Mehrere aktuelle Umfragen zeigen, dass immer mehr Menschen mit den Folgen des Brexits unzufrieden sind. Darunter finden sich vor allem jene, die damals für den Austritt Großbritanniens aus der EU gestimmt hatten. Am 28. Januar 2023 ergab eine YouGov-Umfrage, dass 41% der Wähler, die für den Austritt Großbritanniens aus der EU stimmten, nun der Ansicht waren, dass der Brexit negative Auswirkungen auf Großbritannien hatte. 23% sagten, der Brexit wirke sich negativ auf das Ansehen Großbritannien in der Welt aus, 34% meinten, er habe negative Auswirkungen auf die Wirtschaft. Etwa 41% glaubten, der Brexit habe negative Auswirkungen auf die Einwanderung. Eine Petition für eine öffentliche Untersuchung des Brexit hat bereits mehr als 100.000 Unterschriften erhalten. Es fanden auch Demonstrationen für den Wiedereintritt Großbritanniens in die Europäische Union statt. Selbst The Telegraph, eine britische Tageszeitung die das Brexit-Referendum damals stark unterstützt hatte, räumte ein, dass die wirtschaftlichen Ziele des Referendums nicht erreicht wurden. Verschiedene Politiker haben sich ebenfalls besorgt über die negativen Auswirkungen des EU-Austritts geäußert. Der Austritt Großbritanniens aus der EU, der eine Utopie versprach, verwandelte sich rasant in einen Alptraum.
In den Jahren vor dem Referendum wuchs in Teilen der Konservativen und Unionistischen Partei und der britischen Öffentlichkeit das Unbehagen, dass die EU zu mächtig werden und Großbritannien die Kontrolle über seine eigenen Angelegenheiten verlieren könnte. Politiker und Medien schilderten, dass Großbritannien die Kontrolle über Einwanderung, Handel und Gesetzgebung verliere.
Die Öffentlichkeit hatte das Gefühl, dass die massive Wirtschaftsmigration aus Osteuropa und der Zustrom von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten die öffentlichen Dienste wie das Gesundheits- und Bildungswesen und den Wohnungsbau in unerträglichem Maße belasteten. Bestimmte Politiker und die Medien verstärkten dieses Narrativ.
Des Weiteren litt die Bevölkerung noch unter dem wirtschaftlichen Abschwung, der sich infolge der Finanzkrise von 2008 ergab, sowie aus dem darauf folgenden Sparprogramm der Regierung. Im Brexit sahen seine Befürworter eine Möglichkeit, die Kontrolle über die Wirtschaft ihres Landes zurückzugewinnen. Um den euroskeptischen Flügel der Konservativen und Unionistischen Partei zu beschwichtigen, warb der damalige Parteivorsitzende David Cameron bei den Parlamentswahlen im Jahr 2015 mit dem Versprechen, über die weitere Mitgliedschaft in der Europäischen Union abstimmen zu wollen. Der Sieg bei den Parlamentswahlen zwang ihn dazu, dieses Versprechen widerwillig einzulösen.
Die Befürworter des Brexit-Referendums, angeführt von Boris Johnson und Nigel Farage, versprachen, dass der Brexit Großbritannien die Kontrolle über die Einwanderung und die Grenzen zurückgeben, die nationale Souveränität wiederherstellen und die Freiheit geben würde, weltweit bessere Handelsabkommen zu schließen, was wiederum die Wirtschaft des Landes verbessern und den Druck auf die öffentlichen Dienste verringern würde.
Die versprochene Utopie blieb aus
Sechs Jahre nach dem Referendum erweisen sich Handelsabkommen als schwierig, globale Investitionen in Großbritannien geraten ins Stocken, öffentliche Dienstleistungen wie der Nationale Gesundheitsdienst und die Sozialfürsorge scheinen sich immer mehr zu verschlechtern. Die Folge sind Massenstreiks. Auch die Einwanderungssituation scheint außer Kontrolle.
Die Handelsgespräche mit den USA scheiterten an der Lebensmittelsicherheit, der Zulassung von Medikamenten, der Verwendung von Hormonen und gentechnisch veränderten Organismen („GVOs“) in der Landwirtschaft und dem Zugang zu den britischen Märkten für die dortigen Pharma- und Medizinunternehmen. Das abgeschlossene Handelsabkommen mit Australien lässt britische Landwirte fürchten, dass die Preise für Lamm- und Rindfleisch von den australischen Preisen unterboten werden könnten. Der ehemalige britische Umweltminister George Eustice kritisierte: „Wenn wir die Fehler, die das Ministerium für internationalen Handel bei den Verhandlungen mit Australien gemacht hat, nicht anerkennen, werden wir nicht in der Lage sein, daraus Lehren für künftige Verhandlungen zu ziehen.“ Der Verlust des britischen Zugangs zum EU-Binnenmarkt hat sich auf die weltweiten Investitionen ausgewirkt. Zu den Nachrichten über den Zusammenbruch des bekannten Batterieherstellers BritishVolt sagte der britische Politiker und ehemaliger Außenminister Großbritanniens, William Hague: „Wenn man mit Batterien erfolgreich sein will, muss man große Hersteller auf demselben Markt haben, die diese Batterien verwenden. Das ist also ein Teil des Schadens, der durch den Austritt aus der EU entstanden ist.“
Die Verringerung der Zuwanderung aus der Europäischen Union hat in britischen Sektoren wie der Sozialfürsorge, der Landwirtschaft und im Baugewerbe zu einem Arbeitskräftemangel geführt. Jedoch hat sich die Gesamtzahl der Einwanderer nicht verringert. So hat das Amt für nationale Statistiken die höchste Nettozuwanderung seit dem Zweiten Weltkrieg festgestellt. Die Zuwanderung wurde durch ausländische Studenten, den Afghanistankrieg und den Ukrainekrieg zusätzlich angeheizt. Darüber hinaus ist die Zahl illegaler Einwanderer in Großbritannien nach wie vor hoch. Statistiken zur „irregulären Migration“ bis Juni 2022 zeigen, dass seit Anfang 2018 mehr als 100.000 Menschen illegal nach Großbritannien gekommen sind.
Weiterhin ist das zentrale Versprechen des Brexits, dass nämlich durch den Austritt Großbritanniens aus der EU ganze 350 Millionen britische Pfund pro Woche für den Nationalen Gesundheitsdienst frei werden würden, ist nicht eingetreten. Stattdessen sieht sich der Nationale Gesundheitsdienst mit einer Finanzierungskrise, weit verbreiteten Massenstreiks, einem Mangel an verfügbaren Krankenbetten, historisch langen Wartezeiten und einer mangelhaften Servicequalität konfrontiert.
Als wäre all dies nicht genug, hat der Brexit die Unabhängigkeitsdebatte in Schottland sowie die Forderung nach einer Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland neu belebt. Schottland hat beim Referendum im Jahr 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt. Seit dem Brexit setzt sich die Schottische Nationalpartei (SNP) dafür ein, dass Schottland das Recht hat, über seine Zukunft selbst zu bestimmen und der Europäischen Union als unabhängige Nation wieder beizutreten. Nordirland war vor dem Brexit ein großer Profiteur von den Vorteilen der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens. Nach dem Brexit steht Nordirland jedoch vor neuen wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten. Darunter fällt beispielsweise die Tatsache, dass Nordirland weiterhin mit dem Zollgebiet des Vereinigten Königreichs verbunden ist und gleichzeitig die Vorschriften der EU für Waren einzuhalten hat. Dies hat zu einem erneuten Vorstoß der Sinn Féin für eine Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland geführt, um die EU-Mitgliedschaft wiederzuerlangen und sich die damit verbundenen Vorteile zu sichern.
Der ehemalige britische Premierminister John Major mischte sich kürzlich in die Debatte ein, indem er Boris Johnsons Umgang mit dem Brexit scharf kritisierte und sagte, seine Regierung habe dem Nordirland-Protokoll zugestimmt, obwohl sie gewusst habe, dass es nicht umsetzbar sei. „Das muss das erste Abkommen in der Geschichte sein, welches von Leuten unterzeichnet wurde, die von vornherein wussten, dass es nutzlos ist.“, sagte Major vor einem Ausschuss in Westminster. Der ehemalige Premierminister aus der Konservativen Partei zeigte sich erstaunt über die Akzeptanz des Protokolls, das Johnson nutzte, um bei den Wahlen 2019 für einen „ofenfertigen“ Brexit-Deal zu werben. Er sagte, der Austritt Großbritanniens aus der EU sei ein „kolossaler Fehler, der das Vereinigte Königreich aus den drei wichtigsten Machtblöcken der Welt herausgerissen hat.“ Weiterhin sagte er: „Es gibt Amerika, es gibt China und es gibt die Europäische Union. Wir sollten in Europa sein.“
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Probleme Großbritanniens viel umfassender und tiefgreifender sind. Diese resultierten mitnichten nur aus der Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Der Austritt aus der EU hat nicht die erwarteten Veränderungen gebracht, die sich die Brexiteers erhofft und versprochen hatten, und in mancherlei Hinsicht hat sich die Situation sogar noch verschlimmert.
Quelle: https://thegeopolity.com