Konzeptionen Die Zusammenarbeit mit der westlichen/verwestlichten Elite: Ja, nein oder vielleicht? Teil III

Beim folgenden Aufsatz in fünf Teilen handelt es sich um den Inhalt eines Vortrages, den Dr. Abdul Wahid, Vorsitzender des Exekutivausschusses von Hizb ut-Tahrir in Großbritannien, bei der jährlichen Konferenz der islamischen Menschenrechtskommission (Islamic Human Rights Council – IHRC) gehalten hat.
Da er für die Muslime auf dem europäischen Kontinent von ebenso großer Relevanz ist, haben wir uns entschieden, ihn unserer Leserschaft auf Deutsch zur Verfügung zu stellen.
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Existieren keine anderen Gründe, sich mit dem Establishment auseinanderzusetzen?

Manch einer mag kritisieren, dass ich mich damit in die Höhen visionärer Ziele begebe, mit dem Wunsch, das System grundlegend zu ändern, und dabei die Niederungen des realen Lebens außer Acht lasse.

Aber was ist mit den alltäglichen Fragen wie einer Aberkennung der Staatsbürgerschaft oder der Baugenehmigungen für Moscheen? Wie steht es um die Finanzierung von islamischen Schulen oder der Diskriminierung an Schulen bzw. am Arbeitsplatz? Was ist mit der Gefahr, dass der Niqab oder das Halal-Fleisch in einer immer repressiveren Atmosphäre in Europa verboten werden könnten?

Sind diese dringenden und unmittelbaren Angelegenheiten nicht ein Engagement wert, sollte man sich nicht primär dafür einsetzen?

Die Antwort auf diese Frage lautet „Ja“ – allerdings ist es ein eingeschränktes „Ja“. Eingeschränkt deshalb, weil die Beschäftigung mit hunderten kleinen Fragen leicht vom großen Ganzen ablenken könnte. Wenn Muslime Allah (s) aufrichtig anbeten und wahre Diener Allahs werden wollen, indem sie den Islam vollständig annehmen, dann bedeutet dies unweigerlich, dass wir letztlich unter einem System leben müssen, das jene Gesetze und Systeme umsetzt, die uns dies ermöglichen. Wenn dieses System jedoch nicht mehr vorhanden ist, dann liegt die Priorität sicherlich darin, dieses System wiederherzustellen.

Die Antwort lautet jedoch „Ja“, denn bei vielen dieser „realen“ Angelegenheiten handelt es sich um Probleme, deren Lösung vom Islam erlaubt und als legitim definiert wurde.

Ein Engagement kann aus vielen Gründen erfolgen. Die folgenden Bereiche könnten völlig legitim oder sogar obligatorisch sein, wenn einige Grundsätze, die wir später erläutern werden, berücksichtigt werden.

– Engagement zur Einforderung der eigenen Rechte: Beispielsweise können Muslime ihre Rechte bei einer Regierung einfordern. Dazu könnte man das Beispiel der Muslime zählen, die nach Abessinien ausgewandert sind und mit dem Negus gesprochen haben. Auch ein Unrecht – wie Verleumdung, unrechtmäßige Inhaftierung usw. – wiedergutzumachen, könnte in diesen Bereich fallen.

– Engagement durch Konsultation: Beispielsweise können Muslime ihre Meinung oder Ansicht zu einer Angelegenheit äußern, wenn sie darum gebeten werden. Dies kann sowohl aus der Perspektive der Scharia als auch aus der Realität erfolgen.

– Engagement durch Zusammenarbeit an der Basis, um gute Dinge zu tun: Beispielsweise können sich Muslime in ihrer lokalen Gemeinschaft (oder auf Landesebene) für gute Dinge einsetzen. Dazu zählt der Einsatz für eine saubere Nachbarschaft, eine Beteiligung an Nachbarschaftswachen oder an Recyclingprogrammen usw.Der Erhabene sagt:

﴿وَتَعَاوَنُوا عَلَى الْبِرِّ وَالتَّقْوَى ۖ وَلَا تَعَاوَنُوا عَلَى الْإِثْمِ وَالْعُدْوَانِ

Und helft einander in Rechtschaffenheit und Frömmigkeit; doch helft einander nicht in Sünde und Übertretung.“[5:2]

– Engagement durch kritische Haltung: Beispielsweise sollten Muslime eine kritische Stimme gegenüber den Handlungen und der Politik der Regierung bilden. Diese Haltung betrifft sowohl die Politik im Inland als auch auf internationaler Ebene.

﴿كُنْتُمْ خَيْرَ أُمَّةٍ أُخْرِجَتْ لِلنَّاسِ تَأْمُرُونَ بِالْمَعْرُوفِ وَتَنْهَوْنَ عَنِ الْمُنْكَرِ وَتُؤْمِنُونَ بِاللَّهِ

Ihr seid die beste Gemeinschaft, die den Menschen je hervorgebracht wurde. Ihr gebietet das Rechte und verbietet das Verwerfliche und glaubt an Allah.“[3:110]

Das Gute zu gebieten und das Schlechte zu verbieten ist eine Pflicht im Islam. Daher könnte es erforderlich sein, das Establishment direkt mit Argumenten anzusprechen.

– Engagement durch daʿwa, indem man die Menschen dazu einlädt, die Gesellschaft grundlegend zu verändern, so dass sie nicht mehr auf Falschheit und Ungerechtigkeit beruht, sondern auf der Wahrheit und Gerechtigkeit des Islam.

﴿الر ۚ كِتَابٌ أَنْزَلْنَاهُ إِلَيْكَ لِتُخْرِجَ النَّاسَ مِنَ الظُّلُمَاتِ إِلَى النُّورِ بِإِذْنِ رَبِّهِمْ إِلَى صِرَاطِ الْعَزِيزِ الْحَمِيدِ

Alif-Lam-Ra. Dies ist ein Buch, das Wir zu dir hinabgesandt haben, damit du die Menschen mit der Erlaubnis ihres Herrn aus der Finsternis ins Licht führst, auf den Weg des Allmächtigen und Lobenswürdigen.[14:1]

Beispiele für ein derartiges Engagement sind die wiederholten Handlungen des Gesandten Allahs (s), der sich an die Führer verschiedener Stämme (in erster Linie der Quraisch) wandte, damit sie ihn bei der Etablierung des Islam unterstützen. Diese Vorgehensweise war eine Pflicht und mündete schließlich im Zweiten Treueschwur (baiʿa) von al-ʿAqaba. Damals schworen die Anführer der Aus und Ḫazrağ (aus dem späteren Al Madina) dem Propheten (s) die Treue und sicherten ihm ihre Unterstützung zu.

Allerdings gibt es auch Bereiche, wie die folgenden, bei denen man entweder Gefahr läuft, Allah (t) gegenüber ungehorsam zu sein, oder direkt Handlungen begeht, die einen Ungehorsam gegenüber Allah darstellen. Deshalb sollte daran erinnert werden, dass alles, was einen Ungehorsam gegenüber Allah (t) oder auch nur annähernd einen solchen beinhaltet, absolut abzulehnen ist. Der Prophet sagte:

«لا طاعةَ لمخلوقٍ في معصيةِ الخالقِ»

Kein Gehorsam gegenüber einem Geschöpf, wo dem Schöpfer ungehorsam geleistet wird.“[al-Buḫārī und Muslim]

Wenn wir daher über freiwilliges Engagement sprechen, sollte die Sache noch klarer sein.

– Engagement durch Zusammenarbeit auf institutioneller Ebene: Beispielsweise kann es vorkommen, dass sich Muslime (freiwillig oder unfreiwillig) an einer direkten Zusammenarbeit mit der Regierung oder mit Vertretungsorganen, Organisationen und Agenturen der Regierung zur Förderung von Maßnahmen für die muslimische Gemeinschaft beteiligen. Dies könnte aus mehreren Gründen mit Gefahren verbunden sein. Die Finanzierung durch das Establishment ist fast immer an Bedingungen geknüpft – und das bedeutet, unter dem Einfluss des Establishments zu stehen. Außerdem müsste vorausgesetzt werden, dass die Mitglieder des Establishments als ehrliche Partner angesehen werden. Angesichts der Haltung aller großen politischen Parteien gegenüber der muslimischen Gemeinschaft und der meisten führenden Politiker der letzten 20 Jahre wäre es naiv, dies zu erwarten.

– Engagement durch ein Beschäftigungsverhältnis: Beispielsweise gibt es Muslime, die direkt von der Regierung angestellt werden, um für die Regierung zu arbeiten, oder für staatliche Vertretungsorgane, Organisationen und Agenturen tätig zu sein, um deren Politik gegenüber der muslimischen Gemeinschaft durchzuführen. Auf diese Weise wurden häufig Maßnahmen wie die „Präventionsstrategie“ in der Gemeinschaft eingeführt und legitimiert. Sieht man sich diese Strategie jedoch genauer an, kann man leicht erkennen, dass sie sich gegen den Islam und die Muslime richtet. Ein solches Engagement ist daher absolut abzulehnen. Hierbei handelt es sich um nichts Geringeres als darum, einzelne Mitglieder der Gemeinschaft gegen die Gemeinschaft als Ganzes einzusetzen.

– Engagement durch Intervention: Beispielsweise wenn Muslime die Regierung um eine Einmischung in ihre internen Angelegenheiten bitten (z. B. bei Streitigkeiten in Moscheen oder Wohltätigkeitsorganisationen). Eine solche Einmischung kann direkt durch die Regierung oder über staatliche Vertretungsorgane, Organisationen und Agenturen erfolgen. Angesichts der Erfahrungen, die muslimische Schulen, Wohltätigkeitsorganisationen oder Moscheen in den letzten zwei Jahrzehnten gemacht haben, wäre diese Art der Einmischung sehr gefährlich. Dadurch würden die Muslime ihre Kontrolle über diese Einrichtungen praktisch aufgeben.

– Engagement zur Assimilation: Beispielsweise werden Muslime Teil des politischen Establishments, treten politischen Parteien bei und arbeiten für deren Ziele, nehmen am politischen Prozess und seinen Mechanismen teil (werden Ratsmitglieder, Parlamentsabgeordnete, Assistenten, Sekretäre, Berater usw.). Ein derartiges Engagement wäre aus islamrechtlichen Gründen, die im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes erläutert werden, inakzeptabel.

Indem wir die verschiedenen Arten des Engagements klassifiziert haben, können wir die Bedingungen für eine Zusammenarbeit mit dem Establishment erörtern und die Frage mit: „Ja, nein oder vielleicht“ beantworten.

Die Prinzipien des Engagements

Die Scharia gibt uns allgemeine Grundsätze vor, wie wir uns gegenüber Nichtmuslimen verhalten sollen, wenn sie in ihrem eigenen Land leben. Dazu gehören unter anderem:

1. Der Muslim darf aus keiner verwerflichen Sache Nutzen ziehen, mit ihr zusammenwirken oder zu ihr aufrufen.

2. Der Muslim darf keinen Schaden (ḍarar) verursachen.

3. Der Muslim darf keine Ursache für Unrecht (ẓulm) sein.

4. Der Muslim darf dem Geschöpf nicht mehr gehorchen als dem Schöpfer.

5. Der Muslim darf nicht nach einem Anspruch (ḥaqq) streben, den ihm die Scharia nicht gewährt hat.

6. Der Muslim darf seine Loyalität (walāʾ) gegenüber den Muslimen und dem Islam nicht aufgeben.

7. Der Muslim darf sich nicht von der globalen Umma abkoppeln.

8. Der Muslim darf dem Nutzen (manfaʿa) für die Gemeinschaft keine Verderbnis (mafsada) vorziehen.

9. Der Muslim darf keine islamische Verpflichtung aufgeben, um vermeintlich unmittelbarere lokale Ziele zu verwirklichen.

Jeder dieser Punkte wird durch Offenbarungstexte untermauert, von denen viele in diesem Aufsatz erwähnt werden. Jegliches Engagement muss ausschließlich zu unseren Bedingungen erfolgen (was bis heute praktisch nie der Fall war). Wie wir bereits dargelegt haben, dürfen keine Kompromisse in Bezug auf unsere Überzeugungen und Werte oder die strategische Vision für die muslimische Gemeinschaft im Westen eingegangen werden. Es besteht allerdings das Problem, dass wir uns bezüglich dieses strategischen Zieles nicht immer einig sind. Wir müssen aus der miserablen Bilanz früherer Strategien lernen, wie beispielsweise in Fragen des „Extremismus“ und der „Radikalisierung“. Wir sollten vorsichtig sein, wenn es darum geht, Unterstützung für unsere Sache zu suchen, wenn dadurch unsere eigenen Werte und Prinzipien gefährdet werden könnten. Dies geschieht beispielsweise, wenn andere eine strategische Agenda verfolgen, die der unseren entgegengesetzt ist. Daher müssen wir unser eigenes Narrativ entwerfen, und Bündnisse nur mit jenen Menschen eingehen, die dieses Narrativ und unsere Bedingungen akzeptieren.