In welcher Weise könnte man meinen Standpunkt kritisieren?
Die offensichtliche Befürchtung ist, dass mein Standpunkt als „separatistischer“ Ansatz verleumdet werden könnte, der die muslimische Gemeinschaft isolieren und dem Diktat des Staates unterwerfen würde, während ihr jegliches Mitspracherecht genommen wird.
Ich glaube, dass diese Annahme eine offensichtliche Tatsache ignoriert, nämlich die, dass das demokratische System in kapitalistischen Staaten die meisten Bürger ohne ein wesentliches Mitspracherecht belässt. Bei dem System handelt es sich um eine Regierung des Volkes, die allerdings durch die Eliten ausgeübt wird, die Interessen der Konzerne vertritt und somit nur den Reichen dient.
Für ein solches System besteht die größte Gefahr darin, dass Teile der Bevölkerung diese Realität erkennen könnten und sich dann weigern, dieses Spiel weiter mitzuspielen.
Die Schaffung einer selbständigen Einheit in der Gesellschaft, die durch ihre Überzeugungen und Werte gestärkt wird, ist eine der wenigen Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Das Resultat wäre eine muslimische Oase und kein Ghetto.
Malcolm X und Dr. Martin Luther King repräsentieren vermeintlich zwei unterschiedliche Ansätze – während der eine radikaler und scheinbar „separatistisch“ vorging, suchte der andere einen gemäßigteren Weg in das System. Trotz ihrer Unterschiede verfolgten sie ein gemeinsames Ziel. Beide wollten das existierende Apartheidsystem beenden, welches fast ein Jahrhundert nach der formellen Abschaffung der Sklaverei nach wie vor in den USA fortbestand.
Die eine Bewegung vertrat die Ansicht, dass es für Afroamerikaner besser sei, sich aus einer geeinten, selbstbewussten Position der Stärke heraus zu engagieren, während die andere Bewegung argumentierte, dass das Wahlrecht ihnen eine Stimme im System verleihen würde. Sie meinen, dass Dr. Kings Ansatz erfolgreich gewesen sei und schließlich dazu führte, dass Barack Obama zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde. Nach Ansicht vieler hat jedoch dieser vermeintliche Erfolg der Afroamerikaner in den USA das System an sich nicht verändert. Stattdessen hätte dieser Ansatz lediglich dazu geführt, dass nun auch die Farbigen die Möglichkeit haben, sich in demselben fehlerhaften System zu engagieren.
Die Strategie von Malcolm X führte nicht zu dem angestrebten Ergebnis. Man könnte jedoch argumentieren, dass sie auf der Würde bestand und ein realistisches Verständnis des Systems vermittelte. Daher stellte diese Strategie eine weitaus größere Bedrohung für das System dar. Unter dem Gesichtspunkt der politischen Strategie deutet alles darauf hin, dass Eigenständigkeit und Unabhängigkeit tatsächlich bessere Mittel sind, um sich außerhalb des Systems Gehör zu verschaffen.
In Großbritannien lässt sich ein ähnliches Muster erkennen, sei es bezüglich der Rassenfrage, der Umwelt, der Frauen oder Arbeitnehmerrechte. Auch hier besteht der eine Ansatz darin, in das System einzutreten und den Versuch zu unternehmen, es von innen her zu verändern. Der andere Ansatz basiert auf der Ansicht, dass das System bestimmte strukturelle Faktoren aufweist, die einen echten Wandel verhindern. Diese Faktoren würden Aktivisten zu Kompromissen verführen, wodurch sie sich letztlich selbst verändern. In weiterer Folge würden ihre Ansichten auseinandergehen und ihre Bemühungen wären verstreut. Die Aktivisten würden dennoch in der Hoffnung agieren, dass ihre Tätigkeiten einen gewissen Wandel bewirken werde.
Zweifellos sind die Erfahrungen dieser verschiedenen Bewegungen sehr interessant und durchaus geeignet, daraus Lehren in politischer Strategie zu ziehen. Darüber hinaus eigenen sie sich hervorragend dazu, ein zeitgenössisches Beispiel abzubilden, das die Menschen leichter wahrnehmen können. Wir sollten uns allerdings darüber im Klaren sein, dass wir für unser politisches Handeln nur auf das beste Beispiel zurückgreifen dürfen – nämlich auf das Beispiel des Gesandten Allahs (s).
So trat er nicht in das politische System von Mekka ein, obwohl er dazu eingeladen wurde und aufgrund seiner adligen Abstammung einen Anspruch darauf hatte. Wie bereits erwähnt, lehnte der Gesandte Allahs (s) Kompromisslösungen vehement ab. Er war auch nicht dazu bereit, Koalitionen mit den Fürsten einzugehen, um die Macht mit ihnen zu teilen oder auf einen einzigen Satz seiner Botschaft zu verzichten.
All dies zeigt, dass der Ansatz des Propheten radikal und kompromisslos war und er das System nicht für kurzfristige Ziele nutzte.
Vielmehr fokussierte der Prophet (s) all seine Anstrengungen auf seine Mission und arbeitete darauf hin, eine umfassende Alternative zum bestehenden System jener Zeit anzubieten. Daher beteiligte er sich auch nicht an einem System, in dem die Mittellosen und Schwachen von den Reichen und Mächtigen ausgebeutet wurden, in dem Frauen rechtlos waren und Töchter als minderwertig angesehen und nach ihrer Geburt getötet wurden. Einem System, das den Reichtum in den Händen weniger konzentrierte, in dem die Märkte von Korruption beherrscht wurden und das zuließ, dass die Welt von Großmächten dominiert und für deren eigene Zwecke unterjocht wurde und in dem es zur Norm geworden war, dass andere Götter anstelle Allahs angebetet wurden. Es war eine Ära, die wir als ğāhilīya (Zeit der Unwissenheit und des Heidentums) bezeichnen – mit einem politischen System, das bemerkenswerte Ähnlichkeiten zu dem heutigen aufweist.
Das Problem der muslimischen Welt
Wie wir wissen, wurde das System des Propheten (s) nicht in Mekka eingeführt, sondern in Medina. Erst nachdem der Prophet die hiğra (Auswanderung) nach Medina vollzog und dort von den mächtigsten Stämmen der Gesellschaft unterstützt wurde, konnte er sein System umsetzen und als Staatsoberhaupt auftreten. Dieser Stadtstaat wurde zur Oase für diese Alternative, die sich allmählich in der gesamten Region ausbreitete.
Ich glaube nicht, dass viele Muslime ernsthaft davon überzeugt sind, dass das Establishment in Großbritannien, Deutschland oder den USA den Islam so begrüßen würde, wie es die anṣār in Medina taten. Diese Alternative zum heutigen System wird wahrscheinlich in einem Teil der Welt ihren Anfang nehmen, wo die Menschen diese Veränderung begrüßen würden. Sie wird wohl zuerst in jenem Gebiet umgesetzt werden, wo die Mehrheit der Menschen diese Werte annimmt. Damit sind jene Länder gemeint, die aufgrund ihrer historischen Erfahrung eine solche Veränderung nicht als etwas Fremdes empfinden und wo künstlich auferlegte Grenzen inzwischen deutlich schwächer wirken als noch im vergangenen Jahrhundert.
Die Politik in der muslimischen Welt sollte sich nicht darum drehen, die heutige ğāhilīya aufrechtzuerhalten. Stattdessen sollte sich die muslimische Politik darauf fokussieren, diese ğāhilīya in Frage zu stellen und für einen radikalen Wandel zu arbeiten, bis die machtvollen Personen in einem Land diese Alternative akzeptieren. Wir sollten uns ein Beispiel am Prophet nehmen und uns dafür einsetzen, dass die Botschaft des Islam deutlich präsentiert wird.
﴿هُوَ الَّذِي أَرْسَلَ رَسُولَهُ بِالْهُدَى وَدِينِ الْحَقِّ لِيُظْهِرَهُ عَلَى الدِّينِ كُلِّهِ ۚ وَكَفَى بِاللَّهِ شَهِيدًا﴾
Er ist es, Der Seinen Gesandten mit der Rechtleitung und der wahren Glaubensordnung entsandt hat, auf dass Er sie über jede andere Glaubensordnung obsiegen lasse. Und Allah ist als Zeuge genug.[48:28]
Fazit
Es ist traurig zu sehen, dass unter den muslimischen Führern und Aktivisten heute die Meinung vorzuherrschen scheint, dass man sich mit dem Establishment arrangieren sollte. Leider denkt ein Großteil von ihnen, dass sich unsere Gemeinschaft in einer schwachen Position befindet, und wir daher theologische Argumente finden müssen, um unser Engagement zu rechtfertigen. Viel zu oft hört man das Scheinargument, dass die Welt so ist, wie sie ist, und dass uns das vielleicht nicht gefällt, wir es aber akzeptieren müssen.
Leider gehen oft die Argumente, die man gegen diese These vorbringt, nicht ausreichend in die Tiefe, um deren sprachliche und islamrechtliche Irrtümer aufzuzeigen und entsprechend zu belegen, warum der Islam uns nicht erlaubt, an den politischen Systemen des Westens teilzunehmen.
Ich habe versucht darzulegen, dass unsere theologische Haltung den Sinn unseres irdischen Daseins berücksichtigen und von den edlen Zielen ausgehen sollte, die der Islam uns vorgibt.
Auf der Grundlage dieser Ziele sollten wir versuchen, uns ausschließlich innerhalb dieser islamischen Parameter zu engagieren. Das wäre eine sehr positive Vision.
Ich glaube, dass dies nur dann möglich ist, wenn Muslime aufrichtig versuchen, ihre Gemeinschaft auf der Grundlage islamischer Überzeugungen und Werte aufzubauen. Dabei müssen wir unabhängig von Staat und Establishment handeln, damit wir nicht der politischen Einmischung unterliegen. Sodann werden wir in der Lage sein, uns aus einer Position der Stärke heraus zu engagieren. Sei es, um die Ziele des Islam zu fördern oder um legitime Rechte und Interessen für unsere Gemeinschaft zu verwirklichen.
Diese Strategie kann nicht losgelöst von den Geschehnissen in der muslimischen Welt betrachtet werden, da unsere Länder immer noch unter den Folgen der Kolonialisierung leiden und mit ihren eigenen politischen Herausforderungen zu kämpfen haben. Auch in der muslimischen Welt besteht die Herausforderung darin, die Verpflichtungen und Ziele, die uns der Islam auferlegt, anzunehmen. Dabei gilt es, den Islam als umfassende Lebensweise wiederaufzunehmen und die muslimischen Regionen, die bereits zu lange voneinander getrennt sind, wieder zu vereinen.
Wenn man sieht, welche Entwicklung die Situation der Muslime in Europa genommen hat; wie unter dem Deckmantel der Extremismusbekämpfung gegen Moscheen und praktizierende Muslime vorgegangen wird; wie gegen den Islam gehetzt wird und man Muslimen willkürlich die Staatsbürgerschaft entzieht, könnte man meinen, dass es für sie nur eine einzige Rettung gibt. Nur wenn es einen Ort auf der Welt gibt, an dem die Gerechtigkeit des Islam umfassend umgesetzt wird, können die Muslime ein würdevolles Leben führen. Daher kann die Arbeit für einen Wandel in der muslimischen Welt nicht von der Arbeit für die Zukunft der Muslime im Westen losgelöst werden. Im Mittelpunkt dieser Diskussion steht die Frage: Wer wollen wir sein? Steve Biko sagte einmal: „Ich werde so sein, wie ich bin, und ihr könnt mich schlagen, ins Gefängnis stecken oder sogar töten, aber ich werde nicht so sein, wie ihr mich haben wollt“.
Wollen wir das, was wir an uns selbst schätzen, bewahren, pflegen, umsetzen und weitertragen?
Indem wir uns auf ein politisches System einlassen, das auf Werten beruht, die unseren Werten grundlegend widersprechen, geben wir Schritt für Schritt und Stück für Stück auf, wer wir sind und was wir schätzen – ganz gleich, wie geschickt wir uns vom Gegenteil überzeugen mögen.
Auf der anderen Seite haben wir die Chance, eine bessere Alternative aufzubauen. Wir haben das Privileg, ein System errichten zu können, das gemäß dem Buch Allahs und der Sunna des Gesandten (s) funktioniert. Dabei können wir im Einklang mit unseren Prinzipien handeln und uns zu unseren eigenen Bedingungen engagieren, sei es als Gemeinschaft, in der wir leben, oder als eigener Staat auf Weltniveau.
Auf diesem Weg werden wir gewiss auf Kritik stoßen. Man wird uns als „extremistisch“ und „separatistisch“ abstempeln und vieles andere mehr. Trotz allem müssen wir standhaft bleiben und dürfen uns nicht von Vorwürfen abschrecken lassen!
Und unsere letzten Worte sind, dass alles Lob Allah, dem Herrn der Welten, gebührt.
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Dr. Abdul Wahid ist Vorsitzender des britischen Exekutivausschusses von Hizb ut-Tahrir in Großbritannien. Er hat auf den Websites von Foreign Affairs, Open Democracy, Times Higher Educational Supplement, Prospect Magazine, 5 Pillars und Islam21c Artikel veröffentlicht. Er kommentiert Themen im Zusammenhang mit dem Islam und den Muslimen im Vereinigten Königreich und in der ganzen Welt. Sie können ihm auf Twitter folgen, @AbdulWahidHT oder auf Facebook, @AbdulWahid.HT. Hizb ut-Tahrir ist eine global agierende politische Partei, deren Ideologie der Islam ist. Unser Ziel ist es, den Islam umzusetzen und seine Botschaft durch die Wiedererrichtung des Kalifats an die Menschheit heranzutragen.