Konzeptionen Die Zusammenarbeit mit der westlichen/verwestlichten Elite: Ja, nein oder vielleicht? Teil II

Beim folgenden Aufsatz in fünf Teilen handelt es sich um den Inhalt eines Vortrages, den Dr. Abdul Wahid, Vorsitzender des Exekutivausschusses von Hizb ut-Tahrir in Großbritannien, bei der jährlichen Konferenz der islamischen Menschenrechtskommission (Islamic Human Rights Council – IHRC) gehalten hat.
Da er für die Muslime auf dem europäischen Kontinent von ebenso großer Relevanz ist, haben wir uns entschieden, ihn unserer Leserschaft auf Deutsch zur Verfügung zu stellen.
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Wofür engagieren wir uns?

Die meisten politischen Aktivisten werden sich fragen, was die Bedürfnisse und Interessen unserer Gemeinschaft sind. Sie konzentrieren sich auf Rechte, Chancengleichheit, manchmal sogar auf die Sorge um das Überleben unserer Gemeinschaft. Dies sind zweifellos berechtigte Anliegen. Wir könnten eine ausführliche Debatte darüber führen, wie man am besten mit ihnen umgehen kann. Höchstwahrscheinlich würden wir dabei auf sehr unterschiedliche Ansichten stoßen. Einige würden dafür plädieren, dass wir versuchen sollten, uns am System zu beteiligen, um es von innen heraus zum Besseren zu verändern. Anhänger radikalerer politischer Positionen würden es vorziehen, außerhalb des Systems zu bleiben und eine externe Machtbasis aufzubauen. Obwohl diese beiden Positionen weit auseinander gehen, erachtet jede Seite ihre eigene Methode für das beste Mittel, um die politische Meinung innerhalb der Elite zu beeinflussen.

Über die Vorzüge und Nachteile beider Seiten ließe sich endlos streiten.

Der vom Islam geleitete Muslim wird jedoch nicht von Interessen gesteuert. Stattdessen versucht er jene Ziele zu erreichen, die von Allah (s) vorgegeben wurden. Daher beurteilt der Muslim die Stichhaltigkeit eines Ansatzes nicht nach einer voreingenommenen Risiko-Nutzen-Analyse, sondern nach den Geboten und Verboten des Islam. Der Erhabene sagt:

﴿وَمَا خَلَقْتُ الْجِنَّ وَالْإِنسَ إِلَّا لِيَعْبُدُونِ

Und Ich habe ğinn und Menschen nur erschaffen, um Mir zu dienen.[51:56]

Daher basieren unsere Ziele, unabhängig davon wo wir leben und in welcher Situation wir uns befinden, stets auf dieser Maxime.

Der „Gottesdienst“ im Islam beschränkt sich bekanntlich nicht auf das Gebet, das Fasten und einige Rituale. Vielmehr bedeutet Gottesdienst, das gesamte Leben nach den Geboten und Verboten Allahs auszurichten, das Gute zu gebieten und das Schlechte anzuprangern, das Lieben und Hassen um Allahs willen, die Umsetzung Seiner Wirtschaftsgesetze, damit der Wohlstand alle Menschen erreicht, das Eintreten für Gerechtigkeit, auch in unseren eigenen Reihen, und erst recht im Hinblick auf die Elite des Landes, in dem wir leben. Auch zählt dazu die Unterstützung der weltweiten Umma, das Einladen der Menschen zur Botschaft des Islam und schließlich das Regieren nach dem, was Allah (s) offenbart hat, um eine vorbildliche Gesellschaft hervorzubringen und eine Welt zu gestalten, in der die Menschen in Würde leben können.

Wenn sich die Muslime auf diese Ziele geeinigt haben, dann können wir eine Diskussion darüber beginnen, welches die legitimen islamischen Mittel sind, um unsere Ziele zu erreichen. Danach kann es eine weitere Diskussion über das Für und Wider geben, um die unterschiedlichen Ansätze im Rahmen dieser legitimen Mittel zu erörtern.

Wenn wir uns jedoch nicht auf die genannten Ziele einigen können und uns stattdessen eher auf begrenzte und defensive Positionen konzentrieren – oder auf  nicht klar definierte Ziele – dann sind sekundäre taktische Diskussionen sicherlich verfrüht.

Wie können Muslime diese Ziele nun erreichen?

Wenn wir uns gemeinsam auf die genannten Ziele festlegen, müssen wir zunächst prüfen, wo und wie wir mit der Arbeit zur Erreichung dieser Ziele beginnen können und ob ein politisches Engagement dafür erforderlich ist oder nicht.

Man kann diese Ziele nur aus einer Position heraus erreichen, die auf den islamischen Prinzipien beruht. Dabei muss man selbständig und frei von den Zwängen und dem Einfluss des Staates bzw. der politischen Elite sein.

Um das Ziel zu erreichen, Allah (t) umfassend zu dienen, muss zunächst die ʿaqīda des Islam innerhalb der Gemeinschaft aufgebaut werden. Dazu muss eine Gemeinschaft auf einer Reihe von Ideen und Prinzipien errichtet werden. Gemeinschaftseinrichtungen wie Moscheen, Koranschulen, Unternehmen usw. müssten alle dazu beitragen, diese islamische Gemeinschaft aufzubauen.

Der Aufbau von derartigen Institutionen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in Europa wurde nicht durch politisches Engagement, sondern durch Eigeninitiativen und Eigenfinanzierung erreicht. Diese Eigenständigkeit war die einzige Möglichkeit, die eigene Unabhängigkeit vom Einfluss der politischen Elite zu wahren.

Das Ziel, als muslimische Gemeinschaft das Gute zu gebieten und das Schlechte zu verbieten, kann nicht dadurch erreicht werden, dass man sich politischen Parteien anschließt, die eine grundlegend verworrene Auffassung davon haben, was „gut und schlecht“ ist. Vor allem gelingt dies dann nicht, wenn man in den wichtigsten Fragen die „Parteilinie“ befolgen muss, um innerhalb dieser politischen Strukturen Einfluss nehmen zu können.

Das Ziel, irgendwo in der muslimischen Welt eine wahrhaft gerechte islamische Gesellschaft und einen islamischen Staat zu errichten, kann nicht erreicht werden, indem man Teil eines westlichen Systems wird, das die Länder der Muslime überfallen, geteilt, kolonisiert und unterjocht hat.

Die Auseinandersetzung des Propheten (s) mit der „Elite“

Wie bereits dargelegt, kann die Debatte rational darüber geführt werden, ob wir uns für das prinzipientreue islamische oder das pragmatische Vorgehen entscheiden sollen, das eine Partizipation am System bejaht. Ferner lässt sich rational darüber streiten, ob unsere Ziele kompromisslos verfolgt werden oder Zugeständnisse möglich sein sollten.

Ein Blick auf das vorbildliche Leben des Gesandten Allahs (s) lässt jedoch keinen Zweifel an der prinzipienfesten und kompromisslosen Haltung aufkommen, die er gegenüber der Elite seiner Zeit, den Stammesfürsten der Quraisch, einnahm.

Das Establishment war sehr beunruhigt darüber, dass der islamische Aufruf die gesellschaftliche Ordnung Mekkas durcheinanderbringen könnte. Seine Angst ging so weit, dass seine Vertreter den Propheten (s) direkt oder indirekt mehrfach um einen Kompromiss baten.

Angesichts dessen boten sie dem Gesandten (s) Zugeständnisse an, die viele Menschen heute begrüßen würden: so sollte die Gesellschaft Mekkas beide Religionen praktizieren – ein Jahr den Islam und das andere den Polytheismus. Es sollten gegenseitige Zugeständnisse geben und eine friedliche Koexistenz; dem Gesandten wurden Reichtum und Status angeboten und ein Ende der muslimischen Verfolgung – all das, damit der Prophet seinen Aufruf aufgibt.

Die Antwort des Propheten (s) war jedes Mal eine kompromisslose Ablehnung dieser Angebote.

In einem Fall erfolgte die Antwort durch die Offenbarung der Sure Al-Kafirun. Diese Sure weist den Vorschlag zur gemeinsamen Anbetung klar zurück und endet mit den Worten:

﴿لَكُمْ دِينُكُمْ وَلِيَ دِينِ

Ihr habt eure Glaubensordnung und ich habe meine.“[109:6]

Bei einer anderen Gelegenheit antwortete der Gesandte (s), indem er einen großen Teil der Sure Fussilat rezitierte. Auf diese Weise wurden diejenigen, die mit dem Angebot gekommen waren, kompromisslos gewarnt:

﴿فَإِنْ أَعْرَضُوا فَقُلْ أَنْذَرْتُكُمْ صَاعِقَةً مِثْلَ صَاعِقَةِ عَادٍ وَثَمُودَ

Doch wenn sie sich abkehren, so sprich: „Ich habe euch vor einem Blitzschlag wie dem Blitzschlag der ‚Ad und Ṯamūd gewarnt.“ (41:13)[41:13]

Als sie dem Onkel des Propheten, Abū Ṭālib mit Sanktionen gegen die Sippe der Banū Hāšim drohten und sein Onkel ihn anflehte: „Verschone mich und dich und bürde mir keine Last auf, die ich nicht zu tragen vermag“, antwortete der Gesandte (s): „O mein Onkel! Bei Gott, wenn sie mir die Sonne in meine rechte und den Mond in meine linke Hand gäben, dafür, dass ich diese Sache (die Botschaft des Islam zu verkünden) aufgebe, werde ich nicht davon ablassen, bis Allah sie zum Siege führt oder ich dabei untergehe.“ (Al-Sira Al-Nabawiyya, ibn Kathir)

Ähnlich kompromisslos fiel die Antwort des Propheten (s) aus, als eine Delegation von 25 Anführern ihm den Vorschlag unterbreitete, sie würden sich nicht in seine Religion einmischen, wenn er sich nicht in ihre einmischte. Auf diese Politik der „gegenseitigen Zugeständnisse und friedlichen Koexistenz“ antwortete der Prophet (s) wie folgt: „Soll ich euch etwas zeigen, womit sich Araber und Nichtaraber euch unterwerfen werden.“ Die Fürsten von Mekka fragten sich daraufhin, was ihnen wohl so viel Macht verschaffen würde. Abu Ğahl war sogar bereit, mehr Zugeständnisse zu machen, als sie ursprünglich vorgeschlagen hatten, um mehr darüber zu erfahren. Der Prophet antwortete mit einem einzigen Satz, der ihren Vorschlag vollständig zunichtemachte: „Bezeugt, dass es keinen Gott gibt außer Allah und dass ihr sodann jeder Art von Anbetung entsagt, die ihr für andere Götter als Allah hegt. (Al-Sira Al-Nabawiyya, ibn Kathir)

Das Beispiel des Propheten (s) zeigt, dass er ein höheres Ziel im Auge hatte als nur die kurzfristigen Interessen der Muslime in Mekka. Obwohl niemand mehr um ihr Wohlergehen besorgt gewesen wäre, ließ sich der Prophet (s) durch diese Sorgen nicht von seinem Hauptziel abbringen. Sein Umgang mit dem Establishment seiner Zeit also bestand darin, dass er sie beharrlich und kompromisslos zu seiner Botschaft einlud und sie vor den Konsequenzen warnte, sollten sie ihm nicht folgen.