Bruch vollzog. Die Oktroyierung des eurozentrischen Weltbildes sorgte dafür, dass von nun an Ethnie und Sprache die wesentlichen Abgrenzungsmerkmale darstellen sollten. Auf soziopolitischer Ebene führte dieser Prozess neben der Schaffung säkularer Staatsgebilde dazu, dass ein Teil der Bevölkerung sich zunehmend über seine ethnisch-nationale Identität definierte und sich damit von den religiösen Schichten abgrenzte. Die hierdurch entstandene Bruchlinie führte schließlich zu jenem Spannungsverhältnis zwischen dem säkularen Staat und der religiösen Bevölkerung, der jeglichen Aufstieg der Umma zu verhindern sucht. Denn historisch betrachtet liegt die primäre Funktion des Nationalstaates darin, den soziopolitischen Einfluss des Christentums zurückzudrängen und in eine wie auch immer geartete private Sphäre zu verbannen. Der Nationalstaat ist folglich eine politische Struktur, der zwangsläufig eine säkulare und somit religionsfeindliche Weltanschauung zugrunde liegt.
Diese Funktion übernahmen auch die Nationalstaaten in der islamischen Welt mit aller Härte, wie zuletzt im arabischen Frühling zu beobachten war. So wurden der Islam bzw. jene Bevölkerungsteile und Gruppierungen bekämpft, die das säkulare Ordnungssystem ablehnen und eine fundamentale Neugestaltung der Region anstreben. Nicht selten haben sich die säkularen Regierungen dabei sogar die Meinungsverschiedenheiten unter den einzelnen Gruppen zunutze gemacht, um ihre Dynamik wirkungsvoll zu unterdrücken. Doch eine fundamentale Neugestaltung im Sinne des Islam wird nur dann realisiert werden können, wenn die Muslime zunächst die westlichen Ideen als das tatsächliche Hindernis für ihren erneuten Aufstieg identifizieren. Denn unterschiedliche Interpretationen und Auffassungen in den Zweigfragen des Din sind eine Realität, mit der auch künftig zu rechnen ist. Solange die politische Führung in dieser Frage jedoch mit Weitsicht agiert und den gemeinsamen Nenner aller Muslime nicht aus den Augen verliert, werden innerislamische Differenzen die politische Einheit der Umma auch in einem zukünftigen Kalifat nicht gefährden können.
Vor diesem Hintergrund muss die Umma begreifen, dass die westlichen Ideen, die sich in Staat und Gesellschaft manifestieren, das eigentliche Hindernis für ihren erneuten Aufstieg darstellen. Sie waren es schließlich, die den Muslimen weisgemacht haben, dass sie sich in erster Linie als Araber, Türken oder Kurden zu verstehen haben und als Nation erst in einem säkularen Nationalstaat voll entfalten könnten. Auch sind es die westlichen Ideen, die den Muslimen bis heute vorgaukeln, dass der Islam keine dominante Rolle mehr im öffentlichen Leben der Muslime zu spielen hat und als ordnungspolitische Struktur bestenfalls ein Relikt vergangener Zeiten sei. Die politische Einheit durch die Gründung des Kalifats anzustreben sei demzufolge eine Utopie, die allein schon an der innerislamischen Zerrissenheit der Muslime scheitere. Doch die islamische Geschichte führt deutlich vor Augen, dass gerade das Kalifat die Ummapolitisch einte und der säkulare Nationalstaat ihre Zerrissenheit und letztlich den Untergang ihrer politischen Struktur bewirkte.