Die säkulare Macht und die Herstellung von Realität
Als Menschen befinden wir uns immer in einer „Situation“, sei es in der Familie, in der Politik, in der Wirtschaft und so weiter. Die Situation kann vorteilhaft oder ungünstig sein. Um die jeweiligen Situationen zu bewältigen, versuchen wir uns zu orientieren, um entsprechend handeln zu können. Unsere Orientierung beruht dabei auf einem Verständnis der Situation und einer brauchbaren Vorgehensweise, was anhand einiger normativer oder technischer Kriterien beurteilt wird. Prinzipiell wird eine Situation als kontingent und überwindbar wahrgenommen, weil wir wissen, dass die Situation auch anders sein könnte. Daher besteht in jeder Situation die Möglichkeit der Wahl.
Unsere Reaktion auf die Realität unterscheidet sich jedoch gravierend von unserer Reaktion auf eine Situation. Denn die Realität wird nicht als Situation wahrgenommen, sondern lediglich als die „Art und Weise, wie die Dinge sind“. Eine Realität ist daher unüberwindbar, und man empfindet keine Möglichkeit der Wahl. Doch wann wird eigentlich eine Situation als die Realität wahrgenommen? Eine Situation wird dann zu einer „Realität“, wenn wir ein Bild von uns selbst und der Welt als normal und alternativlos verinnerlichen. An diesem Beispiel erkennen wir, wie Macht funktioniert. Während die Anwendung von Gewalt eine Situation schafft, wird durch die Ausübung von Gestaltungsmacht eine Realität geschaffen. Die säkulare Ordnung präsentiert sich nicht als eine Ordnung unter anderen. Sie sieht sich nicht als eine historische oder kontingente Möglichkeit unter anderen Möglichkeiten. Stattdessen begreift sie sich als unvermeidliche und natürliche Entwicklung der Vernunft. Die säkulare Ordnung versteht sich als (einzige) Realität. Indem wir ihre Behauptungen verinnerlichen, verwandeln wir eine koloniale Situation in eine dauerhafte und gelebte Realität.
Unsere Rekrutierung in das Projekt der Moderne und die Übernahme von dessen Konzepte stellt ein offensichtliches Problem dar. Es verschärft die Krise in der muslimischen Welt, indem es den islamischen Diskurs dazu benutzt, die Mythen der säkularen Ordnung zu legitimieren. Wie Sabet feststellt, liegt der Unterschied zwischen Nicht-Krise und Krise in der Unterscheidung zwischen dem, was selbstreferenziell ist, und dem, was fremdreferenziell ist. Die Selbstreferenz bezieht sich auf einen Zustand, in dem sich unsere Ideale in der Realität widerspiegeln. Daher rechtfertigen unsere Konzeptionen eine Realität, die sich aus diesen Konzeptionen ergibt. Im Gegensatz dazu bezieht sich die Fremdreferenz auf einen Zustand, in dem islamische Konzeptionen nur benutzt werden, um vorhandene Realitäten einer Welt zu rechtfertigen, die nicht von uns selbst geschaffen wurde (Sabet, 2008, 1). In der muslimischen Welt ist dies heutzutage gängige Praxis. So finden wir zum Beispiel die Vorstellung, dass der so genannte „neutrale“ politische Raum eigentlich der Schura entspricht. Obwohl es sich beim neutralen Raum um ein Instrument des säkularen Staates handelt, der im Gegensatz zur šūrā eindeutig nicht dem Islam entspringt, wird diese Vorstellung immer beliebter. Auch herrscht die Vorstellung, dass die angeblich universellen Werte des modernen Staates mit den maqāṣid aš-šarīʿa (die generellen Absichten, die die Scharia durch ihre Gesetzgebung erfüllen möchte) übereinstimmen, oder dass das vom säkularen Staat willkürlich festgelegte „öffentliche Wohl“ eigentlich das Konzept der maṣlaḥa (Interessen) verkörpern würde. In allen drei Fällen werden islamische Konzepte benutzt, d. h. missbraucht, um die vermeintlich „gottähnliche“ Souveränität des modernen Staates zu legitimieren. Am besten wird dieser Zustand vom Koran beschrieben, der ihn als fitna charakterisiert. So heißt es im Koran dazu:
﴿وَالْفِتْنَةُ أَشَدُّ مِنَ الْقَتْلِ﴾
denn die Fitna ist schlimmer als Töten[2:191]
Wie Sherman B. Jackson treffend formuliert, ist fitna eindeutig eine kognitive Institution eines bewusst aufrechterhaltenen Systems normalisierter Herrschaft (Jackson 180, 2005). Dieses Bild – diese verinnerlichte Vorstellung von sich selbst und der Welt – lähmt daher den Muslim. Dies führt wiederum dazu, dass er sowohl auf der Erkenntnis- bzw. Bewusstseinsebene als auch in der Praxis und in seinem Handeln unbeweglich wird.
Das säkulare Zeitalter vermittelt einen falschen Optimismus, indem es sich einer scheinbar universellen Sprache bedient. Hinter wohlklingenden Begriffen wie „Freiheit“ und „Wahl“ verbirgt der Säkularismus die ihm innewohnenden Mechanismen des totalen Gegenteils: Zersetzung und Zwang. Die Bandbreite der Wahlmöglichkeiten ist vorgegeben, wodurch das Mögliche vom Unmöglichen und das Legitime vom Illegitimen abgegrenzt wird. Die im säkularen Zeitalter geschmiedeten und verinnerlichten Vorstellungen schaffen einen „grausamen Optimismus“, eine optimistische Bindung, deren Ziel selbst ein Hindernis für die Erfüllung der Wünsche ist, die die Menschen zu diesem Optimismus geführt haben (Berlant 2011, 227). Das heißt, wir setzen falsche Hoffnungen in die vermeintlich „neutralen“ Apparate des säkularen Staates, nur um dann festzustellen, dass wir unsere normativen Verpflichtungen aufgeben mussten und gewaltsamer Unterdrückung ausgesetzt waren. Anhand des Arabischen Frühlings konnte man gut beobachten, wie sich diese Illusion in der Praxis entpuppte. Obwohl sich an den Lebensumständen und der allgemeinen Situation nichts Nennenswertes geändert hat, wurde zumindest das Ausmaß, in dem die säkulare Macht allgegenwärtig ist, sichtbar. Der Arabische Frühling offenbarte demonstrativ die Fähigkeit der säkularen Macht, unsere Gefühle, Hoffnungen und Bestrebungen zu formen. In der heutigen Zeit nimmt dieser grausame Optimismus, d. h. diese illusorische Hoffnung zwei Formen an: eine politische und eine unpolitische. Die erste Form setzt die Hoffnung in den bestehenden säkularen Staat, während die zweite Form die Hoffnung in eine unpolitische Strategie kanalisiert, bei der wir „außerhalb der Politik“ arbeiten und uns auf das muslimische Individuum und die Gemeinschaft konzentrieren sollen. In beiden Fällen wird die Hoffnung zu einer illusorischen Alternative zum konkreten Handeln. Sie bleibt dabei eine passive, ohnmächtige Hoffnung, die neben der herrschenden hegemonialen Ordnung existiert, anstatt eine Alternative zu ihr zu bilden.
Säkulare Macht, ihre metaphysischen Horizonte und Unterdrückung
Normalisierte Herrschaft kann nicht ausschließlich auf der politischen Ebene verstanden werden. Das Säkulare begrenzt nicht nur unsere politischen Horizonte, sondern geht darüber hinaus: Es begrenzt auch unsere metaphysischen Horizonte. Das „Metaphysische“ bezieht sich an dieser Stelle nicht auf abstrakte intellektuelle Spekulationen. Vielmehr bezeichnet das Metaphysische hier eine existenzielle Orientierung, die den Menschen, Gott und die Beziehung des Menschen zu Gott definiert. Die Metaphysik ist der „unvorstellbare“ Hintergrund, vor dem wir über die Welt nachdenken und uns in ihr bewegen. Die zentrale metaphysische Aufgabe der Moderne besteht darin, die Souveränität Gottes zu negieren und sie mit der Souveränität der Welt neu zu besetzen. Diese Souveränität bezieht sich auf die Gesamtheit der Möglichkeiten. In ihren moderatesten Ausprägungen beruht die Souveränität der Welt auf einer Theologie des providentiellen Deismus. Darin ist Gott der Welt fremd und überlässt es dem Menschen, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen und politische Ordnungen selbst zu kreieren, wodurch er zum „zweiten Schöpfer“ wird. Die Idee eines autonomen und „neutralen“ politischen Raums entspringt jenen metaphysischen Annahmen, die der Souveränität der Welt verpflichtet sind. Das heißt, diese Ideen resultieren aus der Annahme, dass die Souveränität bei der Welt und nicht bei Gott liegt. Die Möglichkeit einer im Gottesbewusstsein begründeten Politik wird daher zunehmend unmöglich. Indem wir uns jenen politischen Horizonten unterwerfen, die uns vom säkularen Staat diktiert werden, lassen wir uns gleichzeitig auch in dessen metaphysische Horizonte hineinziehen und verschließen uns radikaleren Möglichkeiten. Folglich werden wir entsprechend der Vorstellung dieser „Zweitschöpfer“ neu erschaffen – was einen Akt der Auslöschung darstellt. Darüber hinaus verinnerlichen wir aber auch eine Vorstellung von der Welt und von Gott, die aus diesem Zustand der Zersetzung entspringt.
Die Verinnerlichung dieser Vorstellungen von der „Realität“ ist der Inbegriff der Unterdrückung schlechthin. Wie Marilyn Frye betont, liegt der Wortstamm für „Unterdrückung“ im Element „Presse“. Es ist kein Geheimnis, dass Pressen dazu benutzt werden, Dinge zu formen, zu glätten oder in ihrer Masse zu reduzieren (1983, 2). Wie wir bereits festgestellt haben, wirkt die Macht jedoch nicht ausschließlich durch Gewalt. Vielmehr entfaltet sie sich durch den Unterdrückten selbst – in diesem Fall durch den Muslim. Die Machtentfaltung der säkularen Ordnung vollzieht sich dabei auf eine Weise, die den Muslim glauben lässt, dass diese aufgezwungenen Bilder seine eigenen Vorstellungen wären. Frye argumentiert, dass Unterdrückung ein System von miteinander verflochtenen Barrieren und Kräften ist, die Menschen aus einer bestimmten Gruppe einschränken, bewegungsunfähig machen und formen, um ihre Unterordnung unter eine andere Gruppe zu bewirken (33). Unterdrückung bedeutet, eine vorherrschende Situation als unüberwindbare Realität zu akzeptieren. Das heißt, zu akzeptieren, dass die Dinge sind, „so, wie sie eben sind“. Als wäre dies nicht ausreichend schlimm, kann Unterdrückung aber auch zu einer noch fataleren Einstellung führen, nämlich dazu, die Situation als vorteilhaft zu akzeptieren. Wie Frye (1983, 4) weiter ausführt:
Unterdrückte Menschen machen die Erfahrung, dass ihr Leben von Kräften und Hindernissen eingeschränkt und geprägt ist, wobei diese nicht zufällig oder gelegentlich auftreten und daher vermeidbar wären. Stattdessen haben sie das Gefühl, dass dies systematisch geschieht und so aufeinander abgestimmt ist, als würden diese Kräfte sie gefangen halten – und zwar innerhalb der Kräfte und zwischen diesen – und ihre Bewegungsmöglichkeit in jede Richtung einschränken oder bestrafen. Es handelt sich somit um eine Erfahrung des Eingesperrtseins. Daher hat man das Gefühl, dass jeglicher Ausweg versperrt oder mit Fallen versehen ist.
Das Gefühl, unbeweglich zu sein, ist jedoch nicht immer offenkundig. Zumeist ist es unbewusst. Doch was genau bedeutet es, unbeweglich zu sein? Diese Frage führt uns zu einem entscheidenden Punkt: Indem die repressive säkulare Ordnung unser Denken und Handeln in der Gegenwart bestimmt, gibt sie dadurch auch unseren zukünftigen Weg vor. Um jedoch zu verstehen, warum wir unbeweglich sind, müssen wir unsere derzeitige Situation aus einer gewissen Distanz beobachten. Auf diese Weise können wir die Gesamtheit der Kräfte, die im Spiel sind, erkennen. Würden wir die Untersuchung unserer Unterdrückung auf eine Dimension, nämlich die Trennung von Kirche und Staat, reduzieren, könnten wir die vorherrschende Situation als günstig oder zumindest als nicht so schlimm empfinden. Wenn wir allerdings erkennen, dass diese institutionelle Trennung ein integraler Bestandteil eines umfassenderen metaphysischen Horizonts ist, können wir auch erkennen, dass die Unterdrückung durch viel gewaltigere und überwältigendere Kräfte verstärkt wird, die auf der Bewusstseinsebene wirken.
Wir müssen uns daher fragen: Was sind die Ursprünge der säkularen Macht und wo liegen ihre metaphysischen Wurzeln? Welche überwältigenden Machtstrukturen sind tatsächlich im Spiel? Können wir sie überhaupt benennen? Die Antwort auf die dritte Frage lautet ja! Doch um diese Machtstrukturen benennen zu können, müssen wir zunächst die säkulare Macht und ihre metaphysischen Horizonte historisch verorten. Dabei dürfen wir jedoch nicht in die Falle tappen und die säkulare Macht als eine Art natürliche oder geoffenbarte Ordnung auffassen. Stattdessen müssen wir sie als das betrachten, was sie tatsächlich ist, nämlich das Ergebnis eines eindeutig historisch bedingten Projekts. Aber wodurch wird die säkulare Macht bedingt? Sie wird durch ein bestimmtes historisches eurozentrisches Weltbild bedingt. Das heißt, wir müssen erkennen, dass die von der säkularen Macht auferlegte Vorstellung von sich selbst und von der Welt keine absolute Wahrheit oder „Realität“ ist, sondern eher ein Bild unter mehreren. Es entspringt lediglich der Fantasie dieser „Zweitschöpfer“. Aber wie sollen wir erklären, dass es diesen Zweitschöpfern gelungen ist, zu bestimmen, welche Bilder die Realität ausmachen? Und wie sollen wir erklären, dass auch wir diese Bilder verinnerlicht haben?
Wir konnten darlegen, dass es sich beim Säkularismus eindeutig um ein eurozentrisches Projekt handelt, wobei dieses mittlerweile den Status der Universalität und der nicht zu verändernden „Realität“ erlangt hat. Ramon Grosfoguel weist drauf hin, dass es die „Ego-Politik des Wissens“ sein könnte, die den Sprecher verbirgt, wodurch er eine gottähnliche Position einnimmt (2012). Dieses imperiale Wesen spricht daher nicht nur im Namen der lateinischen Christenheit, sondern im Namen der gesamten Menschheit. Dies ist ein wichtiger Punkt, weil er darauf hinweist, dass dieses selbsterklärte universelle Projekt nicht nur auf politischen und militärischen Hierarchien begründet ist. Stattdessen beruht es in heimtückischerer Weise auf epistemischen Hierarchien, die das westliche Wissen privilegieren. Kurz gesagt: Da der Westen sich selbst als den Wissenden sieht, müsste er in der globalen Hierarchie höher stehen als die unwissenden Regionen der Welt. Diese privilegierte Position begründet der Westen dadurch, dass Europa die Aufklärung durchlaufen hat. Daher geht der Westen auch davon aus, dass er nun den Gral des Wissens gefunden hätte und somit wissender als der Rest der Welt sei, weshalb alle anderen seine Ideologie verinnerlichen müssten. Was ich damit sagen will, ist, dass diese Bilder weder objektiv noch unpersönlich sind. Vielmehr repräsentieren sie den Willen und die globalen Entwürfe des Zweitschöpfers, den wir als den anglo-europäischen Menschen identifiziert haben.
Jenseits der Fitna: Die Autonomie des muslimischen Denkens und Handelns
Wie sollen wir nun vorgehen? Zunächst möchten wir das bisher Gesagte zusammenfassen. Die aufkommenden Strategien der Anpassung, die den Anspruch des säkularen Staates auf Neutralität unkritisch akzeptieren, müssen thematisiert und behandelt werden. Wir haben aufgezeigt, dass diejenigen (von uns), die solche Strategien umsetzen, unweigerlich zu Rekruten der westlichen Kultur werden. Die säkulare Macht und ihr illusorischer Anspruch auf Neutralität und Universalität werden dadurch unkritisch von uns akzeptiert. Außerdem bedeutet dieser Ansatz, dass wir dem Willen und den metaphysischen Horizonten dieser Zweitschöpfer unterworfen werden. Somit zielen diese Strategien der Anpassung keineswegs darauf ab, die säkulare Macht in Frage zu stellen. Stattdessen wird dadurch eine (ungeheure) Ausdehnung der Macht erreicht, die in ihrem säkularen Charakter bestehen bleibt und sogar gefestigt wird. Der Selbstbetrug solcher Strategien gipfelt dann noch im Umstand, dass sie islamische Begriffe und Konzepte benutzen, was ausschließlich dazu dient, die säkulare Macht zu legitimieren. Wie wir aufgezeigt haben, wird dadurch ein Zustand der Unterdrückung geschaffen. Als Unterdrückung verstehen wir dabei einen Vorgang, bei dem jemand in ein bestimmtes Bild gepresst wird. Und diese Unterdrückung schafft einen Zustand der fitna: unsere Unterwerfung unter einen normalisierten und scheinbar unüberwindbaren Zustand der kognitiven Beherrschung. Dies wirft die Frage auf: Was bleibt eigentlich von unserem Bild als Umma, wenn wir unter solchen Bedingungen der Beherrschung leben?
Wie kann es uns gelingen, diesem Zustand der fitna zu entkommen? Wie können wir aus dem kognitiven Zustand der Beherrschung, der die Position des Muslims in einem säkularen Zeitalter kennzeichnet, ausbrechen? Wie können wir uns aus unserem Zustand der Lähmung befreien, um in Richtung muslimischer Autonomie und Selbstbestimmung zu denken und zu handeln? Wie können wir unsere Identität als Umma zurückgewinnen?
Als erstes Gebot müssen wir uns der negierenden Kraft des Bewusstseins bedienen. Das heißt, wir müssen uns wieder unserer Fähigkeit bewusstwerden, die vorgegebene Bedeutung der Dinge in Frage zu stellen, sie gegebenenfalls zu negieren und ihnen eine neue Bedeutung zu verleihen. Der Rückgriff auf die negierende Kraft des Bewusstseins ist an sich schon eine Form der Macht. Bislang haben wir von Macht in eher düsterer Form gesprochen. Macht wurde in erster Linie als ein Mittel der Beherrschung angesehen – im Sinne von Macht über etwas bzw. über jemanden auszuüben. Es gibt jedoch noch eine andere Form von Macht. Macht kann auch als Ermächtigung betrachtet werden – als die Macht etwas zu tun. Diese Form der Macht wird durch das Bewusstsein ermöglicht. Wie wir bereits erwähnt haben, handelt es sich dabei um die Macht, im Einklang mit einer Vorstellung zu handeln, die nicht durch Beherrschung verinnerlicht wurde, sondern von einem selbst ausgeht. Um allerdings Macht als Ermächtigung zu erkennen, wird ein kritisches Bewusstsein vorausgesetzt. Dieses kritische Bewusstsein setzt sich aus zwei Aspekte zusammen: aus der Autonomie im Denken und der Autonomie im Handeln.
Die erste Autonomie bezieht sich also auf das Denken. Damit meinen wir, ein negierendes Bewusstsein wieder zu erlangen. Diese Fähigkeit bringt ein tiefes Verständnis der Welt und der säkularen Ordnung hervor, während sie zugleich ihre Widersprüche und die darin enthaltenen unterdrückerischen Elemente aufdeckt. In unserem säkularen Zeitalter bedeutet dies, aufzudecken, dass die säkulare Ordnung weit davon entfernt ist, neutral und universell zu sein. Zugleich bedeutet es aber auch, darzulegen, wie die säkulare Ordnung die Machtstrukturen dazu benutzt, dem Islam und dem muslimischen Subjekt einen engen politischen und metaphysischen Horizont zu setzen und sie dadurch zu unterwerfen. Allmählich werden wir uns der tatsächlichen Ursprünge und Grenzen dieser Machtstrukturen bewusst (somit erkennen wir, dass sie nicht nur politischer, sondern auch kognitiver, d. h. metaphysischer und epistemischer Natur sind). Dies bildet den ersten Schritt, um eine Autonomie im Denken zu entwickeln – und dieser Schritt ist notwendig, um eine Autonomie im Handeln und in den Visionen zu erlangen.
Der zweite Schritt betrifft – wie gesagt – die Autonomie im Handeln. Dieser Schritt setzt allerdings voraus, dass die Umma ihre eigene Vorstellung von sich selbst und der Welt zurückgewinnt, jedoch nicht im Sinne des säkularen Zeitalters. Stattdessen soll sie sich wieder auf ihre ontologische Berufung besinnen, die im Koran belegt ist. Sie muss zum Konzept des istiḫlāf, der Statthalterschaft des Menschen als Vertreter Gottes auf Erden, zurückfinden. Einem Konzept, das in der Metaphysik des tauḥīd verwurzelt ist und die Souveränität Gottes verkündet, und nicht etwa die einer säkularen Welt. Istiḫlāf als Autonomie im Handeln verlangt von uns, dass wir uns auf die Idee des Kalifats besinnen. Eine solche Idee darf jedoch keineswegs nur eine nicht greifbare Vorstellung sein, die in ferner Zukunft liegt. Sie muss zu einer gelebten Vision werden, die unser Bild von uns selbst und der Welt widerspiegelt. Sie muss sich in Handlungen manifestieren, die dieses Bild reflektieren. Die Autonomie im Handeln stellt keineswegs eine Strategie der Anpassung dar. Sie ist auch nicht ein neuer Modus Operandi gegenüber dem angeblich „neutralen“ säkularen Staat. Vielmehr ist die Autonomie im Handeln eine Strategie der Ermächtigung und Erneuerung. Dies erfordert jedoch einen Wandel, und zwar nicht nur auf der Ebene unseres Denkens, sondern auch auf der Ebene unserer Hoffnungen und Bestrebungen. Anstatt unsere Hoffnungen in die säkulare Ordnung zu setzen, sollten wir Maßnahmen ergreifen, die neue Sphären ermöglichen.
Ali Harfouch hat einen Master-Abschluss in Politikwissenschaften von der Amerikanischen Universität Beirut. Er forscht und schreibt über islamische politische Theologie und moderne politische Theorie.
Quellen:
Berlant, Lauren. Cruel Optimism. Durham and London: Duke University Press, 2011.
Frye, Marilyn. The Politics of Reality: Essays in Feminist Theory. Freedom, California; The Crossing Press, 1983.
Grosfoguel, Ramón. “Decolonizing post-colonial studies and paradigms of political-economy: Transmodernity, decolonial thinking, and global coloniality.” Transmodernity: Journal of Peripheral cultural production of the Luso-Hispanic World 1.1 (2011).
Jackson, Sherman A. Islam and the Blackamerican: Towards the Third Resurrection. Oxford: Oxford UP, 2005. Print. Sabet, Amr G.E. Islam and the Political: Theory, Governance, and International Relations. London: Pluto Press, 2008.