Ausland Zurück in die Zukunft

Als der russische Präsident Wladimir Putin seine Drohungen am 24. Februar 2022 wahr machte und Truppen in Bewegung setzte, fiel es nicht nur westlichen Politikern wie Schuppen von den Augen: Die europäische Friedensordnung und das ihr zugrundeliegende Völkerrecht entpuppten sich als liberale Luftschlösser, deren Fassade eine historische Konstante verbirgt, die nie wirklich verschwunden war.

Die Gründungsväter der Europäischen Union würden sich sprichwörtlich im Grabe umdrehen, wenn sie wüssten, dass sich Teile der europäischen Bevölkerung die Abschaffung der EU wünschen. Die Ablehnung geht dabei weit über das Echauffieren über genormte Gurken hinaus. Unlängst wird das Konstrukt der EU als Ganzes infrage gestellt, was indes dazu führt, dass Politiker die Wichtigkeit der Institution Europa umso deutlicher betonen und immer wieder ins Gedächtnis rufen. So sagte die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahre 2017: „Wir haben oft Grund, nicht zufrieden mit Europa zu sein. Aber wenn wir uns mal umschauen, in welchen Regionen kein Frieden ist, dann sehen wir den Wert von Europa: dass Europa ein Friedensprojekt ist“. Merkel transportiert hier das Narrativ eines Sicherheits- und Friedensgaranten: Dank der EU gab es seit Hitlerdeutschland in Europa keine kriegerischen Auseinandersetzungen mehr und solange die EU existiert, wird es diese auch nicht geben. Die Europäer hätten schließlich aus ihrer Geschichte die notwendigen Lehren gezogen.

Doch die historische und zeitgeschichtliche Realität Europas spiegelt diese Hypothese keineswegs wider. Viel eher zeigt sich, dass der europäische Kontinent schon immer Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen war und immer noch ein potenzieller Konfliktherd ist. Dabei hätte es letztlich auch nicht Putins Einmarsch gebraucht, der laut Herfried Münkler zur Folge hatte, dass „die Europäische Friedensordnung zertrümmert wurde“. Denn die Zertrümmerung der europäischen Friedensordnung war lediglich eine Frage der Zeit, die durch die Erstarkung des Nationalismus in Europa herbeigeführt wird. Auch ging die Milchmädchenrechnung „Wandel durch Handel“, die als Friedensdividende verkauft wird, nicht auf, sondern sorgte lediglich dafür, dass tiefsitzende Spannungen zwischen den europäischen Nationalstaaten kurzzeitig beiseitegestellt wurden – und das nur so lange, bis nationale Interessen soweit divergieren, dass die kooperativen Strukturen diese nicht mehr einhegen und Konflikte wegmoderieren können.

Dementsprechend zeichnet auch ein Blick in die europäische Geschichte ein überwiegend düsteres Bild. Während die Gründung der EU (und ihrer Vorgängerstrukturen EGKS und EWG) gemeinhin als eine vernunftbasierte Lösung zum endgültigen Beiseitelegen nationalstaatlicher Konflikte gesehen wird, wird völlig außer Acht gelassen, dass solche Versuche bereits hunderte Jahre zuvor gestartet wurden – und letztlich immer gescheitert sind. Prominent ist hier der Westfälische Friede (1648), der als wichtiger Wendepunkt in der europäischen Geschichte gilt, da er den Beginn des modernen Systems von territorial fixierten Nationalstaaten und des Konzepts der staatlichen Souveränität markierte. Der Friedensschluss sollte zudem ein Machtgleichgewicht in Europa schaffen, bei dem die verschiedenen europäischen Staaten versuchen, ein Gleichgewicht der Kräfte untereinander aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, dass ein einzelner Staat zu mächtig wird. Neben der Beendigung des innerchristlichen Religionskrieges legte der Westfälische Friede zudem den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer (europäischer) Staaten fest. Dass bereits binnen weniger Jahre dieser heroische Versuch in die Brüche ging und daraufhin erneut zahlreiche und blutige Kriege ausbrachen, die eine nationale Souveränität nach der nächsten über Bord warfen, zeigt die Fragilität solcher Konstrukte, die in letzter Konsequenz nicht in der Lage sind, staatliche Konflikte dauerhaft einzuhegen. In diesem Sinne half auch der Neuversuch durch den Wiener Kongress im Jahre 1815 nichts – so folgten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der Deutsch-Dänische Krieg, der Preußisch-Österreichische Krieg, der Italienische Unabhängigkeitskrieg sowie der Deutsch-Französische Krieg. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen die Europäer schließlich vor der nächsten Katastrophe, ausgelöst durch die Deutschen: Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 zog sich wie ein Schatten durch die europäische Geschichte und hinterließ eine Spur der Zerstörung nie dagewesenen Ausmaßes. Während sich der US-Präsident Woodrow Wilson zur Endzeit des Ersten Weltkrieges mit seinen berühmten Worten „a war to end all wars“ in Sicherheit wog und selbstbewusst einen 14-Punkte-Plan aufstellte, um nachhaltigen Frieden und die Sicherung der nationalen Souveränitäten herzustellen, war es nur zwei Jahre später der US-Kongress selbst, der verhinderte, dass die Vereinigten Staaten Teil des Völkerbundes wurden. Letzterer konnte auch nicht den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 verhindern, der mit 50 Millionen Toten selbst den „Großen Krieg“ von 1914 bei weitem in den Schatten stellte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Europa zwar eine Zeit des relativen Friedens und der Stabilität. Dies gelang insbesondere durch die aktive Förderung zwischenstaatlicher Dialog- und Abstimmungsprozesse und allen voran durch die wirtschaftliche Verflechtung, die zu wechselseitigen Abhängigkeiten ehemals verfeindeter Nationalstaaten führte. Gleichwohl müssen selbst EU-Verfechter der bitteren Wahrheit ins Auge blicken, dass in Europa und seiner Peripherie immer noch zahlreiche Konflikte herrschen. Diese Tatsache lässt sich auch nicht durch rhetorische Floskeln auflösen, wie die des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan, der die Europäische Union als „eine einzigartige und bemerkenswerte Errungenschaft“ lobpreiste und sie für „ein Modell für andere Regionen der Welt“ betrachtete. Denn bereits 1946 entfachte in Griechenland ein dreijähriger Bürgerkrieg zwischen der Regierung und kommunistischen Rebellen. 1956 sorgte der ungarische Volksaufstand für Unruhen innerhalb der Sowjetunion. Nach dem von der griechischen Militärjunta unterstützten Putsch in Zypern und der darauffolgenden Verfolgung türkischer Bevölkerungsteile, kam es 1974 zur Militärintervention der Türkei und zur Teilung des Inselstaates. Hinzu kommen die Jugoslawienkriege, die in dem Zeitraum von 1991 bis 2001 zum Schauplatz einer Reihe von ethnischen Konflikten, Unabhängigkeitskriegen, Aufständen und Militärinterventionen wurden. Ihren schrecklichen Höhepunkt erreichten sie während des Bosnienkrieges (1992-1995), in dessen Zuge tausende muslimische Bosniaken vor den Augen der UN-Blauhelme Opfer ethnischer Säuberungen wurden. Nur drei Jahre später brach indes der Kosovokrieg (1998-1999) aus, bei dem Deutschland unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer erhebliche logistische Unterstützung für die NATO-Kampagne leistete, einschließlich der Nutzung seiner Luftwaffenstützpunkte für Tank- und Aufklärungsflugzeuge. Letztlich ist hier der Russisch-Georgische Krieg im Jahre 2008 zu erwähnen, gefolgt von der Krimannexion 2014 und schließlich der Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022.

Die Aufzählung der eben erwähnten Konflikte bildet lediglich eine grobe Darstellung und verdeutlicht, dass der Kontinent samt seiner Institutionen und Regelwerke immerwährend Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen war – inklusive Völkerrechtsverletzungen und Grenzverschiebungen. Daher scheint die Behauptung eines seit jeher sicheren, europäischen Kontinents fernab jeglicher Realität. Aber nicht nur die „europäische Sicherheitsordnung“ entpuppt sich auf diese Weise als Luftschloss, auch das Konzept des territorial definierten und souveränen Nationalstaates droht sich im Kontext des Ukraine-Konflikts in Rauch aufzulösen. Das Beispiel der Ukraine aber auch die irakisch-syrische Grenze, die während der Revolution nahezu vollständig ausgelöscht wurde, zeigen, dass durch die Festlegung staatlicher Grenzen und der Erschaffung künstlicher Nationalstaaten kein Zustand erzeugt wird, der bis in alle Ewigkeit Bestand hat. Im Gegenteil lässt sich daraus ablesen, dass die völkerabgrenzenden Linien nur so lange unüberwindbar sind, bis die Gesellschaft und politisch handelnde Akteure diese nicht länger akzeptieren und mit entschlossener Kraft und Willensstärke durchbrechen. Die Historie und die Gegenwart haben der Menschheit dies immer wieder eindrücklich vor Augen geführt. Es entspricht folglich nicht der Realität, dass von Menschenhand erschaffene Staaten und Nationen samt ihrer Grenzen unantastbare Strukturen sind, die nicht erschüttert werden können. Binnen kürzester Zeit – und dies trifft insbesondere auf die fragilen nationalstaatlichen Konstrukte in der islamischen Welt zu – lassen sich nicht nur Grenzen, sondern ganze Staaten umgestalten, auflösen oder völlig neu konstituieren.

Aus dieser Perspektive sollte der Konflikt in der Ukraine und die damit einhergehende „Zertrümmerung der europäischen Friedensordnung“ der Umma eine zentrale Erkenntnis ins Gedächtnis rufen: der territoriale Nationalstaat ist eine kontingente Struktur, die mit einem entsprechenden politischen Willen überwunden werden kann. Schließlich muss sich nun selbst der vermeintlich omnipotente Westen die Frage stellen, ob die Europäische Union samt ihrer Nationalstaaten – um es erneut mit Annans Worten zu formulieren – „eine einzigartige und bemerkenswerte Errungenschaft“ ist, die „ein Modell für andere Regionen der Welt“ darstellt, oder, ob das Verfallsdatum nationalstaatlicher Konstrukte nicht doch schon längst abgelaufen ist.