Vorwort
Im Dezember 2021 wurde ich dazu eingeladen, auf einer Online-Konferenz zu sprechen, welche die Zusammenarbeit von Muslimen mit der „westlichen/verwestlichten Elite“ thematisierte.
Auf der Konferenz wurden sowohl theologische als auch politische Perspektiven der Zusammenarbeit untersucht. Ich war dazu eingeladen, im Hinblick auf bestimmte Fragestellungen einen Vortrag zu halten und einen Diskussionsbeitrag zu leisten. Zudem versuchte ich in meinem Arbeitspapier Antworten zu liefern.
Die Islamische Menschenrechtskommission (Islamic Human Rights Commission – IHRC) veranstaltet jährlich eine Konferenz zum Thema „Islamophobie“. In diesem Jahr lag der Fokus in erster Linie auf die Situation von muslimischen Minderheiten, die in säkularen, kapitalistischen und überwiegend nicht-muslimischen Staaten leben.
Die Frage nach Zusammenarbeit hat sicherlich eine große Tragweite. Was ist denn mit Zusammenarbeit gemeint? Kooperation, Interaktion, Rechenschaftsforderung oder Partizipation? Was verstehen wir eigentlich unter dem Begriff „Elite“? Berücksichtigt man die Tatsache, dass die politischen Institutionen in der muslimischen Welt „verwestlicht“ worden sind, stellt sich die Frage: Welche Relevanz hat diese Diskussion dann in diesem Zusammenhang?
All diese Fragen sollten aus islamischer Sicht diskutiert werden.
Nichtsdestotrotz gab mir die Konferenz die Möglichkeit, einen besonderen Aspekt zu erörtern, der für beide Kontexte relevant war: Sollte die politische Zusammenarbeit mit der Elite prinzipientreu oder pragmatisch sein? Sollte sich also unser Einsatz auf die vom Islam definierten Ziele konzentrieren und auf zulässige Vorgehensweisen beschränken? Oder sind unsere Ziele durch kurzfristige Interessen definiert und alle Mittel zur Erreichung des Ziels legitim?
Anhand von Belegen aus Koran und Sunna habe ich zu veranschaulichen versucht, warum wir den prinzipientreuen Ansatz wählen sollten. Tatsächlich hat der Islam ein sehr edles Ziel im Sinne einer einzigartigen und überlegenen politische Ordnung definiert. Erst wenn wir uns darüber im Klaren sind, können wir eine Diskussion über die relativen Vorzüge bestimmter Taktiken führen.
Die in diesem Aufsatz untersuchten Fragen stellen erst den Anfang dieser wichtigen Diskussion dar, die hoffentlich weitergeführt werden wird.
Dr. Abdul Wahid,
Vorsitzender des Exekutivausschusses von Hizb ut-Tahrir Großbritannien
London
Ğumādā l-Āḫira 1443 / Januar 2022
Sitzung – Der theologische Fall: Der Islam, die muslimischen Kulturen und die Möglichkeiten der Interaktion
Einleitung
Es gab in der Geschichte des Islam ein bedeutendes Ereignis, das dramatisch, bewegend und inspirierend zugleich war. Die Mitglieder der anfangs noch kleinen muslimischen Gemeinschaft in Mekka erhielten vom Propheten (s) die Erlaubnis auszuwandern, weil sie unter Verfolgung litten. Sie wanderten nach Abessinien (heutiges Äthiopien) aus. Der Prophet hatte ihnen gesagt, dass sich dort ein christlicher König – der Negus – befindet und dieser „keine Ungerechtigkeit duldet“. Die Gefährten des Propheten (s), die nach Abessinien geflüchtet waren, wurden von den Feinden des Islam verfolgt, die versuchten, ihre guten Beziehungen zum König zu nutzen, damit dieser ihnen die geflüchteten Muslime ausliefert. Nachdem der Negus beide Seiten angehört hatte, weigerte er sich jedoch, die Muslime auszuliefern und versprach stattdessen, ihnen den Schutz und die Sicherheit zu gewähren, um die Ğaʿfar ibn Abī Ṭālib im Namen der Muslime ersucht hatte.
Dieses Ereignis wird manchmal als Rechtfertigung dafür herangezogen, Muslimen die Zusammenarbeit mit einer „nicht-muslimischen Elite“ zu erlauben.
Da der Titel dieser Konferenz „Zusammenarbeit mit der westlichen/verwestlichten Elite“ lautet und dieser spezielle Vortrag den Untertitel „Die Möglichkeiten der Interaktion“ trägt, sollte zunächst folgende Frage beantwortet werden: Was verstehen wir eigentlich darunter, wenn wir von „Zusammenarbeit“ oder „Interaktion“ mit der politischen Elite in „verwestlichten“, also in säkularen, demokratischen, kapitalistischen Staaten sprechen?
Bei der Erörterung dieser Frage werde ich mich in erster Linie auf die Situation von Muslimen konzentrieren, die als Minderheiten im Westen leben, weil unsere Diskussion hier stattfindet. Diese kann jedoch nicht von den Problemen in der muslimischen Welt abgekoppelt werden, da die politischen Einrichtungen in der muslimischen Welt ebenfalls „verwestlicht“ sind. Ferner stellt der Islam einen universellen Glauben dar und die muslimische Umma ist eine globale Gemeinschaft.
In der Diskussion werde ich zwischen „Engagement“ oder „Interaktion“ auf der einen Seite und der „Zusammenarbeit“ mit der Elite oder der „Teilnahme“ am politischen System auf der anderen Seite unterscheiden. Es handelt sich nämlich um zwei verschiedene Sachverhalte.
Selbstverständlich hat sich Ğaʿfar ibn Abī Ṭālib engagiert bzw. mit der herrschenden Autorität interagiert – jedoch nicht mit ihr zusammengearbeitet. Haben die Muslime irgendetwas von ihrem Glauben aufgegeben, als sie mit dem König diskutierten? Ganz und gar nicht! Vielmehr waren sie ganz offen, ehrlich und kompromisslos in Bezug auf ihre Glaubenslehre. Als sie ihre eigenen Überzeugungen im Hinblick auf den Propheten Jesus (a) erklärten, widersprachen sie vollkommen dem Glauben des Negus an die christliche Dreifaltigkeit.
In diesem Beitrag werde ich zeigen, dass der Islam viele Aspekte des Engagements und der Interaktion mit einer „verwestlichten Elite“ erlaubt – und dies manchmal sogar von uns verlangt. Dazu zählt das Einfordern von islamisch legitimierten Rechten, so wie in Abessinien geschehen – oder auch Engagement, um die Elite aus islamischer Perspektive anzuprangern, zur Rechenschaft zu ziehen oder zu beraten.
Ich werde jedoch auch zeigen, dass die Zusammenarbeit mit einer „verwestlichten Elite“ oder die Beteiligung an ihren Systemen, wie dies von einigen befürwortet wird, aus theologischer Sicht äußerst problematisch ist. Darüber hinaus wäre ein derartiges Vorgehen auch unter dem Gesichtspunkt der politischen Strategie höchst fragwürdig.
Vor allem möchte ich, dass wir uns die grundsätzlichere Frage stellen: „Wofür engagieren wir uns eigentlich?“ Denn es ist die Vision bzw. die Perspektive, die über die Art des anschließenden Engagements oder der politischen Aktivität bestimmen wird.
Besteht unser Ziel darin, uns anzupassen? Oder die eigene Identität aus einer Position der Schwäche heraus zu verteidigen? Oder ist unser Engagement nur Teil eines viel größeren und von Prinzipien bestimmten Ziels? Eine defensive Denkweise würde unweigerlich das Überleben und den Eigennutz an die oberste Stelle setzen. Ein Ansatz, der ein höheres Ziel anstrebt, würde hingegen ein gewisses Maß an Aufopferung erfordern. Der Einzelne wird dabei auf die Probe gestellt und in seiner Standfestigkeit geprüft. Nur wenn er standhaft bleibt und sich von seinem Weg nicht abbringen lässt, hat er eine Aussicht auf Erfolg. Ich werde aufzeigen, dass nur ein Engagement nach islamischen Grundsätzen und für die vom Islam definierten Ziele zum Erfolg führen kann. Nur wenn wir diesen Ansatz befolgen, dabei so selbständig wie möglich vorgehen und uns als Teil einer globalen Umma verstehen, können wir wirkliche „Macht“ und Einfluss gewinnen.