Die Gefahren des Einstiegs in das System
Diese Gefahren sind zu zahlreich, um sie alle in diesem Aufsatz zu erwähnen.
Die größten Gefahren bestehen im Risiko, die eigenen islamischen Prinzipien zu kompromittieren. Dadurch läuft man Gefahr, sowohl im Jenseits bestraft zu werden als auch die Unterstützung Allahs in beiden Welten zu verlieren. Im folgenden Koranvers wird vor dieser Gefahr gewarnt:
﴿وَلَا تَرْكَنُوا إِلَى الَّذِينَ ظَلَمُوا فَتَمَسَّكُمُ النَّارُ وَمَا لَكُمْ مِنْ دُونِ اللَّهِ مِنْ أَوْلِيَاءَ ثُمَّ لَا تُنْصَرُونَ﴾
Und neigt euch nicht den Ungerechten zu, damit euch das Feuer nicht erfasse. Und ihr werdet keine Beschützer außer Allah haben, noch wird euch dann geholfen werden.[11:113]
Wohin das Auge reicht findet man säkulare Parteien, staatliche oder sogar supranationale Gremien, die auf Prinzipien aufgebaut sind, die dem Islam widersprechen: sie basieren allesamt auf der Trennung von Religion und Staat. Weltweit herrscht ein zinsbasiertes Finanzsystem, die Politik wird vom Großkapital bestimmt und korrumpiert, während das nationalstaatliche System, die Spaltung der muslimischen Welt erzwingt. Sich derartigen politischen Strukturen anzuschließen, würde weit über eine Neigung zu ihnen hinausgehen!
Es sollte offensichtlich sein, dass es nahezu unmöglich ist, etwas Substanzielles oder Bedeutendes zu erreichen, wenn man in ein System einsteigt, das auf etwas völlig anderes als die eigenen Ziele und Vorstellungen ausgerichtet ist.
Das „verwestlichte Establishment“ ist eine politische Struktur, die darauf ausgerichtet ist, das säkulare, kapitalistische, demokratische System zu erhalten. Daher muss sich jeder, der in dieses System einsteigt, anpassen. Das System ist so aufgebaut, dass man die Regeln befolgen muss, anstatt sie grundlegend zu ändern.
Das Beispiel vieler muslimischer Politiker ist ein trauriger Beweis dafür. Sie steigen in das System ein und vollführen sozusagen einen „politischen Striptease“. Dabei sind sie ursprünglich angetreten, um gerechtfertigte und vielleicht sogar ehrenhafte Ziele zu verfolgen. Damit sie ihre Ziele erreichen können, müssen sie jedoch nach und nach ihre islamischen Grundsätze aufgeben. Es ist so, als würden sie auf jeder Sprosse ihrer politischen Karriereleiter ein Kleidungsstück ablegen. Diese Taktik wird als „quid pro quo“ – dies für das – angesehen, aber in Wirklichkeit wurde sie im Koran viel vortrefflicher beschrieben:
﴿وَدُّوا لَوْ تُدْهِنُ فَيُدْهِنُونَ﴾
Sie wünschten, dass du nachgibst, um selbst nachzugeben.[68:9]
Mit der Zeit passiert eines von drei Dingen:
(1) Einige erkennen die Kompromisse, die sie eingehen müssen, und geben diesen Weg auf.
(2) Einige versuchen vielleicht, an ihren Prinzipien festzuhalten, werden dann aber von einem System ausgestoßen, das durch zahlreiche Kontrollinstanzen und -mechanismen sicherstellt, dass es innerhalb seiner ursprünglichen Parameter bestehen bleibt. Das beste Beispiel dafür war vielleicht der Aufstieg und Fall von Jeremy Corbyn. Als politischer Außenseiter wurde Corbyn zum Oppositionsführer katapultiert. Ihm wurden viele Hindernisse in den Weg gelegt, so dass er keine Reformen der britischen Politik durchführen konnte. Schließlich musste er feststellen, dass seine eigene Partei eine der Kontrollinstanzen des Systems war, als sie sich gegen ihn wandte.
(3) Einige sind aber auch dazu bereit, „aufs Ganze zu gehen“, indem sie auf ihrem Weg nach oben ihre Prinzipien ablegen. Mit jedem Schritt auf der Karriereleiter entledigen sie sich nach und nach ihrer Werte. Und haben sie es schließlich nach oben geschafft, haben sie die liberalen Werte (LGBT+ und alles andere) vollständig übernommen und die zionistische Besetzung Palästinas akzeptiert. Am Ende dieser Reise kann sich der Politiker nicht einmal mehr an die Person erinnern, die er zu Beginn seiner politischen Reise war. Dennoch kommt es gelegentlich vor, dass mancher Politiker einige seiner Prinzipien wiederfindet, wenn er die Karriereleiter hinabsteigt.
Es gibt eine weitere Gefahr, die manche muslimische Aktivisten betrifft und die erwähnenswert ist. Man könnte dieses Phänomen als „politische Verzweiflung“ bezeichnen. Einige Personen versuchen so verzweifelt, mit dem Establishment in Kontakt zu treten und von ihm anerkannt zu werden, dass ihr eigener Mangel an Selbstwert allzu offensichtlich wird. In Verhandlungssituationen nehmen sie die Position eines Bittstellers ein, anstatt wie ein Mensch aufzutreten, der aus einer Position der Stärke heraus spricht. Politisch gleichen sie „misshandelten Ehefrauen“ – leider dazu bestimmt, immer wieder gedemütigt zu werden.
Was sagen andere dazu?
Einige argumentieren, dass Muslime aus theologischer Sicht am System teilnehmen könnten oder sollten – was wir bereits zuvor als „Engagement zur Assimilation“ bezeichnet haben.
Heute kann man häufig von Muslimen hören, dass es gewiss verboten ist, Gesetze zu erlassen, die dem Islam widersprechen. Dieses geht auch unmissverständlich aus den Aussagen Allahs in Sure al-Māʾida hervor, wo es heißt:
﴿وَمَنْ لَمْ يَحْكُمْ بِمَا أَنْزَلَ اللَّهُ فَأُولَئِكَ هُمُ الْكَافِرُونَ … وَمَن لَّمْ يَحْكُم بِمَا أَنزَلَ اللَّهُ فَأُولَـٰئِكَ هُمُ الظَّالِمُونَ … وَمَن لَّمْ يَحْكُم بِمَا أَنزَلَ اللَّهُ فَأُولَـٰئِكَ هُمُ الْفَاسِقُونَ﴾
Und wer nicht nach dem richtet, was Allah herabgesandt hat, so sind das die Ungläubigen […]. Und wer nicht nach dem richtet, was Allah herabgesandt hat, so sind das die Ungerechten […]. Und wer nicht nach dem richtet, was Allah herabgesandt hat, das sind das die Frevler.[5:44-47]
Allerdings kann man auch sehr häufig hören, dass dieses Land bzw. diese Welt momentan nach solchen Regeln funktionieren würde – weshalb sich die Muslime auf diese Bedingungen einlassen müssten. Es wird damit argumentiert, dass Muslime bei einer nationalen Wahl für das geringste Übel stimmen sollten.
Für mich klingt dieses Argument in etwa so fadenscheinig, als würde man behaupten, die frühe muslimische Gemeinschaft hätte etwas Gutes getan, wenn sie für ʿUtba ibn Rabīʿa und nicht für Abū Ğahl gestimmt hätte. Zwar ist ʿUtba ibn Rabīʿa (einer der Fürsten von Mekka, der den Vorschlag machte, einen Kompromiss mit dem Propheten (s) anzustreben) weniger hart gegen den Propheten vorgegangen als Abū Ğahl (einer der Hauptverfolger des Propheten und seiner Gefährten), dennoch wäre er keineswegs eine gute Wahl gewesen.
In den Vereinigten Staaten ließen sich viele Muslime dazu hinreißen, George W. Bush zu unterstützen, um zu verhindern, dass Al Gore das Rennen macht. Vor allem in Al Gores Vizepräsidentschaftskandidaten, Joe Lieberman, sahen sie einen überzeugten Zionisten. Außerdem vertrat der Demokrat Al Gore extrem liberale Werte, während die Republikaner für familiäre Werte standen. Kann man nun ernsthaft behaupten, dass George Bushs Angriffskriege gegen Afghanistan und den Irak mit über 1,5 Millionen toten Muslimen das geringere Übel waren?! Enttäuscht über diese Zerstörung, die von der Bush-Regierung in der islamischen Welt angerichtet worden war, ließen sich dieselben Muslime dazu hinreißen, bei einer späteren Wahl Barack Obama zu unterstützen. Und kann man denn auch hier ernsthaft behaupten, dass die Drohnenmorde von Präsident Obama das geringere Übel waren?
Die Behauptung, dass wir das geringere Übel, d. h. die am wenigsten schlechte Option wählen müssten, ist ein Trugschluss. Sie sieht im „Wählen“ bei einer nationalen Wahl die bloße Meinungsäußerung darüber, welcher Kandidat am wenigsten schlecht sein könnte. Geblendet vom jeweiligen Spitzenkandidaten wird völlig außer Acht gelassen, auf welcher philosophischen Grundlage die Parteilinie basiert oder welche Politik von der jeweiligen Partei betrieben wird.
Dabei wird übersehen, wie wichtig die Frage ist, wofür man eigentlich seine Stimme abgibt. Wenn wir beispielsweise bei einer nationalen Wahl in einem europäischen Land abstimmen, ernennen wir in Wirklichkeit jemanden, der die Aufgabe hat, in unserem Namen Gesetze zu erlassen. Dadurch bestimmen wir einen wakīl, einen Vertreter, der in unserem Namen handeln darf.
Die Gesetze der Vertretung im Islam (wakāla) sind ziemlich klar. Man darf jemanden ernennen, der einen in jenen Angelegenheiten vertritt, die vom Islam erlaubt wurden. Eine Vertretung in der „Gesetzgebung“ ist im Islam nicht zulässig.
﴿اتَّخَذُوا أَحْبَارَهُمْ وَرُهْبَانَهُمْ أَرْبَابًا مِنْ دُونِ اللَّهِ﴾
„Sie haben sich ihre Rabbiner und Mönche zu Göttern anstelle Allahs genommen …“[9:31]
Dieser Koranvers tadelt frühere Völker für eben dieses Verhalten. Bei der Erläuterung dieses Verses erklärte der Prophet (s), dass die besagten Priester verboten, was Allah erlaubt hatte, und erlaubten, was Allah verboten hatte. Indem die Menschen ihnen dennoch folgten, nahmen sie ihre Rabbiner und Mönche tatsächlich zu Göttern anstelle Allahs.
Eine Position, die Wahlbeteiligung propagiert, setzt zudem voraus, dass das System tatsächlich einen echten Wandel ermöglichen würde. In Wahrheit haben wir es jedoch mit einem politischen System zu tun, das die Energie der Menschen nur darauf lenkt, ihre Stimme alle fünf Jahre abzugeben. Auf diese Weise wird die Mitsprache der Bürger eingeschränkt, wodurch wesentliche Veränderungen von vornherein verhindert werden.
Da es keine Wahlpflicht gibt, sind viele Menschen mittlerweile der Meinung, dass das Nichtwählen an sich schon ein politisches Statement ist und nicht nur ein Symptom von Apathie.
Zudem manifestiert der Verzicht darauf, eine islamrechtlich problematische Handlung zu vollziehen, das islamische Prinzip von „Verbundenheit und Lossagung“ (al-walāʾ wa l-barāʾ), d. h., die Verbundenheit mit Allah (t) und Seinem Gesandten und die Lossagung vom Unglauben und von all seinen Formen und Anhängern. Ein leuchtendes Beispiel dafür war der Prophet Ibrahim (a), als er sich von der Anbetung der Sonne, des Mondes, der Sterne und der Götzen lossagte und sprach:]
﴿يَاقَوْمِ إِنِّي بَرِيءٌ مِمَّا تُشْرِكُونَ﴾
O mein Volk, ich sage mich los von dem, was ihr (Ihm) beigesellt.[6:78]
Es gibt auch jene, die andere Argumente für eine Beteiligung am System vorbringen.
Sie argumentieren, dass sich der Prophet Yusuf (s) an der Regierung im Alten Ägypten beteiligt hätte. Auch wird vorgebracht, dass die Konsultation (Schura) ein islamisches Konzept sei und da demokratische Institutionen beratend vorgehen, wäre ein demokratisches System von seinem Prinzip her islamisch.
Diese Ansichten sind aus vielen Gründen fehlerhaft, und zwar sowohl aus islamrechtlicher als auch aus praktischer Sicht.
Was das Argument bezüglich Yusuf (a) angeht, so ist erstens dazu zu sagen, dass in den islamischen Texten nichts darauf hindeutet, dass Yusuf (s) im Widerspruch zu den offenbarten Gesetzen Allahs regiert hätte. Zweitens ist bekannt, dass die Scharia der früheren Propheten (s) nicht als Scharia für die heutigen Muslime gilt.
Was das Argument bezüglich der „Schura“ angeht, so wird dabei die Konsultation mit den eigentlichen Aufgaben einer Legislative, nämlich der Gesetzgebung, verwechselt. Beratung und Gesetzgebung sind zwei verschiedene Dinge. Erstere kann nach den islamischen Kriterien erlaubt sein, während Letztere durch viele āyāt, einschließlich der zuvor genannten, verboten ist, solange die Gesetzgebung nicht auf der Offenbarung basiert.
Wir haben bereits das Beispiel der Auswanderung nach Abessinien angeführt, um zu illustrieren, wie eine legitime Auseinandersetzung mit dem Establishment erfolgen kann. Aber selbst dieses edle Beispiel wird auf eine irreführende Weise missbraucht. So wird der Negus als „König, der kein Unrecht duldet“, mit gegenwärtigen Staatsoberhäuptern gleichgesetzt, die ein Zweiklassen-Rechtssystem gegen ihre muslimische Bevölkerung eingeführt haben. So werden durch die europäische Präventionspolitik politische und religiöse Äußerungen kriminalisiert, während man gleichzeitig erwägt, die eigenen Normen der Staatsbürgerschaft zu verletzen, indem man sie einigen Bürgern willkürlich entzieht. Den Negus von Abessinien mit den gegenwärtigen Politikern im Westen gleichzusetzen, hieße, sich etwas vorzumachen. Schließlich sei noch ausdrücklich zu erwähnen, dass das Argument, der Zweck heilige die Mittel, kein islamisches Prinzip ist. Ein solches Argument würde die Täuschung oder Androhung von Gewalt bzw. die tatsächliche Anwendung von Gewalt zulassen, um politische Interessen zu erreichen. Eine solche Vorgehensweise ist selbstverständlich verboten – mögen die politischen Ziele noch so edel sein.