Der Slogan „Frau, Leben, Freiheit“, der nach dem Tod Mahsa Aminis auf den iranischen Straßen bei den Demonstrationen gegen die Regierung skandiert wird, ist ursprünglich eine politische Parole der kurdischen PKK. Inzwischen ist er jedoch eng verknüpft mit den Demonstrationen im Iran. In den Medien und vor allem in den sozialen Medien werden Iranerinnen präsentiert, die sich auf den Straßen Teherans demonstrativ den Schleier vor Wut auf das Regime von ihren Häuptern reißen und verbrennen. Sie halten zudem Plakate mit dem Slogan hoch. Diese vermeintliche Geste der Befreiung der Frau wird in der westlichen Öffentlichkeit frenetisch gefeiert und erhält uneingeschränkte mediale Unterstützung. Hier soll der Anschein erweckt werden, dass die Frauen der Islamischen Republik sich gegen ihren Glauben erheben würden, denn diesen verkörpere der Iran.
Dass der Iran nichts anderes ist als eine kapitalistisch ausgerichtete korrupte Diktatur, die weder den Islam verkörpert noch mit dem Islam regiert, spielt in den westlichen Medien so lange keine Rolle, solange man den Islam damit diffamieren kann. Kein westliches Medium würde zugeben, dass die iranische Regierung Muslime tötet. Sie ermordet die Muslime im eigenen Land oder im Auftrag des Westens in Syrien. Diese Tatsache wird gänzlich ignoriert. Der Protest – so der Tenor – sei lediglich ein Aufbegehren gegen die islamische Regierung, der von den iranischen Frauen ausgehe.
Die Wahrheit ist, dass der Iran seit inzwischen mehr als fünf Jahren regelmäßig größere Proteste erlebt. In der ersten Jahreshälfte 2022 verzeichnete er etwa 2.000 Proteste, bei denen es um unterschiedliche Belange ging: Wasserknappheit, enorme Preissteigerungen bei Lebensmitteln, nicht ausgezahlte Gehälter, Korruption und Vetternwirtschaft. Bei jedem Protest greift die iranische Regierung zu massiver Gewalt, um die Bürger zum Schweigen zu bringen. Im Jahr 2019 gingen die Bürger auf die Straßen, um gegen die exorbitanten Benzinpreiserhöhungen zu demonstrieren. Die Regierung schoss wahllos in die Menschenmenge, so dass bis zu 1.500 Menschen ihr Leben ließen. Das Regime macht bei der Unterdrückung seiner Bürger keine Unterschiede zwischen Geschlecht oder Religion. Es geht hart gegen jeden vor, der auf Missstände im Land aufmerksam macht. Bis zum 16. September 2022 interessierte sich die westliche Medienlandschaft kaum für die Proteste im Iran. Dies sollte sich mit dem Tod Mahsa Aminis ändern, denn die vermeintlichen Umstände ihres Todes passen nur zu gut zum westlichen Bild der mutmaßlich unterdrückten muslimischen Frau, die sich gegen ihre Religion auflehnt, um in Freiheit leben zu können. Die Frau im Islam ist in der westlichen Welt ohnehin die Personifizierung der Unfreiheit und Rückständigkeit ihres Glaubens. Mahsa Amini wurde gewollt oder ungewollt zur Zeugin der Anklage. Die Geschichte ist simpel verfasst: Muslimische Frau will ihr Kopftuch nicht tragen und wird deshalb unterdrückt und getötet. Die Gesamtsituation des Iran lässt sich dabei auf eine einzige Parole herunterbrechen: Frau, Leben, Freiheit.
Seit der kolonialen Besetzung der islamischen Welt werden Muslime und die muslimische Frau im Speziellen wie unmündige Kinder behandelt. Noch so schlimme Kriege, Bombardierungen, zivile Opfer werden hinter einem Tarnmantel schöner Wörter wie Befreiung und Demokratisierung verborgen. Es stecken niemals strategische Interessen hinter den „Spezialoperationen“, sondern lediglich die Befreiung der Rückständigen, die hingeführt werden sollen zu einer modernen, zivilisierten, also westlichen und daher korrekten Lebensweise. Im kolonialen und heute im postkolonialen Diskurs dient der Hijab als Beweisstück für die vermeintliche Minderwertigkeit des Islam. Der Islam unterdrücke die Frau und der Hijab sei letztendlich der Ausdruck dessen. Während der Kolonialzeit wurden Musliminnen in den Kolonien auf öffentlichen Plätzen unter Zwang entschleiert. 1958 musste sich die damals 18-jährige Algerierin Monique Améziane in einem Massenspektakel als französische Marianne ausstaffieren lassen. Ihre Geschichte ist im Pariser Militärarchiv dokumentiert, wo auch festgehalten wurde, dass sie sich auf das Theater einließ, weil ihr mit der Exekution ihres inhaftierten Bruders gedroht wurde. Die Botschaft hinter dem Schauspiel war die Darbietung der vermeintlich befreiten muslimischen Frau, die mithilfe der europäischen Kolonialherren im Zeitalter der Moderne angekommen sei. Jedoch waren vor allem jene europäischen Herren, die die Befreiung bzw. Entschleierung der Frau in Syrien und Algerien befürworteten, vehemente Gegner des Frauenwahlrechts in Frankreich und Großbritannien.
Im Westen galten Frauen immer schon als das schwache Geschlecht. Deshalb müsse es auch das sogenannte starke Geschlecht sein, das die Musliminnen in Unfreiheit leben lasse, um die Zügel in der Hand zu behalten. Eine andere Betrachtungsweise kommt in der westlichen Denkfabrik gar nicht vor, da ihr historisches Gedächtnis keine andere Geschichte kennt. Es ist eine historisch belegte Tatsache, dass die Kirche im Mittelalter gebildete Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ und Männer des Adels und des Bürgertums in Europa ihnen das Recht zu studieren, zu wählen und zu erben bis weit ins 20. Jahrhundert verwehrten. Deshalb kommt der westliche Denker nicht umhin, die eigene historische Erfahrung für allgemeingültig zu erklären und auf den Islam zu projizieren. Dass die islamische Geschichte diese Erfahrungen nicht teilt und die Unterdrückung der muslimischen Frau ein koloniales Erbe ist, welches aus Europa in die islamische Welt importiert wurde, scheint in dem Zusammenhang keine Rolle zu spielen. Die muslimische Frau kann auf eine Geschichte zurückblicken, in der sie nicht nur studieren und erben durfte, sondern gleich mit dem ererbten Geld eine Universität eröffnete. Fatima al-Fihri eröffnete bereits 859 mit ihrem Erbe eine Moschee und Bildungseinrichtung in Fés im heutigen Marokko. Diese Bildungseinrichtung, die sogenannte al-Qarawiyīn-Universität, ist die älteste der Welt und hat sich dadurch einen Platz im Guiness-Buch der Rekorde gesichert. In dieser Universität wurden namenhafte Gelehrte ausgebildet. Der Kartograf al-Idrisi beispielsweise, dessen Karten während der Renaissance von europäischen Entdeckern genutzt wurden, lernte an dieser Universität, die von einer Frau gegründet wurde.
In der islamischen Welt wurde jedoch im Zuge des Kolonialismus das historische Bewusstsein mit dem Geschichtswissen aus Europa vermengt. Dieses wurde von vielen Muslimen einverleibt, als wäre es die eigene Biographie. Sogar das eigene Spiegelbild wurde nur noch mit den kolonialen Augen betrachtet, so dass die eigene Größe im Zerrbild verblasste. Das Stockholmsyndrom breitete sich in der islamischen Welt aus. Obwohl die Kolonialmächte mit harter Hand die ehemaligen Bürger des Kalifats misshandelten und sie ihrer Würde beraubten, wurden die Menschen vom eigenen Minderwertigkeitskomplex geblendet und wollten plötzlich so sein wie ihre Besatzer. Da sich nicht alle Muslime blenden ließen und den Mythen glauben wollten, brauchte man Marionetten, die mit harter Hand die Kolonialmächte in der islamischen Welt vertraten und bis heute vertreten. Vor dieser kolonialen Drohkulisse verbot Schah Reza am 7. Januar 1936 das Tragen des Kopftuches in der Öffentlichkeit. Zwei Jahre zuvor hatte der Schah auf einem Staatsbesuch gesehen, wie Atatürk die Türkei veränderte. Das Tragen religiöser Kleidung war verboten, Fes und Turban aus dem öffentlichen Leben der Städte verschwunden. Nach dem Vorbild Atatürks veranlasste Schah Reza letztendlich, dass die Kaiserin und die Frauen der Staatsmänner in der Öffentlichkeit ihre Haare zeigen müssen. Auf der Straße wurde den Frauen der Schleier vom Kopf gerissen. Für die meisten Frauen im Iran bedeutete das Kopftuchverbot in der Praxis eine komplette Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Der Autor Javad Kermani erinnert sich an seine Tante, die 15 Jahre lang nicht aus dem Haus gegangen sei. „Sie wollte eben ihr Kopftuch nicht abnehmen. Und sie wollte gegen die Zwangsentschleierung protestieren. Eine meiner anderen Tanten ging immer nur nachts, heimlich, mit Kopftuch aus dem Haus“, so der Autor. Als der Schah Reza Pahlevi 1941 zugunsten seines Sohnes abdanken musste, legten die Frauen ihre Schleier demonstrativ wieder an, so dass das Verbot nicht mehr zu halten war. Diese Frauen, die an ihrer islamischen Lebensweise mit aller Willenskraft festhalten wollen, erhalten aus dem Westen weder ein müdes Lächeln noch ein Schulterzucken. Sie kommen in der Erzählung von der Unterjochung der muslimischen Frau gar nicht oder nur am Rande vor. Dies erklärt auch, warum uighurische Frauen, die in chinesischen Konzentrationslagern zur Strafe gefoltert werden, weil sie ihre islamische Lebensweise ausleben wollen, leider keinen so griffigen Slogan bekommen. Sie sind dessen erst würdig, wenn sie glaubhaft vermitteln, dass sie sich befreien wollen, aber nicht von der repressiven chinesischen Regierung, sondern von der islamischen Lebensweise. Bis dahin bleiben sie Gefangene im Konzentrationslager, ohne Namen, ohne Aufmerksamkeit und ohne Parole. Vielleicht ist das der Maßstab, den Frau Baerbock auf dem Parteitag in ihrer Rede meint.