Konzeptionen Die große Fitna: Säkulare Macht und muslimische Zukunft(en) – Teil 1

Die muslimische Umma findet sich in einer Welt wieder, die sie nicht selbst gestaltet hat. Wir leben in einer Welt, die als säkulares Zeitalter bezeichnet werden kann. Wie kann es uns in einem säkularen Zeitalter gelingen, unser islamisches politisches Bewusstsein zurückzugewinnen?

Die muslimische Umma findet sich in einer Welt wieder, die sie nicht selbst gestaltet hat. Wir leben in einer Welt, die als säkulares Zeitalter bezeichnet werden kann. Angesichts dessen kommen bei den Muslimen diverse Fragen auf. Wie sollen wir uns in einer zunehmend komplexen, von Säkularisation geprägten Landschaft zurechtfinden? Wie sollen wir über die muslimische Zukunft reflektieren? In welcher Weise lässt sich eine muslimische Autonomie entwerfen und mit welchen Mitteln soll dafür gehandelt werden? Wie kann es uns in einem säkularen Zeitalter gelingen, unser islamisches politisches Bewusstsein zurückzugewinnen? Dies sind einige der wichtigsten Fragen, die sich uns stellen.

Um ein politisches Bewusstsein zu erlangen, müssen wir zunächst verstehen, was Bewusstsein ist. Erst dann kann es uns gelingen, unser islamisches politisches Bewusstsein zurückzugewinnen. Das grundlegende Merkmal des Bewusstseins lässt sich nicht darauf reduzieren, dass man sich einer Sache bloß bewusst ist. Vielmehr liegt dieses Merkmal in seiner negierenden Kraft, d. h. der Fähigkeit, Vorgegebenes zu negieren und ihm eine neue/andere Bedeutung zuzuweisen. Mit anderen Worten: Das Bewusstsein ermöglicht uns, zwischen der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie sie sein soll, zu unterscheiden. Dieses Merkmal ist die kritische Haltung des Bewusstseins. Somit liegt das wesentliche Merkmal eines islamischen Bewusstseins in seiner Fähigkeit, die vorgefertigten Bedeutungen, die uns in einer säkularen Welt geboten werden, zu negieren. Mithilfe des islamischen Bewusstseins können wir der Welt also jene Bedeutung verleihen, die unseren islamischen Werten entspringt. Alternativ dazu existiert aber auch die pragmatische Strategie der Zugeständnisse, die von einer wachsenden Zahl von Gelehrten vertreten wird. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, dass derartige Strategien eine lähmende Wirkung haben und durch die allgegenwärtige säkulare Macht hervorgerufen werden. Als lähmend wird jener Zustand verstanden, der unser kritisches Bewusstsein beschneidet und uns in eine Haltung der Resignation und des grausamen Optimismus zwingt. Eine solche Lähmung geht von der säkularen Macht aus.

Um diese Beobachtung nachzuweisen und die Frage zu klären, wie ein islamisches politisches Bewusstsein zurückgewonnen werden kann, möchte ich einige Schritte vorausgehen. In diesem ersten Teil wollen wir daher zunächst betrachten, was es bedeutet, Teil einer muslimischen Umma zu sein. Anschließend soll das Wesen und die Allgegenwärtigkeit von Macht im Allgemeinen und das Wesen der säkularen Macht im Besonderen erörtert werden. Im zweiten Teil dieses Aufsatzes werden wir sodann spezifische Aspekte der säkularen Macht beleuchten. Wir werden auf ihre Tendenz zur Rekrutierung, ihre Fähigkeit zur „Schaffung der Realität“, ihre hegemoniale Sprache sowie auf ihre metaphysischen Horizonte näher eingehen. Abschließend werden wir die Notwendigkeit einer muslimischen Autonomie im Denken und Handeln aufzeigen.

Was ist eine Umma? Was ist Macht?

Im Gegensatz zum Wort Nation besitzt das Wort Umma keine rassischen oder territorialen Konnotationen. Es stammt von der Wortwurzel amm ab, die als Verb anstreben, suchen, führen, leiten oder meinen und beabsichtigen und als Substantiv Bestimmung, Zweck, Streben, Ziel und Ende bedeutet (Al-Barghouti 2008, 37). Die Umma, die eine Ableitung von amm bildet, bezeichnet die Körperschaft, die folgt, während die Instanz, der gefolgt wird, als Imam bezeichnet wird. Für die Muslime verkörpert den Imam in oberster Instanz der Koran. Das Wesen einer Umma – so auch der muslimischen Umma – besteht also darin, dass sie einer bestimmten Richtung folgt. Die etymologische und koranische Definition einer Umma weist darauf hin, dass die muslimische Umma nicht durch Zahlen oder Menge definiert wird. Beispielsweise heißt es im Koran dazu:

﴿إِنَّ إِبْرَاهِيمَ كَانَ أُمَّةً

Wahrlich, Ibrahim war eine Umma“[16:120]

Stattdessen wird die muslimische Umma dadurch definiert, dass sie ein Bild von sich selbst als Kollektiv hat, und dieses Bild sie dazu anleitet, Dinge auf eine bestimmte Weise zu tun, die sie von anderen unterscheidet. (Al-Barghouti 2008, 37).

Was die Macht betrifft, so sollte uns stets bewusst sein, dass sie allgegenwärtig ist, weil sie nicht nur durch Gewalt existiert. Tatsächlich stellt Gewalt die schwächste Form der Macht dar, weil Gewalt die Zerbrechlichkeit und Unrechtmäßigkeit ihrer Ursprünge offenbart. Während ein despotischer Herrscher Gewalt anwendet, um seine Macht zu demonstrieren, zeigt er dadurch gleichzeitig, dass es in der Bevölkerung keinen mehrheitsfähigen Konsens für seine Herrschaft gibt. Im Gegensatz dazu wird Macht allgegenwärtig und verlockend, wenn sie auf gestaltende und konstruktive Weise wirkt, d. h., wenn sie sich dem Subjekt nicht direkt aufdrängt, sondern vielmehr ein lautstarkes „Ja!“ hervorruft (Han 2018, 2). Macht tut dies auf vielfältige Weise. Sie vollbringt dies, indem sie die Horizonte des Denkens bestimmt und abgrenzt, d. h. indem sie definiert, was als möglich und was als unmöglich gilt. Macht stellt eine Ordnung her. Diese Ordnung und ihre Grundlagen werden jedoch zu einer unsichtbaren Ordnung, die sich einfach als eine natürliche Ordnung ausgibt. Ähnlich wie bei einem Naturgesetz wird es normal, die Dinge einfach so zu sehen, wie die Dinge sind. Etwas zur Norm Gewordenes wirkt daher alternativlos. Dadurch wird es auch unmöglich, sich eine alternative Zukunft vorzustellen; denn die Gegenwart (in der die Ordnung dominiert) wird zu einer ewigen Gegenwart und zu einer unüberwindbaren Situation. Somit wird die Gegenwart zur generellen „Realität“ auserkoren.

Mit anderen Worten: Macht versucht, eine bestimmte historische Situation mit dem, was wir allgemein als „Realität“ bezeichnen, zu verschleiern bzw. zu verdecken. Dies wiederum schränkt unser kritisches Bewusstsein ein. Das grundlegende Merkmal der Macht liegt nämlich darin, die negierende Kraft des Bewusstseins auszusetzen, also ihrerseits zu negieren. Wir werden daher von einem Gefühl der Lähmung heimgesucht, weil die Schwelle der Meinungsverschiedenheit durch die herrschende Ordnung bereits präventiv begrenzt wurde. Es ist daher immens wichtig, Macht zu verstehen. Denn die Art und Weise, wie wir über Macht denken, kann dazu dienen, herrschende Machtstrukturen aufrechtzuerhalten und bereits etablierte Machtverhältnisse sogar zu verstärken. Andererseits kann die Art und Weise, wie wir über Macht denken, auch dazu führen, die bestehende Ordnung in Frage zu stellen und zu untergraben (Lukes 2005, 63). Wenn wir allerdings nicht verstehen, wie Macht funktioniert, begeben wir uns in eine gefährliche Lage. Wie wir sehen werden, macht uns ein fehlendes Verständnis von Macht anfällig dafür, von den herrschenden Machtstrukturen vereinnahmt zu werden. In der heutigen Zeit würde uns eine derartige Ignoranz dazu verleiten, die vorherrschende säkulare Ordnung zu akzeptieren und sogar zu verteidigen.

Was ist säkulare Macht?

Um besser zu verstehen, wie allgegenwärtig säkulare Macht ist, müssen wir zunächst verstehen, wie sie funktioniert. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass säkulare Macht auf zwei Ebenen wirkt. Erstens dadurch, dass sie im eigenen Interesse bestimmt, was der Staat als „politisch“ und was er als „religiös“ ansieht. Dabei geschieht dies nicht nur durch rechtliche und juristische Prozesse, die darauf abzielen, Kirche und Staat scheinbar getrennt zu halten. Gleichzeitig werden das Individuum und die Gemeinschaft bekehrt, indem Narrative eingeführt werden, die beide prägen. Dies erfolgt durch eine Reihe von staatlichen Institutionen. Die zweite Ebene bildet die kognitive Macht. Hierbei handelt es sich um eine Reihe von Grundannahmen über den Menschen, über Gott und darüber, wie die Beziehung zwischen Mensch und Gott auszusehen hat. Die eigentliche Macht des Säkularismus besteht darin, dass sie darauf beharrt, dass ihre eigenen Konzepte universell sind und dass ihre Sprache neutral ist. Ein Beispiel dafür ist die Idee eines neutralen Zivilstaates. Insbesondere zeigt sich dies auch in der Illusion, dass der öffentliche Raum im modernen Zeitalter eine offene, horizontale Landschaft sei, in der diverse politische Akteure um politische Macht konkurrieren können, ohne dabei ihre normativen Verpflichtungen aufzugeben. Das Problem bezüglich der säkularen Macht ist, dass sie gekonnt verschleiert, wie „Macht“ durch den säkularen Staat erfolgt. So werden wir zu der Annahme verleitet, die Macht im säkularen Staat als ein positives soziales Gut wahrzunehmen. Daher gehen wir auch davon aus, die Macht könnte unter den politischen Akteuren innerhalb des so genannten neutralen Raums gleichmäßig verteilt werden. Auf diese Weise führen unsere Erfahrungen und Forderungen dazu, dass die unterdrückerischen Machtverhältnisse aufrechterhalten bleiben oder gar verstärkt werden. Wenn wir einfach nur auf eine Veränderung der Machtverteilung abzielen, dann tasten wir damit die Machtstruktur selbst nicht an, die am Ende intakt bleibt. (Irigaray 1985, 81)

Durch die Macht lassen sich die wahren Ursprünge von Ideen – wie dem neutralen Staat und seiner vermeintlichen Fähigkeit zur Verteilung von Macht – verbergen. Sie sind jedoch weit davon entfernt, neutral zu sein. In Wirklichkeit sind sie ein integraler Bestandteil eines eindeutig europäischen Projekts: der Moderne. Wie sollen wir nun die Moderne und jene Gelehrten betrachten, die sich ihren Annahmen gebeugt haben? Talal Asad liefert ein nützliches Instrument: Anstatt die Absichten dieser Gelehrten in Frage zu stellen, könnten wir sie auch als Rekruten der westlichen Zivilisation betrachten (Asad 1992). Wie Ebrahim Moosa und SherAli Tareen argumentieren, veränderte der westliche Kolonialismus das diskursive Terrain, auf dem muslimische Akteure ihre Reformprojekte vorantreiben konnten (Bowering 2015, 2002). Mit anderen Worten: Bei der Bekämpfung jener Herausforderungen, die von der Moderne selbst verursacht wurden, bedienen wir uns der Sprache der Moderne. Diese Strategie der Anpassung hat vielfältige Formen angenommen und ermöglicht es der Moderne, die Schwelle der (erlaubten) Meinungsverschiedenheit zu bestimmen. Dank der Anpassung stehen wir vor dem Problem, dass Konzepte wie die Neutralität des säkularen Staates sehr oft in islamischen Begriffen ausgedrückt werden. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Idee von fiqh al-wāqiʿ oder der „Rechtsprechung der Realität“. Dieses Konzept besagt, dass unsere Rechtsprechung den sich ändernden Zeiten – der neuen Realität also – Rechnung tragen muss. Die Idee, sich eines „neutralen“ Staates zu bedienen, ist ein integraler Bestandteil dieses fiqh, der die „Realität“ zur Quelle seiner Rechtsprechung erhoben hat. Diese neue „Jurisprudenz“ verabsäumt es allerdings, sich zu fragen, um wessen Realität es sich dabei eigentlich handelt? Im zweiten Teil dieses Aufsatzes wird der Versuch unternommen, die Ursprünge dieser Rekrutierung zu erklären.

Ali Harfouch hat einen Master-Abschluss in Politikwissenschaften von der Amerikanischen Universität Beirut. Er forscht und schreibt über islamische politische Theologie und moderne politische Theorie.

Quellen:

Asad, Talal. “Conscripts of Western Civilization” in Dialectical Anthropology: Essays in Honor of Stanley Diamond, 1, 1992, pp.333-51.

Barghouti, Tamim. The Umma and the Dawla: The Nation State and the Arab Middle East. London; Pluto Press, 2008.

Bowering, Gerhard. Islamic Political Thought: An Introduction. Princeton, NJ: Princeton University Press, 2015.

Han, Byung-Chul. What is Power? Cambridge, UK: Polity Press, 2018.

Irigaray, Luce. This Sex Which Is Not One. Ithaca, NY: Cornell University Press, 1985.

Lukes, Steven. Power: A Radical View, London: Macmillan, 1974.